Waldorf, Montessori und Pestalozzi-Hype? – Schulnamen im Spiegel der Geschichte der Pädagogik

IF 0.6 2区 哲学 Q2 HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE Berichte zur Wissenschaftsgeschichte Pub Date : 2024-04-04 DOI:10.1002/bewi.202300020
Sebastian Engelmann, Katharina Weiand
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Neben diesen regional- oder lokalspezifischen Namen tragen zahlreiche Schulen in Deutschland aber auch Namen bekannter Personen des öffentlichen Lebens, die in einer Verbindung zur Geschichte der Literatur, der Kunst, der Philosophie oder der Politik stehen, wie Astrid Lindgren, Friedrich Schiller oder die Geschwister Scholl. Beliebte Namenspat:innen, in der Mehrheit Namenspaten, sind auch Anne Frank, Albert Einstein, Albert Schweitzer, Alexander von Humboldt, Erich Kästner, Freiherr vom Stein, Johann Wolfgang von Goethe oder Theodor Heuss – die meisten kennen sicher eine Schule, die nach einer dieser Personen benannt ist. Aber auch die Namen mehr oder weniger bekannter Pädagog:innen finden sich an allgemeinbildenden Schulen in allen Bundesländern wieder, wie Adolf Reichwein, Friedrich Fröbel, Johann Heinrich Pestalozzi oder Maria Montessori.</p><p>Diese kurze Darstellung sagt zunächst wenig über Erinnerungsgemeinschaften oder die Identifikation von Mustern des Erinnerns aus. Relevant werden Schulnamen in diesem Sinne erst dann, wenn man sie in ein Verhältnis zu einer Referenzgröße setzt. In diesem Beitrag ist die Referenzgröße nicht etwa die in den <i>critical place-name studies</i><sup>1</sup> schon als Hintergrundfolie für Benennungspraktiken ausgewiesene erinnerte Geschichte der Nationalstaaten, in denen die Schulen liegen. Schon seit geraumer Zeit ist bekannt, dass durch die Benennung öffentlicher Institutionen eine Geografie der Erinnerung entsteht, die zumeist eine Heldengeschichte von denen transportiert, die die Nation geschaffen haben oder einen essenziellen Part zur politischen Ordnung dieser Nation beigetragen haben. Gerade bei anhaltenden Kämpfen um die Benennung von Straßen wird dies deutlich.<sup>2</sup> In unserem Fall ist die Referenzgröße die Geschichte der Pädagogik, verstanden als über Tradition und Rezeption hergestellter Kanon.<sup>3</sup> Dieser Kanon – und seine Repräsentation in der Öffentlichkeit – ist unweigerlich auch für die Wissenschaftsgeschichte (der Pädagogik) von Interesse, denn die aufgerufenen Personen sind zugleich Vorreiter:innen und Stichwortgeber:innen der wissenschaftlichen Pädagogik und später auch der Erziehungswissenschaft. Personen wie Johann Heinrich Pestalozzi als einer der Begründer der modernen Didaktik oder Friedrich Fröbel wirken in der Erziehungswissenschaft nach und erhalten in der Forschung bis heute Beachtung. Zugleich sind sie im Entstehungsprozess der wissenschaftlichen Pädagogik über ihr prominentes Erscheinen im disziplinprägenden Genre Geschichte(n) der Pädagogik auch ein Teil der Verwissenschaftlichung der Pädagogik. Sie nehmen in der Genese der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin eine identitätsstiftende und normierende Funktion ein.<sup>4</sup> Die im 19. und 20. Jahrhundert präsenten Ideen der reformpädagogischen Bewegung mitsamt ihren Vorläufern wirken bis in die Gegenwart und prägen die moderne Pädagogik unweigerlich mit.<sup>5</sup></p><p>Wir werden in diesem Beitrag anhand des Bundeslandes Thüringen exemplarisch die Frage beantworten, ob sich Geschichte der Pädagogik in den Schulnamen spiegelt, welche Geschichte der Pädagogik abgebildet wird, und ob die Schulnamen eine andere als die in der Erziehungswissenschaft kanonische Geschichte erzählen. Die These, die wir in diesem Beitrag plausibilisieren werden, ist die, dass Schulen insbesondere nach praktisch wirkenden Pädagog:innen benannt sind, die wiederum mit alternativen Vorstellungen von Schule verknüpft sind, welche in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion unter dem Oberbegriff der Reformpädagogik zusammengefasst werden. Diese These ist als Ergänzung zur allgemeinen – und mittlerweile für z. B. Schulnamen in Rumänien vollständig empirisch gesicherten<sup>6</sup> – Annahme zu verstehen, dass insbesondere die Erinnerungskultur des Nationalstaats mitsamt identitätsstiftender Narrative in der Bezeichnung von Institutionen im öffentlichen Raum Form findet. Wir gehen davon aus, dass in Deutschland neben dieser Form der Erinnerung auch eine daran anschließende spezifische Erinnerung an die Geschichte der Pädagogik erfolgt, die zwar Ähnlichkeiten zur erinnerten Geschichte des Nationalstaats aufweist, aber dann doch eine andere ist.</p><p>Auf diese Art reproduzieren die Schulnamen in Deutschland auch disziplinäre Sichtbarkeitsregime.<sup>7</sup> Sie tragen im öffentlichen Raum einerseits zu einer Stabilisierung und Homogenisierung der Wahrnehmung der Geschichte der Pädagogik bei, denn strittige Fälle – streitbare Pädagog:innen, als problematisch markierte Konzepte etc. – tauchen in der Gesamtheit der Schulnamen nur selten auf. Andererseits werden mit Regelmäßigkeit aber auch Pädagog:innen erwähnt, die in der Geschichte der Pädagogik wohl eher als Außenseiter:innen oder zumindest als Randerscheinungen gelten müssen, im öffentlichen Raum der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen aber einen festen Platz haben. Ein prominentes Beispiel ist Janusz Korczak, der im Bundesland Thüringen drei Schulen und deutschlandweit auch anderen Bildungseinrichtungen seinen Namen leiht.</p>","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":"47 1-2","pages":"27-45"},"PeriodicalIF":0.6000,"publicationDate":"2024-04-04","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300020","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","FirstCategoryId":"98","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300020","RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q2","JCRName":"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE","Score":null,"Total":0}
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Abstract

