{"title":"Editorial – Intensive Umgebungen. Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung","authors":"Johanna Zorn","doi":"10.1353/fmt.2023.a908143","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Editorial – Intensive Umgebungen.Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung Johanna Zorn (München) In Theater, Performance, Installation und Musik, in Bildender Kunst, Architektur, Stadtplanung und Design, in Sozialen Medien wie in Populärkulturen –, quer durch die unterschiedlichen Künste, Gestaltungsund Medienformate lässt sich gegenwärtig eine signifikante Tendenz zur Inszenierung von intensiven Umgebungen beobachten. Sie sind intensiv im wörtlichen Sinne: Sie dringen in die Körperlichkeit und Gefühlswelt der Rezipierenden ein, um dort einen starken Eindruck zu hinterlassen. Hinter diesem speziellen Subjekt-Umwelt-Bezug, der die ontologische Grenzziehung zwischen Subjekten, Objekten und Räumen zugunsten einer environmentalen Verflochtenheit erodieren lässt, steht in der philosophischen Ästhetik der Begriff der ‚Atmosphäre'. Die Denkfigur der Atmosphäre knüpft die Eindringlichkeit der umschließenden Außenwelt programmatisch an die Undefinierbarkeit ihrer Wirkung: Wer wollte letztgültig klären, welchen spezifischen Eindruck der in den Sakralraum diffundierende Weihrauch im ästhetisch wahrnehmenden Subjekt hinterlässt; wer definieren, was die erotische Stimme aus den Kopfhörern über die mechanistische Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) hinaus mit den Gefühlen und Einstellungen einer Einzelnen macht; wer die spezifischen Orte von individuellen Bedürfnissen und technologischen Suggestionen, von computationaler Antizipation und Reaktion in einer multipel vernetzten Ambient Intelligence in äußerster Konkretion bestimmen? Es scheint, als seien intensive Umgebungen, weil ostentativ unsagbar und in ihrer Wirkung diffus, weniger für solche, auf distinkte Erkenntnis über die Umwelt zielenden Antworten konzipiert, als vielmehr für die Erfahrung von räumlich transportierter, wechselseitig zirkulierender Energie da. Atmosphären sind nicht bloß gestalteter Raum und kreierte Umgebung, sondern, wie Gernot Böhme es formuliert, mit „Gefühlston\"1 gefüllte Umwelten, die nur im Modus der subjektiven Involvierung und im synästhetischen Erleben spürbar werden, mit anderen Worten: Sie lassen sich, da sie sich im Zwischen ereignen, weder dingfest machen noch durchanalysieren. Environmentale Gefüge räumlicher, körperlicher und medialer Konstellationen fordern sogar auch dort ein umfassendes In-Sein der sinnlich erfahrenden Subjekte, wo sie handlungsbefähigende Verfügbarkeit evozieren. Indem atmosphärisch verdichtete theatrale Räume, installative Soundscapes oder mit hoher Nutzer*innenaktivität kalkulierende digitale Plattformtechnologien produktionsseitig als „affective tonalities\"2 auskomponiert werden, findet ein strategisches ‚attunement' des rezipierenden oder interaktiv partizipierenden Subjekts statt. Diese Einstimmung von Publika und Akteur*innen in spezifische Situationen erzeugt Momente des leiblich-sinnlichen Einschlusses, die alle auf Distinktion gerichtete Aufmerksamkeit der Idee nach zugunsten einer immersiven Gefühlswelt absorbieren. So vielfältig die Gefühle sein können, die die unter den Anwesenden geteilten Stimmungen auslösen, so unbestimmbar und unlokalisierbar bleiben ihre Ursprünge. So verschieden die emotiven Effekte und deren Charakteristiken sein mögen, die intensive Räume erzeugen, so zielen sie doch allesamt [End Page 35] prinzipiell auf eine Amplifizierung von Affekten. Dass zugleich mit der sensorischen