{"title":"它有关于老霍夫曼的口述历史的记录。","authors":"Mathias Grote, Anke te Heesen, Dieter Hoffmann","doi":"10.1002/bewi.202300029","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>Dieter Hoffmann (*1948) studierte Physik an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und promovierte 1975 ebendort. Zwischen 1976 und 1990 war Hoffmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Wissenschaftsgeschichte am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaften an der Akademie der Wissenschaften der DDR. In den 1990er Jahren führten ihn Gastaufenthalte nach Harvard, New York und Cambridge. Zwischen 1995 und 2014 war Hoffmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin. Daneben fungierte er zwischen 1991 und 2011 als Vorsitzender des Fachverbands Geschichte der Physik in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), die ihn 2010 mit der Ehrennadel der DPG ehrte. Im gleichen Jahr wählte ihn die Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften, zu ihrem Mitglied; 2020 erhielt er den renommierten Abraham-Pais-Prize for History of Physics der American Physical Society.</p><p><b>Anke te Heesen (AtH</b>): Zu Beginn möchten wir Dich fragen, wie Du zur Wissenschaftsgeschichte gekommen bist: Du hast Physik studiert, bist dann aber relativ schnell in die Wissenschaftsgeschichte gegangen, oder?</p><p><b>Dieter Hoffmann (DH)</b>: Na gut, das hängt mit meinem Leben und auch mit meinem sozialen Hintergrund zusammen. Ich wurde in einer Familie groß, die in ihren Grundsätzen nicht pro-DDR, sondern dezidiert pro-westlich war – anti-DDR wäre wohl etwas übertrieben. Mitte der 1950er Jahren hatten meine Eltern auch mit dem Gedanken gespielt, in den Westen zu gehen, und wir waren zur „Sondierung“ zu meinem Onkel ins Ruhrgebiet gefahren, doch wurde man mit den Rheinländern nicht „warm“, so dass wir wieder nach Hause fuhren; letztendlich haben meine Eltern wohl die zweite Fluchterfahrung innerhalb eines Jahrzehnts gescheut, denn 1945 war man aus Schlesien vertrieben worden und hatte sich inzwischen in (Ost-)Berlin eine bescheidene Existenz aufgebaut.</p><p>Wenn ich im Westen großgeworden wäre, hätte ich wahrscheinlich Geschichte oder Philosophie studiert. Das wollte ich in der DDR nicht, weil damit sofort politische Implikationen verbunden gewesen wären. Für diese Fächer war, mehr oder weniger, die <i>conditio sine qua non</i>, Parteimitglied zu werden. Eine Generation später, in den 1980er Jahren, gab es da schon Ausnahmen. In meiner aber wurde erwartet, dass man Mitglied der SED wird, und das wollte ich nicht, zumal man das in unserer Familie eben nicht tat.</p><p>Ich war kein Wunderkind, aber ich war ein ziemlich guter Schüler und nicht zuletzt in den Naturwissenschaften stark. Bereits mit dreizehn, vierzehn Jahren hatte ich mich für Einstein begeistert. So bin ich „auf den Spuren von Einstein“ mit dem Fahrrad durch die Mark gefahren, unter anderem zum Sommerhaus Einsteins in Caputh, wo ich mich wunderte, dass in einer solchen Bruchbude – so jedenfalls das Erscheinungsbild des Hauses Mitte der 1960er Jahre – ein Genie wie Einstein gelebt haben soll. Es lag nah, Physik zu studieren, was mit weniger gesellschaftlichen oder gesellschaftspolitischen Restriktionen und Anpassungen verbunden war. Allerdings merkte ich relativ schnell, dass mich das „Was“ mehr interessierte, als das „Wie“. Als ich dann in die Diplomphase meines Physikstudiums kam, schaute ich mich nach Alternativen um. Gerade die Arbeiten von Friedrich Herneck<sup>1</sup> zu Einstein, die ich schon als Oberschüler gelesen hatte, begeisterten mich, hatten mich im Übrigen für das Physikstudium motiviert. Ich ging deshalb zu Herneck, das muss so 1970/71 gewesen sein, und fragte, ob ich bei ihm Assistent werden könne. Er antwortete mir, dass ihn das freuen würde, in der aktuellen Phase der Hochschulreform aber nicht zu realisieren sei. Es würde ja alles umstrukturiert und seine künftige Stellung sei unklar, zumal er auch kurz vor der Emeritierung stehe. Mit der anstehenden Gründung der Sektion „Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsorganisation“ an der Humboldt-Universität fühlte er sich wohl auch inhaltlich aufs Abstellgleis gesetzt. Obwohl Herneck überzeugter Kommunist war, zählte er zu den „Gefallenen“, denn seine quellenbezogene Beschäftigung mit Ernst Mach während der sogenannten „Tauwetterperiode“ Mitte der 1950er Jahre hatte ihm den Vorwurf des Revisionismus eingebracht und fast zu seiner Entlassung aus dem Hochschuldienst geführt. Herneck war also umstritten und von seiner Persönlichkeit her auch polarisierend, was seine Integration in die neuen Strukturen und die Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit wohl zum Problem machte. Wie er mir einmal sagte, fühlte er sich in dieser Zeit als <i>persona ingrata</i>. 1974 wurde er fristgemäß emeritiert, doch hat er noch meine Promotion mitbetreut, so dass er zu meinen maßgeblichen akademischen Lehrern gehört. Bis zu seinem Tod 1993 blieb ich mit ihm in engem Kontakt. 1989 hat er sogar noch für meine Habilschrift („Dissertation B“) über Ernst Mach das Zweitgutachten verfasst, obwohl er zu der Zeit schon fast erblindet war und meine Tochter ihm den Text vorlesen musste.