{"title":"Editorial – Gender und Kritik","authors":"R. Brucher, Jenny Schrödl","doi":"10.1353/fmt.2021.0002","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Verschiedene Auseinandersetzungenmit der Kategorie ‚Geschlecht‘ in den szenischen Künsten in Gegenwart und Geschichte verstehen sich selbst als kritisch oderwerdenmit dem Anspruch verbunden, hegemoniale Normen von Geschlechtlichkeit zu durchbrechen oder zu unterminieren. Die Strategien und Formen der Kritik sind äußerst heterogen und reichen von sogenannten Genderperformances – etwa in Form von Geschlechter-Parodie, Maskerade oder Cross-Dressing – über inhaltliche Auseinandersetzungen, sprachliche oder ästhetische Prozesse der Dekonstruktion, bis hin zu Figuren des Dritten, wie etwa Cyborgs oder Monster. Ebenso vielfältig sind die Gegenstände der Kritik, die bestimmte dominierende Bilder von Weiblichkeit, Männlichkeit oder Geschlechtlichkeit ebenso einschließen wie Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität bzw. Heteronormativität, Ungleichheiten oder Diskriminierungen bzw. Privilegierungen. Häufig betreffen sie neben Gender auch andere Identitätskategorien (race, class, age, dis/ability etc.). Zudem werden im Zuge dieser kritischen Auseinandersetzungen alternative Formen geschlechtlich-sexuellen Seins präsentiert, die hegemonialePerspektivenkonsequentüberschreiten. In den darstellenden Künsten sind auf diese Weise diverse Möglichkeiten der Kritik an normativen Setzungen entstanden wie auch Utopien zur Überschreitung von Geschlechtergrenzen oder zu anderen Formen geschlechtlicher Existenz. Derartige geschlechtliche Inszenierungen verweisen stets auf eine konstitutive Brüchigkeit und Ambivalenz von Kritik selbst. In diesem Sinne stellt beispielsweise Judith Butler bereits in Gender Trouble fest, dass Genderperformances im Sinne von Parodie, Travestie oder Drag nicht per se als subversiv gewertet werden dürfen. „Die Parodie an sich ist nicht subversiv.“1 Zudem scheint sich Kritik immer in einem Verhältnis zur Norm bewegen zu müssen, die sie auch noch im kritischen Gestus der Verwerfung perpetuiert und so letztlich erhält. Aus diesem Grund wird vielfach von einer Krise der Kritik gesprochen. Die Modelle einer möglichen kritischen Praxis vervielfältigen sich.2 Blieb lange unhinterfragt, dass Kritik Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit und nach den Grundlagen für die Gestaltung und Veränderung von Wirklichkeit stellt und damit eine intellektuelle Distanzierungstechnik ist, so schlägt beispielsweise Bruno Latour einen anderen Kritikbegriff vor. „Der Kritiker [sic!] ist nicht derjenige, der entlarvt, sondern der, der versammelt.“3 In den Arenen der Versammlung können und sollen sich dann alle Betroffenen mit Dingen von Belang („matters of concern“) auseinandersetzen. In der Queer Theory wiederum wird kritisches Denken mehr und mehr als ein „fabulierendes Neuerfinden“4 oder Erschaffen konträrer Epistemologien5 verstanden, wobei mit der Kategorie Gender ein vielfältiges Ensemble an lebendigen, hybriden und minoritären Subjektivitäten bezeichnet wird. Kritik als imaginative Kraft ist hier nicht mehr allein theoretische Analyse, sondern ist als wirksame Praxis längst auch in den Bereich der Affekte und Emotionen vorgedrungen, der im Sinne der „Public Feelings“6 durchaus als öffentlicher Raum verstanden wird.7 Für das Theater sind all diese Dimensionen – die rationale Distanznahme, die Versammlung der Betroffenen, das minori-","PeriodicalId":55908,"journal":{"name":"FORUM MODERNES THEATER","volume":"32 1","pages":"29 - 