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es aktuell über 32.000 allgemeinbildende Schulen – und jede dieser Schulen hat einen Namen. Mit Blick auf ihre Namensgebung unterscheiden sich die Schulen aber deutlich. Zahlreiche von ihnen sind nach ihrer geographischen Verortung benannt. Einige Namen beziehen sich beispielweise auf eine regionale Besonderheit („Schule an der Donauschleife“). Andere Schulen verweisen mit ihrem Namen auf eine lokale Gegebenheit, wie die „Turmbergschule in Weingarten“, die am Fuß des Turmbergs des kleinen Ortes in Baden-Württemberg liegt. Und wiederum andere tragen den Namen der Straße, in der sie liegen, wie die „Grundschule an der Zunftmeisterstraße“ in Mülheim an der Ruhr. Neben diesen regional- oder lokalspezifischen Namen tragen zahlreiche Schulen in Deutschland aber auch Namen bekannter Personen des öffentlichen Lebens, die in einer Verbindung zur Geschichte der Literatur, der Kunst, der Philosophie oder der Politik stehen, wie Astrid Lindgren, Friedrich Schiller oder die Geschwister Scholl. Beliebte Namenspat:innen, in der Mehrheit Namenspaten, sind auch Anne Frank, Albert Einstein, Albert Schweitzer, Alexander von Humboldt, Erich Kästner, Freiherr vom Stein, Johann Wolfgang von Goethe oder Theodor Heuss – die meisten kennen sicher eine Schule, die nach einer dieser Personen benannt ist. Aber auch die Namen mehr oder weniger bekannter Pädagog:innen finden sich an allgemeinbildenden Schulen in allen Bundesländern wieder, wie Adolf Reichwein, Friedrich Fröbel, Johann Heinrich Pestalozzi oder Maria Montessori.