Überwältigung die Möglichkeit zur reflexiven Durchdringung jener komplexen medientechnologischen Verfahren, die an der Produktion dieser Umgebungen beteiligt sind, flach gehalten werden soll, hat zur Konsequenz, dass sich über diese weniger von außerhalb und im Ganzen systematisch konstatieren als vielmehr leiblich ‚etwas' in ihnen erspüren lässt. Entsprechend argumentierte die phänomenologisch lebensweltliche Theoriefigur der Atmosphäre für den affizierten Körper als ‚Transmitter'3, während die ökologische Kontextualisierung des ästhetischen Begriffs durch Gernot Böhme, die stark die Relation Subjekt-Objekt fokussiert, noch dezidierter für eine Eliminierung der Unterscheidung von Innen und Außen, von Substanz und Akzidens votierte. Unvorhersehbar waren die Konsequenzen dieses relationalen Umweltbegriffs: Das ästhetische Plädoyer für den Abbau von Grenzen schien zwar das poststrukturalistische Theoriesetting und seinen Schlüsselbegriff der Dezentrierung aufzurufen, erweist sich jedoch in der Gegenwart, wie eine Vielzahl an konzeptuellen Entwürfen zeigt, wesentlich anbindungsfähiger an das posthumanistische Paradigma der „agential intra-action\"4. Der von Atmosphäre- wie von Posthumanismus-Diskursen gleichermaßen lancierte ethische Imperativ zur Erosion des autonomen Subjekts soll dabei eine virulente Bezugnahme auf die zeitgenössisch akute, ökologische Krisensituation leisten: Nachdem das Subjekt an der Zerstörung von Umwelt arbeitete, lässt nun der Posthumanismus das Subjekt der Erkenntnis erodieren. So wird der von Menschen gewaltsam vorangetriebene ‚Abbau' der Umwelt, der sich in geschmolzenen Gletschern und ausgetrockneten Flüssen ebenso zeigt wie in der...","PeriodicalId":55908,"journal":{"name":"FORUM MODERNES THEATER","volume":"113 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2023-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"FORUM MODERNES THEATER","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1353/fmt.2023.a908143","RegionNum":4,"RegionCategory":"艺术学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"THEATER","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Editorial – Intensive Umgebungen.Zu environmentalen Gefügen ästhetischer Erfahrung Johanna Zorn (München) In Theater, Performance, Installation und Musik, in Bildender Kunst, Architektur, Stadtplanung und Design, in Sozialen Medien wie in Populärkulturen –, quer durch die unterschiedlichen Künste, Gestaltungsund Medienformate lässt sich gegenwärtig eine signifikante Tendenz zur Inszenierung von intensiven Umgebungen beobachten. Sie sind intensiv im wörtlichen Sinne: Sie dringen in die Körperlichkeit und Gefühlswelt der Rezipierenden ein, um dort einen starken Eindruck zu hinterlassen. Hinter diesem speziellen Subjekt-Umwelt-Bezug, der die ontologische Grenzziehung zwischen Subjekten, Objekten und Räumen zugunsten einer environmentalen Verflochtenheit erodieren lässt, steht in der philosophischen Ästhetik der Begriff der ‚Atmosphäre'. Die Denkfigur der Atmosphäre knüpft die Eindringlichkeit der umschließenden Außenwelt programmatisch an die Undefinierbarkeit ihrer Wirkung: Wer wollte letztgültig klären, welchen spezifischen Eindruck der in den Sakralraum diffundierende Weihrauch im ästhetisch wahrnehmenden Subjekt hinterlässt; wer definieren, was die erotische Stimme aus den Kopfhörern über die mechanistische Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) hinaus mit den Gefühlen und Einstellungen einer Einzelnen macht; wer die spezifischen Orte von individuellen Bedürfnissen und technologischen Suggestionen, von computationaler Antizipation