</p><p>Herneck war es, der mir empfahl, Kontakt mit den Philosophen der Universität und namentlich mit Hermann Ley<sup>2</sup> und Karl-Friedrich Wessel<sup>3</sup> – einem anderen seiner wenigen Schüler – aufzunehmen. Bei ihnen gebe es ein Promotionsprogramm, das sehr breit angelegt sei und dessen Aufgabe es sei, die Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie und Weltanschauung im Denken und Handeln der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz zu verankern und diese so zu Bündnispartnern der Weltrevolution zu machen. Nun, ich und mit mir gleich noch ein paar meiner Kommilitonen, die sich für die „Philosophischen Probleme der Naturwissenschaften“ interessierten, folgten dem Rat Hernecks. Wir wurden prompt mit offenen Armen empfangen und man stellte uns ein Forschungsstudium in Aussicht. Auch wenn mir mein Diplomvater in der Physik eine Mitarbeiterstelle mit Promotionsmöglichkeit in seiner Arbeitsgruppe bei der Akademie angeboten hatte, wechselte ich so nach dem Diplom zur Wissenschaftsgeschichte bzw. -philosophie und beschäftigte mich in den folgenden drei Jahren vor allem mit der Geschichte der Halbleiterphysik. Meine Forschungen sollten zeigen, wie physikalisches Wissen sich in eine unmittelbare Produktivkraft (ein damals unter DDR-Gesellschaftswissenschaftlern heiß diskutierter Begriff) verwandelt und mit der Entwicklung des Transistors die wissenschaftlich-technische Revolution angetrieben hat. Im Herbst 1976 habe ich meine Dissertation verteidigt.</p><p>Nun stand die Frage im Raum, wie es weitergeht. Die Möglichkeiten waren überschaubar, zumal ich auch in Berlin bleiben wollte, denn die DDR war ja ein streng zentralistisches Land, und in solchen Ländern spielt die Musik eben in der Hauptstadt. Da ich zudem in der wissenschaftlichen Forschung bleiben wollte, standen eigentlich nur die HU und die Akademie der Wissenschaften zur Auswahl. Die frühen 1970er Jahre waren ja die Zeit der „III. Hochschulreform“ und der Gründung der Sektionen anstelle der bisherigen Instituts- und Ordinarienstruktur. Um 1970 war an der HU eine Sektion „Wissenschaftstheorie und -organisation“ gegründet worden, mit einer wissenschaftshistorischen Forschungsgruppe. Die hat Günter Wendel<sup>4</sup> geleitet, den ich mal etwas locker so charakterisieren würde: Er hatte eine Promotion über die Gründungsgeschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft geschrieben, die ganz gut war und heute noch lesenswert ist, doch war er in seinem Auftreten ein strammer Dogmatiker und Stalinist, der viele Jahre im Parteiapparat tätig und dort sozialisiert worden war. Alles, was er wissenschaftlich sagte und praktizierte, wurde an der marxistisch-leninistischen Ideologie oder an den Parteibeschlüssen gespiegelt. Er und wohl auch andere Mitarbeiter der Gruppe bzw. der Sektion wollten so einen wie mich nicht. Weit entfernt, ein Dissident zu sein, war ich für solche Parteisoldaten zu wenig angepasst und rechtgläubig: Ich war kein Genosse, sagte klipp und klar, was ich von den „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ hielt, denen ich auf keinen Fall beitreten wollte und lief damals in einem Parka herum.</p><p><b>Mathias Grote (MG)</b>: Woraus bestand eine „Kampfgruppe“ in diesem Zusammenhang?</p><p><b>DH</b>: Na, das waren paramilitärische Einheiten der SED, die aus der Erfahrung des 17. Juni 1953 gegründet, im Notfall mit der Waffe in der Hand die DDR gegen die „Konterrevolution“ hätten verteidigen sollen – am 13. August riegelten sie zum Beispiel die Grenze zum Westen ab und sicherten den Bau der Mauer; in der sich zuspitzenden Krise der DDR, also 1988/89, übten sie auch den Ernstfall und das Auflösen von Demonstrationen. Da wurden alle SED-Genossen hineingepresst und gedrillt, aber auch solche vermeintlich „parteilosen Genossen“ wie ich sollten so diszipliniert werden. Am Akademie-Institut war ich wohl lange Zeit der einzige wissenschaftliche Mitarbeiter, der nicht in der Partei war – sieht man mal von den „Gefallenen“ ab, die wegen Revisionismus oder anderer Häresien aus der Partei geflogen waren. An der Uni war das alles noch schärfer als an der Akademie mit ihrer Nischenfunktion für solche bunten Vögel wie mich. Da wurde im Grunde das genau verlangt, dieses …</p><p><b>AtH</b>: … Bekenntnis.</p><p><b>DH</b>: Ja genau, dieses Bekenntnis, dass es eine Ehre und Pflicht war, sich vier oder fünfmal im Jahr am Wochenende die Kalaschnikow überzuhängen und in Sturmausrüstung durch den Märkischen Wald zu robben. Das alles hatte natürlich auch eine folkloristische Seite, denn am Abend wurde gegrillt, viel getrunken und sich im Witze-Erzählen, aber auch im allgemeinen Meinungsaustausch geübt, was es gestandenen Professoren oder kontemplativ veranlagten Wissenschaftlern wohl erleichtert hat, die Disziplinierungsexerzitien zu ertragen. Aber das ist eine andere Geschichte.</p><p>Wie gesagt, man wollte mich nicht an der Uni. Da hätte ich ja anderen mit meiner Kampfgruppen-Phobie ein Vorbild sein und vor allem als Dozent Studenten vom Pfad der sozialistischen Tugend abbringen können. Es gab glücklicherweise an der Akademie noch das „Institut für Theorie und Organisation der Wissenschaft“, ab 1975 dann „Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft“. Hubert Laitko<sup>5</sup>, der meine Promotion mitbetreut hatte, war zu dieser Zeit mit dem Aufbau einer Gruppe „Wissenschaftsgeschichte“ betraut worden, um die Wissenschaftsforschung gewissermaßen empirisch durch wissenschaftshistorische Untersuchungen zu flankieren. Laitko, der mein wichtigster akademischer Lehrer wurde, stammte ebenfalls aus der „Ley-Schule“ und gehörte zu ihrer ersten Generation; ich war Spross der zweiten, zeitlich wie qualitativ. Interessant ist, dass viele Doktoranden von Hermann Ley später in der Wissenschaftsforschung reüssierten.