{"title":"Wie Physiotherapeut*innen Research Waste reduzieren können","authors":"R. Hilfiker","doi":"10.1055/a-1526-7370","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Im Editorial der Juni-Ausgabe 2021 der physioscience stießen Braun und Kopkow [2] eine Debatte zum Thema Research Waste an. Dabei gingen die Autoren auf die Berücksichtigung von Forschungsprioritäten zur Vermeidung von Research Waste ein. Ein wichtiges Thema, zu dessen Diskussion ich folgende Aspekte beitragen will. In einem kürzlich erschienen Artikel von van Calster et al. [7] wird die medizinische Forschung stark kritisiert: Neben dem Problem der fehlenden Umsetzung von Forschungsprioritäten sei die allgemeine Qualität der medizinischen Forschung immer noch zu schlecht, trotz seit Jahren bestehender Kritik [7]. Forschung werde zu sehr wie ein Geschäft betrieben, dabei bleibe die Methodologie auf der Strecke [7]. Laut van Calst et al. entstehe Research Waste durch schlechte Studiendesigns, schlechte Durchführung und schlechte Beschreibungen von Studien [7]. Tatsächlich wird die Methodologie oft vernachlässigt, was verschiedene Ursachen haben kann, zum Beispiel mangelnde Zeit oder ein schwieriger Zugang zu Expert*innen. Immer wieder ist auch die Forderung zu hören, dass Forschung vor allem in der Freizeit durchgeführt werden sollte. Freizeit-Forschung ist jedoch kein gutes Modell, denn die Planung von guter Forschung braucht Zeit. So sollte zum Beispiel keine Studie ohne eine aktuelle und qualitativ hochwertige Literaturübersicht durchgeführt werden. Auch die Planung der optimalen Methode ist zeitaufwendig. Die Forschungsfrage sollte die Methode bestimmen. Deshalb kann nicht immer auf Methoden zurückgegriffen werden, die Forschende beherrschen. In der Physiotherapie ist es zudem für Forschende oft schwierig, sich von Expert*innen beraten zu lassen, vor allem wenn eine Beratung viel Zeit braucht. Die Finanzierung kann außerdem schnell zu einem Problem werden. Diese Situation führt dazu, dass Expert*innen häufig erst dann kontaktiert werden, wenn die Daten von den Forschenden bereits erhoben wurden. Research Waste verschwendet nicht nur wertvolle Ressourcen, sondern kann auch negative Folgen für Patient*innen haben, wenn Entscheidungen über Behandlungen aufgrund von mangelhafter Forschung gefällt werden. Oft wird angenommen, dass das Gutachtersystem (Peer Review) die Qualität von Veröffentlichungen verbessert und garantiert. Doch es gibt immer mehr Hinweise, dass dieses System an seine Grenzen stößt: Herausgeber*innen von Fachzeitschriften haben zunehmend Mühe damit, Gutachter*innen zu finden, da immer weniger Forschende gewillt sind, unbezahlte Gutachten zu schreiben. Gutachter*innen werden zwar von ihren Universitäten oder Fachhochschulen für ihre Forschungstätigkeiten bezahlt, doch sie stehen meistens unter hohem Zeitdruck. Weiter wird kritisiert, dass die Qualität der Gutachten nicht immer hoch genug sei, was durchaus damit zusammenhängt, dass Gutachter*innen unterschiedlich stark bereit sind, Zeit in das unbezahlte Gutachten zu investieren. Da selbst begutachtete Artikel problematisch sein können, sollten Physiotherapeut*innen beim Lesen ein paar Grundsätze beachten: ▪ Nicht nur das Abstract lesen. ▪ Welche Frage wollte die Studie beantworten? ▪ War die Methode geeignet, um die Forschungsfrage zu beantworten? ▪ Passt die Schlussfolgerung zu den Resultaten? ▪ Gab es methodologische Mängel, z. B. fehlende Daten, zu hoher Ausschluss von Studienteilnehmenden? Um diese Fragen zu beantworten, sollten Physiotherapeut*innen Expert*innen zum Thema befragen oder einen Journal Club durchführen, in dem sie den Artikel diskutieren. Auf dieser Grundlage können sie die Schlussfolgerungen einer Studie angemessen interpretieren. ▪ Falls die Schlussfolgerung einer Studie eine Änderung für die Praxis bedeutet, sollten Physiotherapeut*innen zunächst alle vergleichbaren Studien lesen, um den Gesamtüberblick über die jeweilige Fragestellung zu erhalten. Falls die Qualität der Evidenz gut ist, sollten sie ihre Praxis entsprechend anpassen, was leider nicht alle tun [3]. Das Nichtumsetzen einer gesicherten Evidenz ist aber auch „Forschung für die Tonne“ [3]: Es ist eine Verschwendung von Ressourcen, wenn Therapien weiter angewendet werden, obwohl Ergebnisse dazu vorliegen, dass diese nicht genügend wirken; oder Therapien und StrateDr. Roger Hilfiker Editorial","PeriodicalId":41765,"journal":{"name":"Physioscience","volume":"17 1","pages":"97 - 