L. Herrmann, Saskia Fahrenkrug, C. Bindt, F. Breu, Jörn Grebe, C. Reichardt, Clara S. Lammers, Inga Becker-Hebly
{"title":"„Trans* ist plural“: Behandlungsverläufe bei Geschlechtsdysphorie in einer deutschen kinder- und jugendpsychiatrischen Spezialambulanz","authors":"L. Herrmann, Saskia Fahrenkrug, C. Bindt, F. Breu, Jörn Grebe, C. Reichardt, Clara S. Lammers, Inga Becker-Hebly","doi":"10.1055/a-1964-1907","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Zusammenfassung Einleitung Für die kontrovers diskutierte Diagnose Geschlechtsinkongruenz (GI) / Geschlechtsdysphorie (GD) im Kindes- und Jugendalter werden international steigende Zahlen in der Inanspruchnahme sowie zunehmend heterogene Verläufe für trans* Entwicklungen berichtet. Bisher existieren nur wenige Studien, welche die Zuweisungszahlen und Behandlungsverläufe in auf trans* Kinder und Jugendliche spezialisierten Sprechstunden in Deutschland beschreiben. Forschungsziele In der vorliegenden Studie werden deshalb die demografischen und klinischen Merkmale der vorstelligen trans* Kinder und Jugendlichen sowie die in der Hamburger Spezialsprechstunde für Geschlechtsidentität bzw. GI/GD (Hamburger GIS) erfolgte Diagnostik und Behandlung untersucht. Methoden Deskriptive Angaben zum Zuweisungsgeschlecht und Alter, zur sozialen Vornamensänderung, zum Behandlungsverlauf (Verlauf zwischen Zeitpunkt der Erstvorstellung und der Auswertung), zur Diagnose im Bereich einer GI/GD (gemäß ICD-10) und zum Behandlungsstatus von N = 680 Kindern und Jugendlichen (Zeitraum: 2013–2018) wurden retrospektiv erfasst. Ergebnisse Die Mehrheit der insgesamt 680 vorstelligen Kinder und Jugendlichen hatte ein weibliches Zuweisungsgeschlecht (74 %; 1:3, M:F) und war bereits im Jugendalter (≥ 12 Jahre; 87 %). Eine soziale Vornamensänderung war zum Zeitpunkt der Erstvorstellung häufig bereits erfolgt (66 %). Eine Diagnose im Bereich einer GI/GD erhielten 85 % der Fälle. Bei 75 % der Kinder und Jugendlichen war der Behandlungsverlauf bekannt, während der Behandlungsverlauf in 25 % der Fälle nicht nachvollzogen werden konnte. Es zeigten sich deskriptive Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (bekannter vs. unbekannter Behandlungsverlauf) in Bezug auf alle untersuchten Variablen. 66 % der Jugendlichen, bei denen Angaben zum Behandlungsverlauf vorlagen, hatten eine geschlechtsangleichende körpermedizinische Behandlung erhalten. Schlussfolgerung Die Ergebnisse der Auswertung verdeutlichen, dass trans* Kinder und Jugendliche, die sich in spezialisierten Sprechstunden für GI/GD vorstellen, eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Merkmalen und Behandlungsverläufen darstellen. Geschlechtsangleichende körpermedizinische Behandlungen waren in vielen, aber nicht in allen Fällen indiziert. Aus der Heterogenität der Entwicklungs- und Behandlungsverläufe resultiert die zunehmende Bedeutung individualisierter, einzelfallbasierter Entscheidungen in einem interdisziplinären Behandlungssetting.","PeriodicalId":44203,"journal":{"name":"Zeitschrift Fur Sexualforschung","volume":"35 1","pages":"209 - 219"},"PeriodicalIF":0.8000,"publicationDate":"2022-12-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"4","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Zeitschrift Fur Sexualforschung","FirstCategoryId":"102","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1055/a-1964-1907","RegionNum":4,"RegionCategory":"心理学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q4","JCRName":"PSYCHOLOGY, CLINICAL","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Zusammenfassung Einleitung Für die kontrovers diskutierte Diagnose Geschlechtsinkongruenz (GI) / Geschlechtsdysphorie (GD) im Kindes- und Jugendalter werden international steigende Zahlen in der Inanspruchnahme sowie zunehmend heterogene Verläufe für trans* Entwicklungen berichtet. Bisher existieren nur wenige Studien, welche die Zuweisungszahlen und Behandlungsverläufe in auf trans* Kinder und Jugendliche spezialisierten Sprechstunden in Deutschland beschreiben. Forschungsziele In der vorliegenden Studie werden deshalb die demografischen und klinischen Merkmale der vorstelligen trans* Kinder und Jugendlichen sowie die in der Hamburger Spezialsprechstunde für Geschlechtsidentität bzw. GI/GD (Hamburger GIS) erfolgte Diagnostik und Behandlung untersucht. Methoden Deskriptive Angaben zum Zuweisungsgeschlecht und Alter, zur sozialen Vornamensänderung, zum Behandlungsverlauf (Verlauf zwischen Zeitpunkt der Erstvorstellung und der Auswertung), zur Diagnose im Bereich einer GI/GD (gemäß ICD-10) und zum Behandlungsstatus von N = 680 Kindern und Jugendlichen (Zeitraum: 2013–2018) wurden retrospektiv erfasst. Ergebnisse Die Mehrheit der insgesamt 680 vorstelligen Kinder und Jugendlichen hatte ein weibliches Zuweisungsgeschlecht (74 %; 1:3, M:F) und war bereits im Jugendalter (≥ 12 Jahre; 87 %). Eine soziale Vornamensänderung war zum Zeitpunkt der Erstvorstellung häufig bereits erfolgt (66 %). Eine Diagnose im Bereich einer GI/GD erhielten 85 % der Fälle. Bei 75 % der Kinder und Jugendlichen war der Behandlungsverlauf bekannt, während der Behandlungsverlauf in 25 % der Fälle nicht nachvollzogen werden konnte. Es zeigten sich deskriptive Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (bekannter vs. unbekannter Behandlungsverlauf) in Bezug auf alle untersuchten Variablen. 66 % der Jugendlichen, bei denen Angaben zum Behandlungsverlauf vorlagen, hatten eine geschlechtsangleichende körpermedizinische Behandlung erhalten. Schlussfolgerung Die Ergebnisse der Auswertung verdeutlichen, dass trans* Kinder und Jugendliche, die sich in spezialisierten Sprechstunden für GI/GD vorstellen, eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Merkmalen und Behandlungsverläufen darstellen. Geschlechtsangleichende körpermedizinische Behandlungen waren in vielen, aber nicht in allen Fällen indiziert. Aus der Heterogenität der Entwicklungs- und Behandlungsverläufe resultiert die zunehmende Bedeutung individualisierter, einzelfallbasierter Entscheidungen in einem interdisziplinären Behandlungssetting.