</p><p>Ich wurde nicht ganz zufällig zu einem Kolloquiumsvortrag ins Akademieinstitut eingeladen, um über meine Promotion vorzutragen, zu dem auch Günter Kröber<sup>6</sup> als Direktor kam. Alles war damals noch relativ klein und überschaubar sowie in flachen Hierarchien strukturiert – ähnlich wie dann auch in den Anfangsjahren am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG). Der Vortrag schien gefallen zu haben, denn mir wurde unmittelbar danach angeboten, Mitarbeiter des Instituts zu werden; zunächst mit einem Dreijahresvertrag, der dann problemlos in eine Dauerstelle umgewandelt wurde. Damit war ich glücklich in der Akademie gelandet und in der Gruppe Laitko für die Physikgeschichte verantwortlich, später zusammen mit Horst Kant<sup>7</sup>.</p><p><b>MG</b>: Was war 1975 der Hintergrund der Gründung des Bereichs Wissenschaftsgeschichte am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der DDR?</p><p><b>DH</b>: Man erkannte sehr schnell, dass diese Wissenschaftstheorie – oder Wissenschaftsforschung, von dem Begriff redete man damals aber nicht so viel – nicht bloß Soziologie oder Theorie, also in diesem Sinne Wissenschaftsphilosophie war, sondern eine empirische Basis in Gestalt der Wissenschaftsgeschichte benötigte. Dazu sollten Sie aber besser Laitko fragen, denn er war der theoretische Kopf des Instituts. In seiner Bescheidenheit oder Zurückhaltung sagte er das nie so, aber viele merkten das. Nicht Günter Kröber als Direktor, sondern er war der Ideengeber für vieles am Institut – so sehe ich das jedenfalls.</p><p><b>AtH</b>: Ein Ideengeber für die historische Dimension?</p><p><b>DH</b>: Dies sicher auch, doch war er eigentlich immer Generalist und wissenschaftlich sehr breit aufgestellt. Zum Beispiel geht auf ihn und Martin Guntau<sup>8</sup>, einen alten Freund aus der Zeit am Ley-Lehrstuhl, das Projekt „Disziplingeschichte“ zurück, das unserer Gruppe einige nationale wie internationale Aufmerksamkeit bescherte und sicher zu ihren bleibenden Leistungen gehört. Guntau war Geologiehistoriker und ein international hochgeachteter Wissenschaftler.</p><p><b>AtH</b>: Mir sind die Veröffentlichungen von Guntau durch das Museum für Naturkunde Berlin ein Begriff, wie ging es mit ihm weiter?</p><p><b>DH</b>: Nach seiner Promotion bei Ley kehrte er an die Bergakademie in Freiberg zurück, wo er studiert hatte und sich zu einem international anerkannten Geologiehistoriker profilierte. Nach der Habilitation baute er ab Mitte der 1970er Jahre an der Universität Rostock einen Bereich Wissenschaftsgeschichte auf, der zu den wichtigen Forschungszentren in der DDR zu zählen ist. Sein Wechsel nach Rostock hatte zudem damit zu tun, dass damals an fast allen Hochschulen der DDR Lehrstühle der Geschichte der Naturwissenschaften für die Lehrerausbildung vorgehalten werden mussten.</p><p><b>MG</b>: Was ebenso wie das Programm an der Universität, in dem Sie promovierten, dazu dienen sollte, den Marxismus in die Naturwissenschaften hineinzubringen …</p><p><b>DH</b>: Nicht ganz, denn in Berlin hatte das noch eine eigenständige Komponente. Hier gab es eine wissenschaftshistorische Tradition, die bis in die 1920er Jahre zurück reicht – ich meine das Institut für die Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften mit dem Medizinhistoriker Paul Diepgen<sup>9</sup> als Institutsdirektor und dem Orientalisten Julius Ruska<sup>10</sup>, der die Naturwissenschaftsgeschichte vertrat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Tradition dann durch Alexander Mette<sup>11</sup>, Dietrich Tutzke<sup>12</sup> und eben Friedrich Herneck fortgeführt. Das war, glaube ich, eine wirkmächtigere Tradition, auf die dann der wissenschaftspolitische Wunsch bzw. die ideologische Zielstellung aufgesetzt wurde, eine dezidiert marxistische Geschichte der Naturwissenschaften zu betreiben.</p><p>Dennoch war das Institut sehr klein. Herneck hatte bestenfalls einen Assistenten, sonst nichts. Und vielfach – das ist die internalistische Tradition, die institutionell mit der Wende fast ganz verlorengegangen ist an der Uni – gab es auch an den einzelnen Fachbereichen Naturwissenschaftler, die sich für Geschichte interessierten. Wogegen andere Universitäten nicht auf einer wissenschaftshistorischen Tradition aufbauen konnten – in Rostock, wohin Guntau ging, vielleicht auf das Wirken des Philosophen Heinrich Vogel, der dort in den frühen 1970er Jahren einen interdisziplinären Arbeitskreis für Philosophische Probleme der Naturwissenschaften aufgebaut hatte. Für Rostock wurde per Dekret des Ministeriums verfügt: „Wir gründen jetzt da was, und der Herr G. sollte es dann in diesem Rahmen leiten.“ Die DDR war ja ein zentralistischer Staat, da konnte der Minister sagen: „Der Herr von da geht dort hin.“ Das musste zwar noch konkret abgesprochen werden, doch wer will nicht Professor oder Dozent werden und etwas Neues aufbauen? Das war – etwas holzschnittartig skizziert – die Gründungsphase der professionellen marxistisch-leninistischen Wissenschaftsgeschichte in der DDR, wobei neben Berlin vor allem Leipzig mit dem traditionsreichen Sudhoff-Institut zu den gesetzten Zentren gehörte.