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Abstract
Im heißen Sommer des Jahres 1905 hatten Zeitungen, Illustrierte und Gespräche des Wiener Bürgertums vor allem ein Thema: im ersten Kaffeehaus auf der Wiener Praterallee sollte das „größte Phänomen des 20. Jahrhunderts“ öffentlich auftreten. Nach Auskunft der Werbeprospekte handelte es sich dabei um die „erste Hungerkünstlerin der Welt“, die Grazer Schauspielerin Auguste Victoria Schenk – die für ganze einundzwanzig Tage einen völligen Nahrungsverzicht praktizieren werde. „Die Einmauerung“ – so die Ankündigung – „findet am 22. Juli abends, 8 Uhr in einer mit großen Glasscheiben versehenen Hungerzelle statt. Auguste Victoria Schenk ist Tag und Nacht zu sehen, wird von der Wachund Schließgesellschaft ununterbrochen bewacht und nährt sich ausschließlich von [dem Tafelwasser] Krondorfer Sauerbrunn.“ Das zahlende Publikum könne das Spektakel gegen einen Eintritt von sechzig Hellern bei „Lagerbier“ und „feinster Wiener Küche“ mitverfolgen. Den Schaulustigen bot sich am Eröffnungsabend denn auch ein imposantes Bild. Der beflissen auftretende Impresario ließ eine vornehm gekleidete, von der Presse als korpulent bezeichnete Dame vor das Publikum treten, um sie dort von den bereit stehenden Fotografen ein letztes Mal vor ihrer anstehenden physischen Verwandlung ablichten zu lassen. Frau Schenk, die zuvor von Ärzten untersucht worden war, stieg auf die Waage, der Impresario rief ihr Körpergewicht aus und gestattete dem Publikum, die Zelle auf eventuell versteckte Nahrungsmittel abzusuchen. Danach setzte sich die Hungerkünstlerin an einer weiß gedeckten Tafel zu einem letzten Abendmahl nieder und verspeiste vor den Augen der neugierigen Zuschauer ein Beefsteak mit Spinat, Bier und Gebäck.