{"title":"Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch ed. by Ulf Otto (review)","authors":"","doi":"10.1353/fmt.2023.a908152","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Reviewed by: Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch ed. by Ulf Otto Karina Rocktäschel (bio) Ulf Otto (Hg.): Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch. Berlin: Alexander Verlag 2020, 326 Seiten. Ein Arbeitsbuch ist ein Buch, das zu einem bestimmten Thema wesentliches Wissen versammelt. In diesem von Ulf Otto herausgegebenen Arbeitsbuch trifft das Thema Technologie – in Gestalt von Algorithmen – auf das Theater, dessen Ästhetik und Arbeitsweisen. 13 Beiträge gehen diesem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nach. Theatertheoretische und -ästhetische Essays sowie Arbeitsberichte von Theatermacher*innen kommen hier gleichermaßen vor. Sie geben Einblicke in gegenwärtige Theorie und Praxis, in die vielfältigen Arten und Weisen, wie Algorithmen im Theater zur Anwendung kommen. Interessant erscheint mir hierbei, dass Algorithmen neue Formate hervorbringen, die sich weg von einer Stückentwicklung hin zu „Prinzipien der Spielentwicklung\" (56) bewegen, wie der Arbeitsbericht von Georg Werner treffend beschreibt. Überraschenderweise interessiert sich der erste Beitrag des Bandes aber nicht für das Theater, sondern für eine Inszenierungsgeschichte von Algorithmen in Performances. Martina Leeker gibt hier einen blitzlichtartigen Abriss der Geschichte des Performens von und mit Algorithmen seit den 1960er Jahren und zeigt, wie diese verborgen, vermieden und – in der Gegenwart – verharmlost werden. Nur eine Rekonstruktion dieser Geschichte sowie eine gegenwärtige Standortbestimmung könne, so die Autorin, eine Kritik an der Wirkmacht algorithmischer Gouvernementalität ermöglichen. Sowohl in diesem Beitrag als auch dem gesamten Sammelband wird ersichtlich, dass Algorithmen und Big Data dominante Machtformen unserer Zeit sind. Dem geht der Beitrag von Ulf Otto tiefgründig nach. So skizziert er infolge von Technologisierung einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch, der seine Auswirkungen auch im Theater zeigt. Der Autor beschreibt ein Theater der Kontrollgesellschaft, das ein Theater der Disziplinarmacht verabschiedet habe. Sein Referenzbeispiel hierfür ist die Performance Algorithmen von Turbo Pascal. Diese [End Page 143] analysiert er sowohlals Reflexion als auch Bestandteil der Kontrollgesellschaft und kann um dieses Beispiel herum eine grobe, aber interessante These zur Verwobenheit von Theater, Gesellschaft, Macht und Technologie erbringen. Mit den technologischen Veränderungen, die sich auf den Theaterapparat auswirken, kommen auch gängige Methoden der Theaterwissenschaft (Semiotik, Phänomenologie) an ihre Grenzen, wie Ulf Otto überzeugend argumentiert. Diesen Aspekt bedenkt auch der Sammelband mit. Die verschiedenen Arbeitsberichte der Theatermacher*innen des Sammelbandes sind daher notweniger Bestandteil sowohl einer inhaltlichen als auch methodischen Bestandsaufnahme der Transformation von Theater infolge der Technologisierung. Deutlich wird auch, dass ethnographische Methoden geeignet sind, neues Wissen zum Theaterapparat zu genieren. So zeigt der ethnographisch angelegte Beitrag von Anna Königshofer, dass Theaterpraxis vor allem eine Praxis des Organisierens sei, in der Technologie eine zentrale Rolle spielt und als „gestaltende Akteurin\" (255) auftritt. Ein neues Verständnis von Arbeitsprozessen im Theater wird hier hervorgehoben. Künstlerische und nichtkünstlerische Arbeit haben beide einen ähnlichen Stellenwert, wodurch der Mythos des künstlerischen Schöpfers in Frage gestellt wird. Der Gleichrangigkeit von Technologie und Mensch geht auch der Beitrag von Jessica Hölzl und Jochen Lamb nach. Sie analysieren die Anwendung von Robotik im Figurentheater. Beide erläutern, dass Technologie zu einer eigenständigen Akteurin gerät, die neben und mit den Performer*innen eine handlungsmächtige Materialität in Performances besitzt. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Anschlussfähigkeit zum Wissensfeld Posthumanismus. Andere Beiträge des Sammelbandes wenden sich der dramaturgischen Verwendungen algorithmischer Modelle im Theater zu, was durchweg überzeugt und spannend zu lesen ist. So spricht Wolf-Dieter Ernst von einem „algorithmisch orientierten Inszenierungsansatz\" (314) in seiner Betrachtung der Performance My Square Lady von Gob Squad. Zwar kommen Algorithmen in der Inszenierung in Form eines KIRoboters vor. Allerdings untersucht der Essay die Nähe der von der Gruppe verwendeten Frageund Kommunikationstechniken zu algorithmischen Regelsätzen. Ähnlich ist der Beitrag von Michael Bachmann gelagert. Er arbeitet die formalen Regeln heraus, die die Dramaturgie von Dries Verhoevens Wanna Play? und Ontroerend Goeds A Game of You bestimmen. Deutlich wird in diesen Beiträgen, dass Algorithmen zu neuen Performanceformaten führen, die auf bestimmten Spiel-Regeln aufbauen. Auch der ausführliche Beitrag von Nina Tecklenburg ist hier einzuordnen und gibt der Debatte zudem neue Akzente. 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Abstract