</p><p>Ob wir als Akademieinstitut im Vergleich zur Humboldt-Universität die Besseren waren, dazu möchte ich aus Befangenheit nichts sagen. Zumindest waren wir breiter aufgestellt, obwohl es an der Universität auch Forschungsrichtungen gab, die bei uns am Institut weniger – quantitativ wie qualitativ – gepflegt wurden. Ich denke da zum Beispiel an die kybernetischen Arbeiten von Klaus Fuchs-Kittowski<sup>13</sup>, auch ein Ley-Schüler.</p><p><b>AtH</b>: Wer gehörte denn in der HU zur wissenschaftshistorischen Gruppe?</p><p><b>DH</b>: Hannelore Bernhardt<sup>14</sup> machte Mathematikgeschichte, Hartmut Scholz<sup>15</sup> Chemiegeschichte, Ulli Sucker<sup>16</sup> Biologiegeschichte und um 1980 komplettierte dann Reinhard Siegmund-Schultze<sup>17</sup> aus Leipzig bzw. Halle die Gruppe als Mathematikhistoriker; in den späten 1980er Jahren kam noch Ralph-Jürgen Lischke<sup>18</sup> dazu, der sich mit Friedrich Althoff beschäftigte und dazu kurz vor der Wende promoviert wurde. Das waren die tragenden Säulen von Wendels Truppe; es gab dann wohl noch zwei, drei Leute, deren Namen ich vergessen habe, die Teil der Marx-Engels-Werkausgabe waren. Auch Universitätsgeschichte wurde betrieben. 1985 stand ja das 175-jährige Universitätsjubiläum vor der Tür, doch das Projekt ist total gescheitert, weil der dafür verantwortliche Kollege unfähig war – der Name ist mir entfallen …</p><p><b>AtH</b>: … wie praktisch …</p><p><b>DH</b>: Na ja, da die gesamte Sektion nach 1990 abgewickelt wurde, standen alle auf der Straße – eigentlich sind nur Hannelore Bernhardt als Vorruheständlerin und Reinhard Siegmund-Schultze, der nach mehrjähriger Durststrecke einen Ruf nach Kristiansand in Norwegen erhielt, im Fach geblieben.</p><p><b>AtH</b>: Wie sah das Verhältnis der beiden Gruppen aus, war es durch Konkurrenz oder Kooperation geprägt?</p><p><b>DH</b>: Persönlich war das Verhältnis einvernehmlich, doch gab es natürlich eine Konkurrenz zwischen uns, und an Kooperationsvorhaben kann ich mich nicht erinnern. Die Situation der Akademie war ganz ähnlich wie die der Mitarbeiter der Max-Planck-Gesellschaft heute: Für uns gab es kaum Möglichkeiten, an der Uni Vorlesungen zu halten. Die dortigen Leute hatten natürlich Vorrang. Heutzutage ist das ja nicht viel anders. Laitko war allerdings umtriebig und hilfreich. Er achtete sehr darauf, dass wir uns auch in dieser Hinsicht entwickeln konnten und setzte dafür seine Beziehungen ein – heute würde man wohl von Netzwerken sprechen. Beispielsweise wurde sein gutes Verhältnis zu Dorothea Goetz<sup>19</sup> genutzt, indem wir sie hin und wieder in der Lehre vertreten und so Lehrerfahrungen sammeln konnten. Auch wurde mit Laitkos alten Freunden vom Ley-Lehrstuhl, die inzwischen republikweit Professuren bekleideten, in dieser Weise kooperiert. So habe ich mehrmals an der Verkehrshochschule Dresden Vorlesungen zu physikhistorischen Themen gehalten; dass man sich dabei ein paar Groschen hinzuverdienen konnte, war im Übrigen auch nicht zu verachten. Das waren aber mehr individuelle Sachen. Solche Lehraufträge sind nie formalisiert oder institutionalisiert worden. Das ist uns 1990 dann gehörig auf die Füße gefallen, weil man sagte: „Ihr seid zwar gut, aber Ihr habt keine Lehrerfahrung.“ Für bestimmte Anstellungen wurden wir deshalb absichtsvoll gar nicht berücksichtigt.</p><p><b>MG</b>: Ich würde gerne nochmal auf den Organisationsbegriff zu sprechen kommen, der im Namen beider Institute steckt. Was verbarg sich für eine Agenda oder für ein Ziel hinter diesem Begriff und wie ging man in der Praxis mit dem Thema „Wissenschaftsorganisation“ um?</p><p><b>DH</b>: Das kann ich nicht so richtig sagen, in meiner Wahrnehmung war die „Wissenschaftsorganisation“ ein Kind der Ulbricht-Ära. Ulbricht war zwar ein eiskalter Machtpolitiker, doch waren Wissenschaft und Technik und deren Vertreter bei ihm positiv konnotiert, war er doch im Milieu der Arbeiterbildungsvereine groß geworden und zeigte so für Wissenschaft und Gelehrte einen gewissen Respekt, zuweilen sogar Hochachtung. Bei Honecker war das ganz anders, er und sein Parteiapparat waren in hohem Maße intellektuellenfeindlich eingestellt, das waren für ihn eigentlich alles „Eierköppe“, denen man prinzipiell misstraute. In den späten 1960er Jahren wollte man mittels heuristischer Ansätze und Methoden alle Mängel und Probleme, die es in der DDR-Gesellschaft und nicht zuletzt bei der Organisation von Wissenschaft und Technik gab, optimieren oder gar lösen. Das ist meiner Ansicht nach einer der Pfade, die zur Institutionalisierung der Wissenschaftswissenschaft in der DDR führen. Vielleicht kann man hier vom praktischen oder angewandten Zweig der Wissenschaftsforschung sprechen. Und hinzu kam sowas wie der Studiengang „Wissenschaftsorganisation“; das waren Leute, die in Institutionen die rechte Hand des Direktors wurden … Aber ich kenne mich mit all dem nicht so aus, da müsst Ihr andere fragen.</p><p>Und ehrlich gesagt, mich hat das alles kaum interessiert und tangiert. Die Wissenschaftsforschung, die ich erlebte, fand ich viel zu politisch und von Ideologie getrieben. Auch fühlte ich mich in den am Institut geführten Diskussionen unwohl und blieb weitgehend – eigentlich bis heute – in einer ganz „stinknormalen“ oder als etwas altmodisch zu charakterisierenden Wissenschaftsgeschichte, die nicht mal dezidiert internalistisch war. Mich interessierten Institutionen, Personen, Entdeckungsgeschichten in ihrer Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Zeit, aber nicht unbedingt als Helden des Sozialismus. Damit fühlte ich mich in der Tradition von Friedrich Herneck. Im Westen zählten anfangs zu meinen Vorbildern Armin Hermann<sup>20</sup> oder Robert Jungk<sup>21</sup> mit seinem Buch <i>Heller als Tausend Sonnen</i>.