98"},"PeriodicalIF":0.4000,"publicationDate":"2021-09-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"2","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Physioscience","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1055/a-1526-7370","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q4","JCRName":"REHABILITATION","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Im Editorial der Juni-Ausgabe 2021 der physioscience stießen Braun und Kopkow [2] eine Debatte zum Thema Research Waste an. Dabei gingen die Autoren auf die Berücksichtigung von Forschungsprioritäten zur Vermeidung von Research Waste ein. Ein wichtiges Thema, zu dessen Diskussion ich folgende Aspekte beitragen will. In einem kürzlich erschienen Artikel von van Calster et al. [7] wird die medizinische Forschung stark kritisiert: Neben dem Problem der fehlenden Umsetzung von Forschungsprioritäten sei die allgemeine Qualität der medizinischen Forschung immer noch zu schlecht, trotz seit Jahren bestehender Kritik [7]. Forschung werde zu sehr wie ein Geschäft betrieben, dabei bleibe die Methodologie auf der Strecke [7]. Laut van Calst et al. entstehe Research Waste durch schlechte Studiendesigns, schlechte Durchführung und schlechte Beschreibungen von Studien [7]. Tatsächlich wird die Methodologie oft vernachlässigt, was verschiedene Ursachen haben kann, zum Beispiel mangelnde Zeit oder ein schwieriger Zugang zu Expert*innen. Immer wieder ist auch die Forderung zu hören, dass Forschung vor allem in der Freizeit durchgeführt werden sollte. Freizeit-Forschung ist jedoch kein gutes Modell, denn die Planung von guter Forschung braucht Zeit. So sollte zum Beispiel keine Studie ohne eine aktuelle und qualitativ hochwertige Literaturübersicht durchgeführt werden. Auch die Planung der optimalen Methode ist zeitaufwendig. Die Forschungsfrage sollte die Methode bestimmen. Deshalb kann nicht immer auf Methoden zurückgegriffen werden, die Forschende beherrschen. In der Physiotherapie ist es zudem für Forschende oft schwierig, sich von Expert*innen beraten zu lassen, vor allem wenn eine Beratung viel Zeit braucht. Die Finanzierung kann außerdem schnell zu einem Problem werden. Diese Situation führt dazu, dass Expert*innen häufig erst dann kontaktiert werden, wenn die Daten von den Forschenden bereits erhoben wurden. Research Waste verschwendet nicht nur wertvolle Ressourcen, sondern kann auch negative Folgen für Patient*innen haben, wenn Entscheidungen über Behandlungen aufgrund von mangelhafter Forschung gefällt werden. Oft wird angenommen, dass das Gutachtersystem (Peer Review) die Qualität von Veröffentlichungen verbessert und garantiert. Doch es gibt immer mehr Hinweise, dass dieses System an seine Grenzen stößt: Herausgeber*innen von Fachzeitschriften haben zunehmend Mühe damit, Gutachter*innen zu finden, da immer weniger Forschende gewillt sind, unbezahlte Gutachten zu schreiben. Gutachter*innen werden zwar von ihren Universitäten oder Fachhochschulen für ihre Forschungstätigkeiten bezahlt, doch sie stehen meistens unter hohem Zeitdruck. Weiter wird kritisiert, dass die Qualität der Gutachten nicht immer hoch genug sei, was durchaus damit zusammenhängt, dass Gutachter*innen unterschiedlich stark bereit sind, Zeit in das unbezahlte Gutachten zu investieren. Da selbst begutachtete Artikel problematisch sein können, sollten Physiotherapeut*innen beim Lesen ein paar Grundsätze beachten: ▪ Nicht nur das Abstract lesen. ▪ Welche Frage wollte die Studie beantworten? ▪ War die Methode geeignet, um die Forschungsfrage zu beantworten? ▪ Passt die Schlussfolgerung zu den Resultaten? ▪ Gab es methodologische Mängel, z. B. fehlende Daten, zu hoher Ausschluss von Studienteilnehmenden? Um diese Fragen zu beantworten, sollten Physiotherapeut*innen Expert*innen zum Thema befragen oder einen Journal Club durchführen, in dem sie den Artikel diskutieren. Auf dieser Grundlage können sie die Schlussfolgerungen einer Studie angemessen interpretieren. ▪ Falls die Schlussfolgerung einer Studie eine Änderung für die Praxis bedeutet, sollten Physiotherapeut*innen zunächst alle vergleichbaren Studien lesen, um den Gesamtüberblick über die jeweilige Fragestellung zu erhalten. Falls die Qualität der Evidenz gut ist, sollten sie ihre Praxis entsprechend anpassen, was leider nicht alle tun [3]. Das Nichtumsetzen einer gesicherten Evidenz ist aber auch „Forschung für die Tonne“ [3]: Es ist eine Verschwendung von Ressourcen, wenn Therapien weiter angewendet werden, obwohl Ergebnisse dazu vorliegen, dass diese nicht genügend wirken; oder Therapien und StrateDr. Roger Hilfiker Editorial