Diese kurze Darstellung sagt zunächst wenig über Erinnerungsgemeinschaften oder die Identifikation von Mustern des Erinnerns aus. Relevant werden Schulnamen in diesem Sinne erst dann, wenn man sie in ein Verhältnis zu einer Referenzgröße setzt. In diesem Beitrag ist die Referenzgröße nicht etwa die in den critical place-name studies1 schon als Hintergrundfolie für Benennungspraktiken ausgewiesene erinnerte Geschichte der Nationalstaaten, in denen die Schulen liegen. Schon seit geraumer Zeit ist bekannt, dass durch die Benennung öffentlicher Institutionen eine Geografie der Erinnerung entsteht, die zumeist eine Heldengeschichte von denen transportiert, die die Nation geschaffen haben oder einen essenziellen Part zur politischen Ordnung dieser Nation beigetragen haben. Gerade bei anhaltenden Kämpfen um die Benennung von Straßen wird dies deutlich.2 In unserem Fall ist die Referenzgröße die Geschichte der Pädagogik, verstanden als über Tradition und Rezeption hergestellter Kanon.3 Dieser Kanon – und seine Repräsentation in der Öffentlichkeit – ist unweigerlich auch für die Wissenschaftsgeschichte (der Pädagogik) von Interesse, denn die aufgerufenen Personen sind zugleich Vorreiter:innen und Stichwortgeber:innen der wissenschaftlichen Pädagogik und später auch der Erziehungswissenschaft. Personen wie Johann Heinrich Pestalozzi als einer der Begründer der modernen Didaktik oder Friedrich Fröbel wirken in der Erziehungswissenschaft nach und erhalten in der Forschung bis heute Beachtung. Zugleich sind sie im Entstehungsprozess der wissenschaftlichen Pädagogik über ihr prominentes Erscheinen im disziplinprägenden Genre Geschichte(n) der Pädagogik auch ein Teil der Verwissenschaftlichung der Pädagogik. Sie nehmen in der Genese der Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin eine identitätsstiftende und normierende Funktion ein.4 Die im 19. und 20. Jahrhundert präsenten Ideen der reformpädagogischen Bewegung mitsamt ihren Vorläufern wirken bis in die Gegenwart und prägen die moderne Pädagogik unweigerlich mit.5

Wir werden in diesem Beitrag anhand des Bundeslandes Thüringen exemplarisch die Frage beantworten, ob sich Geschichte der Pädagogik in den Schulnamen spiegelt, welche Geschichte der Pädagogik abgebildet wird, und ob die Schulnamen eine andere als die in der Erziehungswissenschaft kanonische Geschichte erzählen. Die These, die wir in diesem Beitrag plausibilisieren werden, ist die, dass Schulen insbesondere nach praktisch wirkenden Pädagog:innen benannt sind, die wiederum mit alternativen Vorstellungen von Schule verknüpft sind, welche in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion unter dem Oberbegriff der Reformpädagogik zusammengefasst werden. Diese These ist als Ergänzung zur allgemeinen – und mittlerweile für z. B. Schulnamen in Rumänien vollständig empirisch gesicherten6 – Annahme zu verstehen, dass insbesondere die Erinnerungskultur des Nationalstaats mitsamt identitätsstiftender Narrative in der Bezeichnung von Institutionen im öffentlichen Raum Form findet. Wir gehen davon aus, dass in Deutschland neben dieser Form der Erinnerung auch eine daran anschließende spezifische Erinnerung an die Geschichte der Pädagogik erfolgt, die zwar Ähnlichkeiten zur erinnerten Geschichte des Nationalstaats aufweist, aber dann doch eine andere ist.

Auf diese Art reproduzieren die Schulnamen in Deutschland auch disziplinäre Sichtbarkeitsregime.7 Sie tragen im öffentlichen Raum einerseits zu einer Stabilisierung und Homogenisierung der Wahrnehmung der Geschichte der Pädagogik bei, denn strittige Fälle – streitbare Pädagog:innen, als problematisch markierte Konzepte etc. – tauchen in der Gesamtheit der Schulnamen nur selten auf. Andererseits werden mit Regelmäßigkeit aber auch Pädagog:innen erwähnt, die in der Geschichte der Pädagogik wohl eher als Außenseiter:innen oder zumindest als Randerscheinungen gelten müssen, im öffentlichen Raum der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen aber einen festen Platz haben. Ein prominentes Beispiel ist Janusz Korczak, der im Bundesland Thüringen drei Schulen und deutschlandweit auch anderen Bildungseinrichtungen seinen Namen leiht.

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