<sup>22</sup> Auch Fritz Kraffts<sup>23</sup> Arbeiten zur Entdeckungsgeschichte der Kernspaltung und der Rolle Fritz Strassmanns oder zur Entwicklung des Selbstverständnisses der Physik<sup>24</sup> habe ich gelesen; natürlich habe ich damals – und ich spreche von den 1970er und frühen 1980er Jahren auch Bernals <i>Wissenschaft in der Geschichte</i> oder Kuhn studiert, wobei mir bei letzterem weniger die <i>Struktur wissenschaftlicher Revolutionen</i> wichtig war, sondern sein Buch <i>Black Body Theory and the Quantum Discontinuity 1894–1912</i>.<sup>25</sup> Das Buch hat mich so beeindruckt, dass ich es mir bald über private Kanäle beschafft habe – das war eine wirkliche Anschaffung, nicht nur intellektuell gesehen, sondern nicht zuletzt pekuniär, denn der (illegale) Umtauschkurs der Westmark lag bei 1 : 5, das heißt bei über 100 Mark (Ost), das heißt fast 20 % meines Monatslohns waren zu investieren und gegenüber meiner Frau (und meinem Geiz) zu rechtfertigen.</p><p>Physikhistorisch fand ich im Übrigen die zweibändige Weltgeschichte des russischen Physikers Jakob G. Dorfmann anregend, weil sie einen interessanten und komprimierten Überblick zur Entwicklung der Physik von der Antike bis zum 20. Jahrhundert liefert.<sup>26</sup> Interessant war das Buch insofern, als dass es eine gute Synthese von internalistischer und externalistischer Wissenschaftsgeschichte bot – dies wohlgemerkt aus der Sicht eines „Postdocs“ in den späten 1970er Jahren. Große Teile des Buches habe ich sogar ins Deutsche übersetzt, nicht um deutsch-sowjetische Freundschaft zu zelebrieren, sondern ich wollte auf diese Weise vor allem systematisches Wissen und einen Überblick zu meinem Fachgebiet erwerben, was an einem außeruniversitären Forschungsinstitut nicht trivial ist – bis heute übrigens! Meine Übersetzungstätigkeit war natürlich auch mit der Hoffnung verbunden, vielleicht einen Verlag zu finden, was aber leider nicht in Erfüllung ging – <i>c'est la vie</i> …</p><p>In Euren aufgelisteten Fragen habt Ihr geschrieben, dass ich in meinen Arbeiten vor 1990 nicht oder nur verhalten ideologisch argumentiere, was einen im Nachhinein freut. Es war im Übrigen damals schon von anderen bemerkt worden, denn ein inzwischen verstorbener Kollege aus dem Westen sagte mir mal: „Wenn man Sie gelesen hat, dann wusste man, Sie sind kein Bekennender.“ Obwohl ich den Mut und die Zivilcourage zum Dissidenten nicht hatte, mich weitgehend loyal verhielt und wie so viele allzu oft die Schnauze gehalten habe, wurde ich von der Stasi in die Tüte „Freigeist“ gesteckt. Es gab eben bestimmte Grenzen, die ich nicht unterschreiten wollte; grundsätzlich hatte und habe ich nichts gegen den Sozialismus, sympathisiere damals wie heute eher mit sozialistischen Idealen wie Gerechtigkeit, Solidarität und Emanzipation (Freiheit und Demokratie sowieso), nur eben nicht in der stalinistischen Form, wie er im realen Sozialismus der DDR und den anderen sozialistischen Ländern doktriniert wurde.</p><p><b>MG</b>: Vielleicht noch einen Nachtrag zum Organisationsbegriff: Passt der in die Richtung des Konzepts der „Wissenschaftswissenschaft“, das, soweit ich das weiß, aus der sowjetischen Forschung stammt und eine theoretische Durchdringung des Funktionierens und der Organisation von Wissenschaft bezeichnet, oder ist das eine andere Debatte?</p><p><b>DH</b>: Wahrscheinlich wird das so gewesen sein. Doch was heißt Debatte, es war die Gründungs-DNA unseres Instituts, dessen intellektuelle und ideologische Wurzeln in ihren Grundsätzen wohl mehr oder weniger sakrosankt waren und das in seinem theoretischen Konstrukt von der Wissenschaftswissenschaft wohl in erster Linie den sowjetischen Diskussionen zur <i>naukovedenye</i> [Wissenschaftswissenschaft] entlehnt war. Über diese war man „aus erster Hand“ informiert, denn die Beziehungen zur Sowjetunion waren eng und dominant. Kröber zum Beispiel hatte Philosophie in der Sowjetunion studiert. In der Gründungsphase des Instituts gab es auch vielerlei und regelmäßigen Besuch von Kollegen aus dem Land des „Großen Bruders“. Ich selbst, der dort erst ab 1976 Mitarbeiter war, erinnere mich beispielsweise an mehrere Besuche von Bonifaz M. Kedrow<sup>27</sup> am Institut. Der, damals schon um die 80, war eine Art „Guru“ der sowjetischen Wissenschaftsgeschichte und -philosophie, nicht zuletzt ein alter „Bolschewik“.</p><p>Die Wissenschaftsorganisation war besonders präsent an der Uni, das hängt sicher mit der Ausbildungsfunktion der dortigen Sektion Wissenschaftstheorie und -organisation zusammen.</p><p><b>AtH</b>: Dieses Institut gibt es – in veränderter Form – nach wie vor und wurde kürzlich in ein interdisziplinäres Zentrum für Wissenschaftsforschung transferiert.<sup>28</sup> Interessant ist, dass in Gesprächen mit ehemaligen Absolventen dieses Studiengangs John D. Bernal und die Lektüre seiner Bücher in den Vordergrund gestellt wird.