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Abstract
Auf der Suche nach dem ‚richtigen‘ kartographischen Wissen prallten im 15. Jahrhundert recht gegensätzliche Vorstellungen aufeinander: Die praktischen Erfahrungen von Seeleuten standen gegen die Anschauungen der gelehrten Kosmographen, die neuen Entdeckungen des Christoph Kolumbus gegen die alten Vermessungen des Claudius Ptolemäus, mündlich vorgetragene Erklärungen gegen schriftlich tradierte Einsichten, die Erweiterungen des geographischen Weltbilds gegen allgemein bekannte Traditionen, lokale Verfahrensweisen gegen universale Denkansätze, individuelle Adaptionen gegen den Wunsch nach Generalisierbarkeit. In all diesen Auseinandersetzungen ging es darum, der eigenen Interpretation Reichweite und Relevanz zu verschaffen, selbst wenn die Details ein Geheimnis bleiben sollten. In der Folge entstand ein Konglomerat, das sich aus vielfältigen Wurzeln speiste und aus den Gegensätzen weitreichende Dynamiken entwickelte. So ist es nicht überraschend, dass die Pluralität kartographischer Bilder zu Zweifeln, aber auch zu kreativen Konstruktionen führte. Selbst die äußere Form der Welt war umstritten und wurde vielfältig diskutiert. Der Ulmer Dominikaner Felix Fabri (1437/38–1502), der in seinem Evagatorium um 1484 über seine beiden Jerusalemfahrten berichtete und dabei auch die Welt als Ganzes beschrieb, war davon überzeugt, „drei Arten des Meeres, nämlich das große Meer, das größere Meer und das größte Meer“ unterscheiden zu können, von denen das größte Meer derjenige Ozean sei, der „von ganz außen den Erdkreis ringförmig umgibt und ihn umschließt.“1 Diese Zeilen spiegeln das Modell einer Erde, deren Land allseitig vom Wasser des Welte-