{"title":"Vom „Verbot der besonderen Niveaupflege“ zur Qualitätssicherung im Hochschulbereich","authors":"Anna-Bettina Kaiser, Dominik Rennert","doi":"10.3790/verw.53.2.179","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"\n Zusammenfassung\n Die Konstitutionalisierung des deutschen Hochschulzulassungsrechts hat entscheidende Gleichheits- und Bildungsfortschritte gebracht. Eine privatisierte Spitzenbildung der Elite, wie sie die großen Forschungsuniversitäten an der amerikanischen Ostküste anbieten, bleibt dem deutschen System zu Recht fremd. Gleichzeitig ist das deutsche System nicht global isoliert. Das Gleichgewicht zwischen der verfassungsrechtlichen Verbürgung offener Hochschulbildung und den Druckpunkten eines international geöffneten Studien- und Forschungsmarktes zu finden, ist nicht Aufgabe der Verfassung. Es kann nur durch den demokratisch legitimierten Bildungsgesetzgeber immer neu aushandelt und justiert werden. Einer der zentralen Bereiche, in denen diese stetig neuen Kompromisse zustande kommen, ist das Kapazitätsrecht. Es hat die Funktion, schwierige Entscheidungen im Detail auszuarbeiten, sie plausibel zu machen und transparent zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht hat das früh erkannt, indem es die normative Gestaltungsmacht des Gesetzgebers betont und den Schwerpunkt seiner Maßstäbe auf die formellen Anforderungen an Verfahren und Begründung gesetzt hat. Diese gelungene Konstitutionalisierung hat über die Jahre einen stabilen Ausgleich zwischen Verfassungsrecht und politischer Reform erlaubt. Sie bleibt auch für neue Reformen offen.\n Dieser Ausgleich gerät erst dann in Gefahr, wenn die verfassungsrechtlichen Vorgaben auf eine Weise (miss–)verstanden und gehandhabt werden, die legitime Reformen behindert – sei es, weil die Maßstäbe zu eng gezogen werden, sei es, weil die Landesgesetzgeber aus Angst vor Niederlagen bei Gericht vor Reformen zurückschrecken. Überkonstitutionalisierung darf den Gesetzgeber nicht davon abbringen, seiner Aufgabe im deutschen Hochschulsystem nachzukommen. Seine Spielräume sind größer, als er selbst denkt.\n Abstract\n For more than fifty years, expansion has rightly been the dominating theme in university reform in Germany, paving the way for broad access to higher education and a modern knowledge society. Now that over 50 per cent of high school graduates enter universities, the federal level (Bund) and the states (Länder) are beginning to complement these reforms with a renewed emphasis on quality in teaching and research, both by improving student to professor ratios and research conditions. But this – gradual – reform shift has raised concerns among Länder administrations, as well as among academic commentators, whether these reforms are feasible under German constitutional law. Ever since the first Numerus Clausus decision of the Bundesverfassungsgericht in 1972 recognized a “right to study”, university admission has been heavily constitutionalized. Every piece of reform is subject to close judicial scrutiny whether it unduly limits university capacities to take in new students. A political shift towards increased quality, the concerns go, risks failing overly rigid constitutional standards. But this is not the case. Our law-in-context-approach shows that the constitutional rules that govern university admission are much less “over-constitutionalised” than is commonly assumed. They provide ample room even for considerable shifts in reform agendas, such as towards increased quality in teaching and research.","PeriodicalId":36848,"journal":{"name":"Verwaltung","volume":"53 1","pages":"179-214"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-04-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Verwaltung","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.3790/verw.53.2.179","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q4","JCRName":"Social Sciences","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Zusammenfassung
Die Konstitutionalisierung des deutschen Hochschulzulassungsrechts hat entscheidende Gleichheits- und Bildungsfortschritte gebracht. Eine privatisierte Spitzenbildung der Elite, wie sie die großen Forschungsuniversitäten an der amerikanischen Ostküste anbieten, bleibt dem deutschen System zu Recht fremd. Gleichzeitig ist das deutsche System nicht global isoliert. Das Gleichgewicht zwischen der verfassungsrechtlichen Verbürgung offener Hochschulbildung und den Druckpunkten eines international geöffneten Studien- und Forschungsmarktes zu finden, ist nicht Aufgabe der Verfassung. Es kann nur durch den demokratisch legitimierten Bildungsgesetzgeber immer neu aushandelt und justiert werden. Einer der zentralen Bereiche, in denen diese stetig neuen Kompromisse zustande kommen, ist das Kapazitätsrecht. Es hat die Funktion, schwierige Entscheidungen im Detail auszuarbeiten, sie plausibel zu machen und transparent zu begründen. Das Bundesverfassungsgericht hat das früh erkannt, indem es die normative Gestaltungsmacht des Gesetzgebers betont und den Schwerpunkt seiner Maßstäbe auf die formellen Anforderungen an Verfahren und Begründung gesetzt hat. Diese gelungene Konstitutionalisierung hat über die Jahre einen stabilen Ausgleich zwischen Verfassungsrecht und politischer Reform erlaubt. Sie bleibt auch für neue Reformen offen.
Dieser Ausgleich gerät erst dann in Gefahr, wenn die verfassungsrechtlichen Vorgaben auf eine Weise (miss–)verstanden und gehandhabt werden, die legitime Reformen behindert – sei es, weil die Maßstäbe zu eng gezogen werden, sei es, weil die Landesgesetzgeber aus Angst vor Niederlagen bei Gericht vor Reformen zurückschrecken. Überkonstitutionalisierung darf den Gesetzgeber nicht davon abbringen, seiner Aufgabe im deutschen Hochschulsystem nachzukommen. Seine Spielräume sind größer, als er selbst denkt.
Abstract
For more than fifty years, expansion has rightly been the dominating theme in university reform in Germany, paving the way for broad access to higher education and a modern knowledge society. Now that over 50 per cent of high school graduates enter universities, the federal level (Bund) and the states (Länder) are beginning to complement these reforms with a renewed emphasis on quality in teaching and research, both by improving student to professor ratios and research conditions. But this – gradual – reform shift has raised concerns among Länder administrations, as well as among academic commentators, whether these reforms are feasible under German constitutional law. Ever since the first Numerus Clausus decision of the Bundesverfassungsgericht in 1972 recognized a “right to study”, university admission has been heavily constitutionalized. Every piece of reform is subject to close judicial scrutiny whether it unduly limits university capacities to take in new students. A political shift towards increased quality, the concerns go, risks failing overly rigid constitutional standards. But this is not the case. Our law-in-context-approach shows that the constitutional rules that govern university admission are much less “over-constitutionalised” than is commonly assumed. They provide ample room even for considerable shifts in reform agendas, such as towards increased quality in teaching and research.