</p><p><b>DH</b>: Eigentlich ist die Sektion keine Vorgängerin des Zentrums, denn sie ist ja 1990 komplett abgewickelt worden, doch Bernal war so eine Art Gottvater … Ich hatte ihn schon als Physikstudent gelesen; nicht sein für die marxistische Wissenschaftstheorie so grundlegendes Buch <i>The Social Function of Science</i>, das in der DDR übrigens erst 1986 erschienen ist,<sup>29</sup> aber die voluminöse Studie <i>Die Wissenschaft in der Geschichte</i>, die seit den 1960er Jahren auch in einer DDR-Ausgabe vorlag,<sup>30</sup> das heißt problemlos zugänglich war. Allerdings habe ich ihn zunächst nicht als Antithese zur bürgerlichen Wissenschaftsgeschichte oder als Grundlage einer neuen, marxistisch verstandenen Wissenschaftsgeschichte gelesen; vielmehr als eine generalisierende Zusammenschau der Wissenschaftsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart – ähnlich wie die oben erwähnte Physikgeschichte von Dorfmann. Ich fand Bernals Buch interessant, aber nicht aufregend, und hatte als Physikstudent auch nicht den Wissensstand, um das Revolutionäre daran zu erfassen. Wann ich das begriffen habe, kann ich nicht einmal mehr sagen; ich glaube, erst nach meiner Promotion und in der Atmosphäre unseres Instituts. Hier war Bernal natürlich <i>en vogue</i>, doch ob er Gegenstand tiefgründiger und exzessiver Diskussionen war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.</p><p>Ich glaube auch, dass viele im Parteiapparat und auch unter meinen angepassten Kollegen lieber auf die sowjetische Literatur zurückgriffen. Das war ähnlich wie mit dem berühmten Aufsatz von Boris Hessen, den man erst spät in den stalinistischen Giftschränken „wiederentdeckt“ hatte, weil Hessens tragisches Schicksal als Opfer des stalinistischen Terrors orthogonal zum epistemisch revolutionären Gehalt seines Aufsatzes stand und damit schwierig umzugehen war. Es ist sicherlich ein Armutszeugnis der marxistisch-leninistischen Wissenschaftsforschung und -geschichte, dass der Nachdruck von Hessens berühmtem Vortrag „The Socio-Economic Roots of Newton's Principia“ in einem Studienband des westdeutschen Fischer Verlages publiziert wurde<sup>31</sup> und danach im Westen ein Revival erlebte;<sup>32</sup> im Osten dagegen und bei uns am Institut wurde dieses Thema nach wie vor eher unter der Hand und mehr in privaten Diskussionsgruppen diskutiert. Meines Wissens erschien erst 1990 in der (untergehenden) DDR eine umfassende Würdigung von Hessen und seinen Thesen zur wissenschaftlichen Revolution.</p><p><b>MG</b>: War Bernals Positionierung <i>vis-à-vis</i> Trofim D. Lyssenko<sup>33</sup> und Nikolai Vavilov<sup>34</sup> damals auch ein Thema?</p><p><b>DH</b>: Das waren zu meiner Zeit alles keine Tabuthemen mehr, doch es war kein <i>mainstream</i>, eher die Sache von kritischen und unangepassten Geistern, ja Außenseitern. Offiziell wollte man sich damit nicht wirklich beschäftigen, und dies aus gutem Grund, denn die Erfahrungen des 17. Juni 1953 und der kurzen „Tauwetter-Periode“ der späten 1950er Jahre, aber auch die blutige Niederschlagung der polnischen Arbeiteraufstände (1956, 1968, 1980) sowie des mit sowjetischen Panzern niedergewalzten ungarischen Volksaufstandes von 1956 und insbesondere des „Prager Frühlings“ 1968 waren im kollektiven Gedächtnis der DDR-Gesellschaft genauso fest verankert wie die rigiden Eingriffe in den Kulturbetrieb – Stichwort 11. Plenum (1965) – oder die restaurativen Tendenzen unter Honecker. Man wusste, es kann sehr schnell wieder anders, repressiver und intoleranter werden; andererseits war der „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten“ klar, dass die Beschäftigung mit solchen Themen sehr schnell die „Leichen im Keller“ des Sozialismus und die unter der Decke gehaltenen gesellschaftlichen Widersprüche offenbaren würde.</p><p>Die Lebensgeschichte meines akademischen Lehrers Friedrich Herneck ist dafür im Übrigen ein gutes Beispiel. In den späten 1950er Jahren war er im Zusammenhang mit seinen Forschungen zu „fortschrittlichen und atheistischen Wissenschaftlern“ auf ein autobiographisches Manuskript des österreichischen Physikers und Wissenschaftsphilosophen Ernst Mach gestoßen und hatte dieses in einer kommentierten Fassung publiziert. In der Wahrnehmung dogmatischer Kollegen und des stalinistisch geprägten Parteiapparats hatte er dabei aber die nötige „revolutionäre Wachsamkeit“ vermissen lassen, war doch Mach durch Lenins Streitschrift <i>Materialismus und Empiriokritizismus</i> als Revisionist entlarvt und quasi unter Bann. Herneck geriet so als überzeugter Kommunist, der am Ethos wissenschaftlicher Forschung festhielt, in die Mühlen der SED-Inquisition. Er wurde als Angehöriger einer „parteifeindlichen Gruppe“ denunziert, bekam ein Parteiverfahren, das seine Entlassung aus dem Hochschuldienst forderte. Allerdings wurde er am Ende nur seiner Stellung als Dozent im Marxismus-Leninismus-Grundlagenstudium enthoben, was ihm letztendlich zum Vorteil geriet, denn er wurde mit der Vorbereitung des 150-jährigen Universitätsjubiläums der HU 1960 betraut. Von da an stieg sein Stern als Wissenschaftshistoriker, doch war er ein „Gefallener“, dem man fortan nach wie vor wegen seiner „undurchsichtigen Haltung“ misstraute und der wegen seiner ausführlichen Korrespondenz mit westlichen Gelehrten für sein Buch <i>Bahnbrecher des Atomzeitalters</i><sup>35</sup> wohl auch von den Organen der Staatssicherheit überwacht wurde. Es war nicht nur die Stasi, die einem unabhängigen Geist wie Herneck auf den Leib rückte. Es waren auch Kollegen, die indoktrinierten – so kann ich mich noch lebhaft an eine Dienstversammlung erinnern, das muss Mitte der 1970er Jahre gewesen sein, wo über Herneck hergezogen wurde, weil er in der westdeutschen Zeitschrift <i>Die Naturwissenschaften</i> eine kleine Notiz publiziert hatte.