{"title":"Die Zärtlichkeit am Ende? Apokalyptische Gefühle in der Zeit der Unberührbarkeit","authors":"Isabella Guanzini","doi":"10.5771/9783748910589-257","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"In dieser Krisenzeit spüren wir uns noch unmittelbarer als sonst in die Welt geworfen, so als ob unsere gewöhnlichen Anhaltspunkte keinen wahren Halt mehr gewährleisten könnten. Unser gegenwärtiger Zustand ist von neuen Signifikanten geprägt (Masken, Distanz, Pandemie, Lockdown usw.) und von neuen Gegensätzen beherrscht (Infizierte/Immunisierte, Zusperren/Aufsperren, Ausgehen/Drinnenbleiben etc.), die neue Emotionen auslösen und unsere Vernunft und unser Empfinden berühren. Inzwischen haben koreanische Wissenschaftler*innen mit dem Begriff corona blue neue Formen der Depression bezeichnet, die sich von traurigen Gefühlen innerhalb des sozialen Körpers nähren. Das Virus existiert noch immer zwischen uns wie eine (un-)tote Präsenz, die zwar überlebt und sich weiter ausbreitet, ohne aber wirklich zu leben. Zwei Monate lang hat uns das Virus massiv voneinander isoliert. Dann hat sich eine neue Situation des Verdachts eingestellt, die dazu aufruft, ständig physische und symbolische Trennlinien zu ziehen, um für sich selbst eine gewisse mentale und körperliche Immunität zu gewährleisten. Wir sind einem geteilten Schicksal ausgeliefert, das nicht zuletzt eine bislang unbekannte Form der Passivität erzeugt und unsere Freiheit radikal herausfordert. Von daher spannt sich der „geworfene Entwurf“, der wir sind, gerade mit besonders unscharfen und prekären Konturen auf die Zukunft hin aus: Wir wissen eigentlich nicht, wie sich unsere Mitund Umwelt in den nächsten Monaten oder sogar Jahren darstellen wird. Wie nie zuvor in unserer globalen Epoche bleibt unsere Mitgeschichte ziemlich offen und unbekannt. Am Anfang der Corona-Krise wurde das Geschehen durch den Diskurs der Wissenschaft bzw. der Medizin beherrscht. Exakte Zahlen, Algorithmen und Grafiken wurden in unseren Alltag eingeschrieben und haben die Grundstimmung unserer symbolischen Ordnung bestimmt. Wir haben uns Virolog*innen und Epidemolog*innen anvertraut und der Entdeckung der Impfung einen messianischen Charakter zugeschrieben. 1.","PeriodicalId":441173,"journal":{"name":"Die Corona-Pandemie","volume":"38 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-07-28","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Die Corona-Pandemie","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.5771/9783748910589-257","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
In dieser Krisenzeit spüren wir uns noch unmittelbarer als sonst in die Welt geworfen, so als ob unsere gewöhnlichen Anhaltspunkte keinen wahren Halt mehr gewährleisten könnten. Unser gegenwärtiger Zustand ist von neuen Signifikanten geprägt (Masken, Distanz, Pandemie, Lockdown usw.) und von neuen Gegensätzen beherrscht (Infizierte/Immunisierte, Zusperren/Aufsperren, Ausgehen/Drinnenbleiben etc.), die neue Emotionen auslösen und unsere Vernunft und unser Empfinden berühren. Inzwischen haben koreanische Wissenschaftler*innen mit dem Begriff corona blue neue Formen der Depression bezeichnet, die sich von traurigen Gefühlen innerhalb des sozialen Körpers nähren. Das Virus existiert noch immer zwischen uns wie eine (un-)tote Präsenz, die zwar überlebt und sich weiter ausbreitet, ohne aber wirklich zu leben. Zwei Monate lang hat uns das Virus massiv voneinander isoliert. Dann hat sich eine neue Situation des Verdachts eingestellt, die dazu aufruft, ständig physische und symbolische Trennlinien zu ziehen, um für sich selbst eine gewisse mentale und körperliche Immunität zu gewährleisten. Wir sind einem geteilten Schicksal ausgeliefert, das nicht zuletzt eine bislang unbekannte Form der Passivität erzeugt und unsere Freiheit radikal herausfordert. Von daher spannt sich der „geworfene Entwurf“, der wir sind, gerade mit besonders unscharfen und prekären Konturen auf die Zukunft hin aus: Wir wissen eigentlich nicht, wie sich unsere Mitund Umwelt in den nächsten Monaten oder sogar Jahren darstellen wird. Wie nie zuvor in unserer globalen Epoche bleibt unsere Mitgeschichte ziemlich offen und unbekannt. Am Anfang der Corona-Krise wurde das Geschehen durch den Diskurs der Wissenschaft bzw. der Medizin beherrscht. Exakte Zahlen, Algorithmen und Grafiken wurden in unseren Alltag eingeschrieben und haben die Grundstimmung unserer symbolischen Ordnung bestimmt. Wir haben uns Virolog*innen und Epidemolog*innen anvertraut und der Entdeckung der Impfung einen messianischen Charakter zugeschrieben. 1.