Claudia Benthien, Antje Schmidt, Christian Wobbeler
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Abstract
Die Melancholie der Vanitas sei die einzig angemessene Reaktion auf die Krisen der Gegenwart, so der Journalist Philipp Bovermann: Blühende Rosen, vermeintlich unberührte Landschaften, das Mittagessen, angereichert mit exotischen Zutaten – solche alltäglichen, aber auf Instagram aufwändig in Szene gesetzten Dinge werden unversehens zu „Zeugnisse[n] der Vergänglichkeit“. Selbst die profane „Übersee-Avocado im Supermarkt“ verwandelt sich in ein „Zeichen des Unheils“ ‒ wenn man sie „vor dem inneren Auge“ bereits als „verdorrt“ ansieht, wodurch sie „zum Miniatur-Stillleben des selbstsüchtigen Systems“ wird, „in dem Menschen solche Produkte kaufen, obwohl sie den Preis dafür kennen“: die Abholzung von Wäldern und der immense Wasserverbrauch für den Anbau. Bovermann schließt seinen konsumund umweltkritischen Passus mit der Bemerkung: „Wer sehen will, erkennt über der Warenauslage das Wort ‚Vanitas‘, Eitelkeit, in dicken Lettern.“ Das hier erwähnte Konzept der Vanitas stammt ursprünglich aus dem alttestamentlichen Buch Kohelet. Dort korrespondiert es mit Vorstellungen der Nichtigkeit, Vergeblichkeit, Ohnmacht, Eitelkeit und Schuld, des Ephemeren, Leeren und Transitorischen sowie vor allem der Vergänglichkeit und Endlichkeit der Menschen und der sie umgebenden Dinge. In der Frühen Neuzeit, insbesondere im Barock, wurde Vanitas mit einer spezifischen, erweiterten und zum Teil veränderten Bildlichkeit und Semantik verknüpft: Dabei ist neben einer gesteigerten Rhetorisierung auch eine Radikalisierung des Motivs zu verzeichnen – und zwar sowohl in einer weltlichen (im Sinne des carpe diem als Emphatisierung von Gegenwart) als auch einer christlichen Lesart (im Sinne