<sup>36</sup> Es könne doch nicht sein, „dass ein Professor in West-Zeitschriften publiziert!“ Solch ein Verdikt zielte natürlich nicht nur auf die vermeintliche feindliche Tätigkeit des Professor Herneck, sondern war vor allem an potentielle Nachahmer gerichtet. Beispielsweise hatte man in unserem Bereich und wohl auch im ganzen Institut bis zur Wende nicht in Westzeitschriften zu publizieren – die Ausnahmen bestimmte der Direktor. Solche Praxis war von Fachgebiet zu Fachgebiet und von Institut zu Institut unterschiedlich. So hatte ich Anfang der 1980er Jahre einmal die Idee, einen Aufsatz über Max Born und Pjotr Kapitza in einer Westzeitschrift zu platzieren und argumentierte dabei mit dem Beispiel meines Kollegen Siegmund-Schultze von der HU, der gerade einen Aufsatz in der renommierten Zeitschrift <i>Archive for History of Exact Sciences</i><sup>37</sup> publizierte hatte. Von meinem Institutsdirektor Günter Kröber oder seinem Sekretär bekam ich jedoch die freundlich formulierte, aber bestimmte Anweisung: „Nee, machst du nicht.“</p><p>Das war die Atmosphäre in einem gesellschaftswissenschaftlichen Institut; in den Natur- und Technikwissenschaften wurde sowas natürlich nicht so rigide behandelt, wenn es überhaupt jemals solche Auswüchse gegeben hat. Das Englische war dort seit jeher deutlich mehr verbreitet und akzeptiert als in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern, wo es auch aus ideologischen Gründen diskreditiert war. Als ich in meiner Dissertation (1975) englischsprachige Zitate verwenden und nicht ins Deutsche übersetzen wollte, wurde mir von einem wohlmeinenden und treuen Genossen gesagt: „Also Hoffi, man schreibt in einer philosophischen bzw. wissenschaftshistorischen Qualifikationsschrift nicht in der Sprache des Klassenfeindes.“ Ich habe es bei den englischen Zitaten belassen und es ist nichts passiert – doch wie die Sache zehn oder zwanzig Jahre früher ausgegangen wäre, das weiß ich nicht.</p><p><b>AtH</b>: Wie fand überhaupt wissenschaftlicher Austausch oder generell die Kommunikation mit westlichen Kollegen statt?</p><p><b>DH</b>: Das hatte alles nach strikten und festgefügten Regeln zu erfolgen, bei Wahrung des Primats der Politik. Auf diesem Gebiet gab es eine Art von Kastenwesen, denn die Mitarbeiter waren getrennt, in die sogenannten Reisekader, die ins Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW) reisen durften – eine Minorität, die streng nach politischen und sicherheitspolitischen Kriterien selektiert worden war –, und in die Majorität der Institutsangehörigen, die von diesem Privileg ausgeschlossen war. In unserem Bereich waren von 15 Wissenschaftlern vier oder fünf Kollegen NSW-Reisekader, ein wohl repräsentatives Verhältnis, und um ein gängiges westliches Vorurteil klar zu stellen: Reisekader waren nicht per se IMs der Staatssicherheit, denn oft waren gerade sie – aus nachvollziehbaren sicherheitspolitischen Gründen – der Stasi-Observation ausgesetzt.</p><p>Ich war kein Reisekader, und ein entsprechender Antrag wurde wohl erst in der Endzeit der DDR, als die Agonie der Macht schon groß war, in den jeweiligen Gremien des Instituts vorbereitet bzw. diskutiert. Allerdings war es mir seit Aufnahme meiner Tätigkeit an der Akademie erlaubt, in die „sozialistischen Bruderländer“ zu Tagungen oder Forschungsaufenthalten zu reisen – so war ich relativ häufig in der Tschechoslowakei, wo es mit der Tschechischen Akademie und deren Forschungsgruppe Wissenschaftsgeschichte enge Kooperationsbeziehungen gab, mehrmals in Ungarn und zweimal in Moskau, im Herbst 1983 sogar zu einem viermonatigen Aufenthalt an unserem Partnerinstitut, dem Akademieinstitut für die Geschichte der Naturwissenschaft und Technik.</p><p>Da ich nicht gen Westen reisen durfte, aber privat wie auch wissenschaftlich immer intensiv ins „Gelobte Land“ geschielt habe, versuchte ich dieses Defizit dadurch zu minimieren, dass ich mit vielen Westleuten, die ich zum Beispiel auf Tagungen in Ungarn oder der Tschechoslowakei, aber auch in Moskau, kennengelernt hatte, eine intensive Korrespondenz pflegte. Meine Briefe mussten allerdings sämtlich dem Sekretariat des Institutsdirektors vorgelegt werden; die Postordnung des Instituts (wahrscheinlich auch die der ganzen Akademie) sah vor, dass die eingehende Post aus dem NSW vom Sekretariat des Direktors geöffnet und kontrolliert wurde.</p><p><b>AtH</b>: Und die Sekretärin las die dann …?</p><p><b>DH</b>: Es war nicht die Sekretärin, es war schon jemand von dem Rang eines diplomierten oder promovierten Wissenschaftsorganisators oder ähnlicher Qualifikation; wichtig war, revolutionäre Wachsamkeit zu zeigen. Wenn der Brief etwas Erklärungsbedürftiges oder Anstößiges enthielt, wurde ich hin und wieder zum Direktor zwecks Aufklärung des Sachverhalts zitiert. Auch die ausgehende Post wurde so behandelt, wobei man einen Briefentwurf dem Direktor vorzulegen hatte, der dem Westkollegen dann schrieb: „Sehr geehrte[r] Herr/Frau! Mein Mitarbeiter Dr. Dieter Hoffmann beschäftigt sich im Rahmen seiner wissenschaftshistorischen Forschungsarbeit mit dem Problem X und würde gern Y wissen.“ Einmal wollte ich Friedrich Hund<sup>38</sup> in Göttingen zur Geschichte der Quantentheorie befragen, doch bekam ich den Briefentwurf umgehend mit der handschriftlichen Bemerkung zurück: „Dem Hund schreibe ich nicht!