{"title":"Subjektivierungsfiguren genetischer Information","authors":"Dana Mahr, Eva Mahr, C. Rehmann-Sutter","doi":"10.1515/sosi-2019-0001","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Zusammenfassung Die häufig auftretenden chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind in den letzten Jahren von vorher prototypisch psychosomatischen Krankheiten zu teilweise genetisch erklärbaren Krankheiten umgedeutet und in ein biomedizinisches Paradigma genetischer Suszeptibilität eingeordnet worden. CED sind neben körperlichen Leiden auch mit sozialen Stigmata verbunden und schränken die Lebensqualität sowie die Lebenszufriedenheit von Betroffenen oft erheblich ein. In einer qualitativen Studie haben wir 57 semistrukturierte, teils narrative Interviews mit 42 PatientInnen und Angehörigen geführt und mit einem an der Grounded Theory sowie der Interpretativen Phänomenologischen Analyse orientierten Ansatz ausgewertet. Dieser Beitrag betrachtet das Material hinsichtlich der Frage, wie Betroffene und deren Familien der genetischen Erklärung von CED Sinn zuschreiben. Als einen Lebenskontext, der für diese Untersuchung besonders relevant ist, haben wir den Themenkreis Fortpflanzung / Schwangerschaft / Elternschaft identifiziert und vertieft untersucht. Ergebnisse Im Interviewmaterial konnten wir zwei idealtypische Wege (Sinnfiguren) der Subjektivierung genetischer Information erkennen: Die „leidgeprüften GendeterministInnen“ teilten uns mit, dass sie aufgrund der Feststellung von genetischen Faktoren für CED retrospektiv auf eigene Kinder eher verzichtet hätten. Die „selbstsorgenden GenrelativistInnen“ interpretierten hingegen die Genetik nicht im Modus eines (biologischen und sozialen) Schicksals, sondern im Modus von Wahrscheinlichkeiten und im Kontext von praktischer Lebensführung, die trotz Krankheit ein gelingendes Leben erlauben kann. Beiden Sinnfiguren ist gemein, dass – im Kontrast zu schweren monogenen Erbkrankheiten – nicht nur die Vererbung des körperlichen Leidens in das Nachdenken über das Für und Wider der Zeugung eines Kindes Eingang findet. Ferner werden die eigenen sozialen Erfahrungen mit der Krankheit und die mit ihr verbundenen sozialen Umstände in die Abwägung mit eingebunden. Inwieweit den genetischen Faktoren für CED der Charakter eines unabänderlichen Schicksals zu- oder abgesprochen wird, unterscheidet sich zwischen den beiden Sinnfiguren.","PeriodicalId":110821,"journal":{"name":"Sozialer Sinn","volume":"97 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2019-06-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"1","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Sozialer Sinn","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/sosi-2019-0001","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Zusammenfassung Die häufig auftretenden chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED) Morbus Crohn und Colitis ulcerosa sind in den letzten Jahren von vorher prototypisch psychosomatischen Krankheiten zu teilweise genetisch erklärbaren Krankheiten umgedeutet und in ein biomedizinisches Paradigma genetischer Suszeptibilität eingeordnet worden. CED sind neben körperlichen Leiden auch mit sozialen Stigmata verbunden und schränken die Lebensqualität sowie die Lebenszufriedenheit von Betroffenen oft erheblich ein. In einer qualitativen Studie haben wir 57 semistrukturierte, teils narrative Interviews mit 42 PatientInnen und Angehörigen geführt und mit einem an der Grounded Theory sowie der Interpretativen Phänomenologischen Analyse orientierten Ansatz ausgewertet. Dieser Beitrag betrachtet das Material hinsichtlich der Frage, wie Betroffene und deren Familien der genetischen Erklärung von CED Sinn zuschreiben. Als einen Lebenskontext, der für diese Untersuchung besonders relevant ist, haben wir den Themenkreis Fortpflanzung / Schwangerschaft / Elternschaft identifiziert und vertieft untersucht. Ergebnisse Im Interviewmaterial konnten wir zwei idealtypische Wege (Sinnfiguren) der Subjektivierung genetischer Information erkennen: Die „leidgeprüften GendeterministInnen“ teilten uns mit, dass sie aufgrund der Feststellung von genetischen Faktoren für CED retrospektiv auf eigene Kinder eher verzichtet hätten. Die „selbstsorgenden GenrelativistInnen“ interpretierten hingegen die Genetik nicht im Modus eines (biologischen und sozialen) Schicksals, sondern im Modus von Wahrscheinlichkeiten und im Kontext von praktischer Lebensführung, die trotz Krankheit ein gelingendes Leben erlauben kann. Beiden Sinnfiguren ist gemein, dass – im Kontrast zu schweren monogenen Erbkrankheiten – nicht nur die Vererbung des körperlichen Leidens in das Nachdenken über das Für und Wider der Zeugung eines Kindes Eingang findet. Ferner werden die eigenen sozialen Erfahrungen mit der Krankheit und die mit ihr verbundenen sozialen Umstände in die Abwägung mit eingebunden. Inwieweit den genetischen Faktoren für CED der Charakter eines unabänderlichen Schicksals zu- oder abgesprochen wird, unterscheidet sich zwischen den beiden Sinnfiguren.