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Abstract
In einem Interview mit der Zeitschrift Cicero erörterte der Stanford-Gelehrte Ian Morris kürzlich, warum ihn seine historischen Studien zu der Erkenntnis geführt haben, dass Kriege die Welt insgesamt reicher und sicherer gemacht hätten. Zwar sei die Geschichte des Krieges eine sehr böse Geschichte. Aber, so Morris, die positiven Effekte überwögen das Elend bei weitem. Um zu dieser Bilanz zu gelangen, muss der Historiker freilich einen bestimmten Standpunkt einnehmen. Morris sagt: „Ich versuche einfach den Blick weg vom Detail, weg von den einzelnen Kriegen, hin auf das große Ganze zu richten“ (Morris 2013). So einfach ist das. Je weitschweifender der Blick, je subjektvergessener die Perspektive, desto weniger werden die historischen Bilanzierungsbemühungen verstört durch schmutzige kleine Details. Vor dem gewaltigen Panorama des großen Ganzen interessiert vor allem die Bewegungsrichtung, bei der sich die Menschheit, aus einer optimierungsbedürftigen Vergangenheit kommend, mit allen Mitteln in eine Zukunft hinein entwickelt, bei der das Leichensaldo dem Geschichtsbuchhalter Morris Anlass genug ist, die teleologisch ungemein zweckdienliche Rolle des Krieges zu preisen. Der einzelne Mensch freilich gerät in dieser unendlichen Transformationsbewegung zum bloßen „Funktionär der Unmerklichkeit des Zugewinns“, eingebettet in ein Geschichtsbild „von solcher Großräumigkeit, daß das einzelne Leben darin nichts mehr zu bedeuten“ scheint (Blumenberg 1986, S. 225). Es ist dieser, wie Pier Paolo Pasolini treffend bemerkt, „unerträgliche Siegerblick auf die Wirklichkeit“ (Pasolini 2011, S. 123), an dem sich seit jeher jede Kritik an geschichtsphilosophischen Systemen dieses Typs entzündet. Natürlich kennt auch Johannes Rohbeck diese, offenbar zu seinem Erstaunen, nicht verstummen wollenden Einwände. Seine Apologie der Kantischen