Reviewed by: Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch ed. by Ulf Otto Karina Rocktäschel (bio) Ulf Otto (Hg.): Algorithmen des Theaters. Ein Arbeitsbuch. Berlin: Alexander Verlag 2020, 326 Seiten. Ein Arbeitsbuch ist ein Buch, das zu einem bestimmten Thema wesentliches Wissen versammelt. In diesem von Ulf Otto herausgegebenen Arbeitsbuch trifft das Thema Technologie – in Gestalt von Algorithmen – auf das Theater, dessen Ästhetik und Arbeitsweisen. 13 Beiträge gehen diesem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nach. Theatertheoretische und -ästhetische Essays sowie Arbeitsberichte von Theatermacher*innen kommen hier gleichermaßen vor. Sie geben Einblicke in gegenwärtige Theorie und Praxis, in die vielfältigen Arten und Weisen, wie Algorithmen im Theater zur Anwendung kommen. Interessant erscheint mir hierbei, dass Algorithmen neue Formate hervorbringen, die sich weg von einer Stückentwicklung hin zu „Prinzipien der Spielentwicklung" (56) bewegen, wie der Arbeitsbericht von Georg Werner treffend beschreibt. Überraschenderweise interessiert sich der erste Beitrag des Bandes aber nicht für das Theater, sondern für eine Inszenierungsgeschichte von Algorithmen in Performances. Martina Leeker gibt hier einen blitzlichtartigen Abriss der Geschichte des Performens von und mit Algorithmen seit den 1960er Jahren und zeigt, wie diese verborgen, vermieden und – in der Gegenwart – verharmlost werden. Nur eine Rekonstruktion dieser Geschichte sowie eine gegenwärtige Standortbestimmung könne, so die Autorin, eine Kritik an der Wirkmacht algorithmischer Gouvernementalität ermöglichen. Sowohl in diesem Beitrag als auch dem gesamten Sammelband wird ersichtlich, dass Algorithmen und Big Data dominante Machtformen unserer Zeit sind. Dem geht der Beitrag von Ulf Otto tiefgründig nach. So skizziert er infolge von Technologisierung einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch, der seine Auswirkungen auch im Theater zeigt. Der Autor beschreibt ein Theater der Kontrollgesellschaft, das ein Theater der Disziplinarmacht verabschiedet habe. Sein Referenzbeispiel hierfür ist die Performance Algorithmen von Turbo Pascal. Diese [End Page 143] analysiert er sowohlals Reflexion als auch Bestandteil der Kontrollgesellschaft und kann um dieses Beispiel herum eine grobe, aber interessante These zur Verwobenheit von Theater, Gesellschaft, Macht und Technologie erbringen. Mit den technologischen Veränderungen, die sich auf den Theaterapparat auswirken, kommen auch gängige Methoden der Theaterwissenschaft (Semiotik, Phänomenologie) an ihre Grenzen, wie Ulf Otto überzeugend argumentiert. Diesen Aspekt bedenkt auch der Sammelband mit. Die verschiedenen Arbeitsberichte der Theatermacher*innen des Sammelbandes sind daher notweniger Bestandteil sowohl einer inhaltlichen als auch methodischen Bestandsaufnahme der Transformation von Theater infolge der Technologisierung. Deutlich wird auch, dass ethnographische Methoden geeignet sind, neues Wissen zum Theaterapparat zu genieren. So zeigt der ethnographisch angelegte Beitrag von Anna Königshofer, dass Theaterpraxis vor allem eine Praxis des Organisierens sei, in der Technologie eine zentrale Rolle spielt und als „gestaltende Akteurin" (255) auftritt. Ein neues Verständnis von Arbeitsprozessen im Theater wird hier hervorgehoben. Künstlerische und nichtkünstlerische Arbeit haben beide einen ähnlichen Stellenwert, wodurch der Mythos des künstlerischen Schöpfers in Frage gestellt wird. Der Gleichrangigkeit von Technologie und Mensch geht auch der Beitrag von Jessica Hölzl und Jochen Lamb nach. Sie analysieren die Anwendung von Robotik im Figurentheater. Beide erläutern, dass Technologie zu einer eigenständigen Akteurin gerät, die neben und mit den Performer*innen eine handlungsmächtige Materialität in Performances besitzt. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Anschlussfähigkeit zum Wissensfeld Posthumanismus. Andere Beiträge des Sammelbandes wenden sich der dramaturgischen Verwendungen algorithmischer Modelle im Theater zu, was durchweg überzeugt und spannend zu lesen ist. So spricht Wolf-Dieter Ernst von einem „algorithmisch orientierten Inszenierungsansatz" (314) in seiner Betrachtung der Performance My Square Lady von Gob Squad. Zwar kommen Algorithmen in der Inszenierung in Form eines KIRoboters vor. Allerdings untersucht der Essay die Nähe der von der Gruppe verwendeten Frageund Kommunikationstechniken zu algorithmischen Regelsätzen. Ähnlich ist der Beitrag von Michael Bachmann gelagert. Er arbeitet die formalen Regeln heraus, die die Dramaturgie von Dries Verhoevens Wanna Play? und Ontroerend Goeds A Game of You bestimmen. Deutlich wird in diesen Beiträgen, dass Algorithmen zu neuen Performanceformaten führen, die auf bestimmten Spiel-Regeln aufbauen. Auch der ausführliche Beitrag von Nina Tecklenburg ist hier einzuordnen und gibt der Debatte zudem neue Akzente. Ihr Beitrag ist vielschichtig, da er eine Theorie der Narration im Theater als Reflexion auf die digitale Kultur erbringt und zusätzlich Einblicke in die Arbeiten ihres Performance...