30"},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2021-12-16","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"FORUM MODERNES THEATER","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1353/fmt.2021.0002","RegionNum":4,"RegionCategory":"艺术学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"THEATER","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Verschiedene Auseinandersetzungenmit der Kategorie ‚Geschlecht‘ in den szenischen Künsten in Gegenwart und Geschichte verstehen sich selbst als kritisch oderwerdenmit dem Anspruch verbunden, hegemoniale Normen von Geschlechtlichkeit zu durchbrechen oder zu unterminieren. Die Strategien und Formen der Kritik sind äußerst heterogen und reichen von sogenannten Genderperformances – etwa in Form von Geschlechter-Parodie, Maskerade oder Cross-Dressing – über inhaltliche Auseinandersetzungen, sprachliche oder ästhetische Prozesse der Dekonstruktion, bis hin zu Figuren des Dritten, wie etwa Cyborgs oder Monster. Ebenso vielfältig sind die Gegenstände der Kritik, die bestimmte dominierende Bilder von Weiblichkeit, Männlichkeit oder Geschlechtlichkeit ebenso einschließen wie Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexualität bzw. Heteronormativität, Ungleichheiten oder Diskriminierungen bzw. Privilegierungen. Häufig betreffen sie neben Gender auch andere Identitätskategorien (race, class, age, dis/ability etc.). Zudem werden im Zuge dieser kritischen Auseinandersetzungen alternative Formen geschlechtlich-sexuellen Seins präsentiert, die hegemonialePerspektivenkonsequentüberschreiten. In den darstellenden Künsten sind auf diese Weise diverse Möglichkeiten der Kritik an normativen Setzungen entstanden wie auch Utopien zur Überschreitung von Geschlechtergrenzen oder zu anderen Formen geschlechtlicher Existenz. Derartige geschlechtliche Inszenierungen verweisen stets auf eine konstitutive Brüchigkeit und Ambivalenz von Kritik selbst. In diesem Sinne stellt beispielsweise Judith Butler bereits in Gender Trouble fest, dass Genderperformances im Sinne von Parodie, Travestie oder Drag nicht per se als subversiv gewertet werden dürfen. „Die Parodie an sich ist nicht subversiv.“1 Zudem scheint sich Kritik immer in einem Verhältnis zur Norm bewegen zu müssen, die sie auch noch im kritischen Gestus der Verwerfung perpetuiert und so letztlich erhält. Aus diesem Grund wird vielfach von einer Krise der Kritik gesprochen. Die Modelle einer möglichen kritischen Praxis vervielfältigen sich.2 Blieb lange unhinterfragt, dass Kritik Fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit und nach den Grundlagen für die Gestaltung und Veränderung von Wirklichkeit stellt und damit eine intellektuelle Distanzierungstechnik ist, so schlägt beispielsweise Bruno Latour einen anderen Kritikbegriff vor. „Der Kritiker [sic!] ist nicht derjenige, der entlarvt, sondern der, der versammelt.“3 In den Arenen der Versammlung können und sollen sich dann alle Betroffenen mit Dingen von Belang („matters of concern“) auseinandersetzen. In der Queer Theory wiederum wird kritisches Denken mehr und mehr als ein „fabulierendes Neuerfinden“4 oder Erschaffen konträrer Epistemologien5 verstanden, wobei mit der Kategorie Gender ein vielfältiges Ensemble an lebendigen, hybriden und minoritären Subjektivitäten bezeichnet wird. Kritik als imaginative Kraft ist hier nicht mehr allein theoretische Analyse, sondern ist als wirksame Praxis längst auch in den Bereich der Affekte und Emotionen vorgedrungen, der im Sinne der „Public Feelings“6 durchaus als öffentlicher Raum verstanden wird.7 Für das Theater sind all diese Dimensionen – die rationale Distanznahme, die Versammlung der Betroffenen, das minori-