und Reaktion in einer multipel vernetzten Ambient Intelligence in äußerster Konkretion bestimmen? Es scheint, als seien intensive Umgebungen, weil ostentativ unsagbar und in ihrer Wirkung diffus, weniger für solche, auf distinkte Erkenntnis über die Umwelt zielenden Antworten konzipiert, als vielmehr für die Erfahrung von räumlich transportierter, wechselseitig zirkulierender Energie da. Atmosphären sind nicht bloß gestalteter Raum und kreierte Umgebung, sondern, wie Gernot Böhme es formuliert, mit „Gefühlston"1 gefüllte Umwelten, die nur im Modus der subjektiven Involvierung und im synästhetischen Erleben spürbar werden, mit anderen Worten: Sie lassen sich, da sie sich im Zwischen ereignen, weder dingfest machen noch durchanalysieren. Environmentale Gefüge räumlicher, körperlicher und medialer Konstellationen fordern sogar auch dort ein umfassendes In-Sein der sinnlich erfahrenden Subjekte, wo sie handlungsbefähigende Verfügbarkeit evozieren. Indem atmosphärisch verdichtete theatrale Räume, installative Soundscapes oder mit hoher Nutzer*innenaktivität kalkulierende digitale Plattformtechnologien produktionsseitig als „affective tonalities"2 auskomponiert werden, findet ein strategisches ‚attunement' des rezipierenden oder interaktiv partizipierenden Subjekts statt. Diese Einstimmung von Publika und Akteur*innen in spezifische Situationen erzeugt Momente des leiblich-sinnlichen Einschlusses, die alle auf Distinktion gerichtete Aufmerksamkeit der Idee nach zugunsten einer immersiven Gefühlswelt absorbieren. So vielfältig die Gefühle sein können, die die unter den Anwesenden geteilten Stimmungen auslösen, so unbestimmbar und unlokalisierbar bleiben ihre Ursprünge. So verschieden die emotiven Effekte und deren Charakteristiken sein mögen, die intensive Räume erzeugen, so zielen sie doch allesamt [End Page 35] prinzipiell auf eine Amplifizierung von Affekten. Dass zugleich mit der sensorischen Überwältigung die Möglichkeit zur reflexiven Durchdringung jener komplexen medientechnologischen Verfahren, die an der Produktion dieser Umgebungen beteiligt sind, flach gehalten werden soll, hat zur Konsequenz, dass sich über diese weniger von außerhalb und im Ganzen systematisch konstatieren als vielmehr leiblich ‚etwas' in ihnen erspüren lässt. Entsprechend argumentierte die phänomenologisch lebensweltliche Theoriefigur der Atmosphäre für den affizierten Körper als ‚Transmitter'3, während die ökologische Kontextualisierung des ästhetischen Begriffs durch Gernot Böhme, die stark die Relation Subjekt-Objekt fokussiert, noch dezidierter für eine Eliminierung der Unterscheidung von Innen und Außen, von Substanz und Akzidens votierte. Unvorhersehbar waren die Konsequenzen dieses relationalen Umweltbegriffs: Das ästhetische Plädoyer für den Abbau von Grenzen schien zwar das poststrukturalistische Theoriesetting und seinen Schlüsselbegriff der Dezentrierung aufzurufen, erweist sich jedoch in der Gegenwart, wie eine Vielzahl an konzeptuellen Entwürfen zeigt, wesentlich anbindungsfähiger an das posthumanistische Paradigma der „agential intra-action"4. Der von Atmosphäre- wie von Posthumanismus-Diskursen gleichermaßen lancierte ethische Imperativ zur Erosion des autonomen Subjekts soll dabei eine virulente Bezugnahme auf die zeitgenössisch akute, ökologische Krisensituation leisten: Nachdem das Subjekt an der Zerstörung von Umwelt arbeitete, lässt nun der Posthumanismus das Subjekt der Erkenntnis erodieren. So wird der von Menschen gewaltsam vorangetriebene ‚Abbau' der Umwelt, der sich in geschmolzenen Gletschern und ausgetrockneten Flüssen ebenso zeigt wie in der...