“ Leider habe ich diesen Brief nicht aufgehoben. Hintergrund der brüsken Ablehnung war, dass Kröber als revolutionärer FDJler oder was auch immer Hund in Jena erlebt und ihm wohl insbesondere nicht verziehen hatte, dass er 1951 der DDR den Rücken gekehrt und in den Westen gewechselt war. Republikflucht war damals eine strafbare Handlung und ein großes Sakrileg, das insbesondere bei doktrinären Kommunisten in der Zeit des Kalten Krieges über den Tod hinaus registriert und sanktioniert wurde.</p><p><b>AtH</b>: Mit anderen Worten: Du unterhieltest keine Korrespondenz mit Hund.</p><p><b>DH</b>: Doch. Ich ließ den Brief einfach von einem Freund schreiben. Dieser war Physiker und dort gab es solche strengen und unsinnigen Vorschriften nicht – sie wären dort auch nicht praktisch umsetzbar gewesen. Man konnte sich also mit etwas Phantasie und kleinen Tricks über solchen Unsinn hinwegsetzen und durchlavieren.</p><p>Die Geschichte ist im Übrigen in die zweite Hälfte der 1970er Jahre zu datieren – in den 1980er Jahren verhielt man sich auch bei uns etwas „liberaler“, aber das Kontrollsystem blieb in seinem Wesen genauso demütigend. Man durfte nun seine West-Briefe selbst adressieren und diese wurden nun nur noch von der Leiterin der Stabsstelle „Internationale Beziehungen“ und zuweilen sicher auch vom Direktor persönlich gegengelesen. Die berüchtigte Schere im Kopf verhinderte, dass es übermäßig viele Beanstandungen gab, die Einschränkungen oder Verbote zur Folge haben konnten.</p><p><b>MG</b>: Noch einmal zurück zu Kuhn. Wie habt Ihr ihn und die Debatten um die <i>Structure</i> wahrgenommen?</p><p><b>DH</b>: Kuhn wurde in der DDR relativ früh wahrgenommen. Gerhard Harig<sup>39</sup> hatte sich 1966, also noch vor der deutschen Ausgabe des Buches im Suhrkamp Verlag, in der <i>NTM</i> mit dem Kuhn'schen Paradigma-Konzept auseinandergesetzt.<sup>40</sup> Dieser Aufsatz ist – wie so manches aus dem Osten – bisher nicht in seiner Bedeutung angemessen gewürdigt worden, obwohl Wolfgang Krohn<sup>41</sup>2010 in der <i>NTM</i>-Jubiläumsschrift eine kluge Exegese von Harigs Aufsatz vorgelegt hat.<sup>42</sup> Kuhn war natürlich auch für uns eine Größe, mit der man sich am Institut auseinandersetzte – für meine Begriffe allerdings etwas einseitig und stark ideologisch durchtränkt im Rahmen einer „Kritik der bürgerlichen Philosophie“, so der Name einer Forschungsgruppe am Institut. Dort setzte man sich ebenfalls mit den Theorien von Popper, Lakatos und anderen sogenannten spätbürgerlichen Wissenschaftstheoretikern auseinander – aber immer mit dem Fokus des ideologischen Verdikts und der Besserwisserei. Bei Popper und Lakatos hatte man zudem Abstand zu halten, denn man konnte sie auf keinen Fall als „reine Gelehrte“ behandeln, galt Popper doch als Ideologe und Theoretiker der Sozialdemokratie, und Lakatos hatte im kommunistischen Ungarn als Revisionist im Gefängnis gesessen und war dann nach 1956 in den Westen emigriert. Vorsicht war angesagt. Die Analysen meiner Kollegen fanden allein schon aus diesem Grunde nicht mein besonderes Interesse, weil man am Anfang der Analyse meist erahnen konnte, was am Ende herauskommen würde – da unterhielt ich mich dann schon lieber mit Laitko oder auch mit Hans-Peter Krüger<sup>43</sup>, der mir Habermas nahe brachte, und die zu diesen Fragen deutlich profundere und differenziertere Ansichten hatten.</p><p>In den späten 1980er Jahren vollzog sich in der Beschäftigung mit diesen Fragen ein Wandel – zumindest empfand ich das so. Die Orthodoxie wurde durch Bücher wie Reinhard Moceks<sup>44</sup> <i>Neugier und Nutzen</i> oder Ulrich Rösebergs<sup>45</sup> <i>Szenarium einer Revolution</i> aufgebrochen.<sup>46</sup> Dass Moceks <i>Neugier</i> nicht nur von mir als interessant empfunden wurde, zeigt, dass in unserem Bereich in einer Art „Lesezirkel“ unter der Leitung Laitkos und der gelegentlichen Beteiligung Moceks – beide verband eine alte Freundschaft – das Buch intensiv diskutiert wurde. In diesen Büchern, mehr noch bei Röseberg, findet man auch, wenn auch etwas versteckt, Ansätze, das angelsächsische Konzept der <i>History and Philosophy of Science</i> für die eigene Forschung nutzbar zu machen. Die Ironie, um nicht von Tragik zu sprechen, ist dabei, dass diese fachlich guten und inspirierenden Kollegen mit dem politischen System und wie im Fall von Röseberg zudem eng mit der Staatssicherheit verbandelt waren. Dies hatte ihnen im Übrigen als Reisekader überhaupt erst die Möglichkeit gegeben, sich in der Welt umzutun und solche innovativen Konzepte wahrzunehmen.</p><p><b>MG</b>: Wäre das ein positives Beispiel für eine Verzahnung von Geschichte und Theorie?</p><p><b>DH</b>: In der Physikgeschichte würde ich das, wie eben erwähnt, bei Röseberg sehen; das Projekt von Guntau und Laitko zum Disziplinbegriff gehört ebenfalls hierher. Das daraus hervorgegangene Buch <i>Der Ursprung der modernen Wissenschaften</i> wurde auch im Westen gelesen.<sup>47</sup> Im Buch findet man beispielsweise einen Beitrag von Wolfgang Girnus<sup>48</sup>, der auf seine Dissertation zurückgeht, der von einem „theoretischen Überbau“ ausgehend – was ist wissenschaftstheoretisch und soziologisch unter einer Disziplin zu verstehen – die Kärrnerarbeit der Disziplinwerdung beschrieb: Welche Lehrstühle, welche Zeitschriften, welche Forschungsthemen etc. es gab. Auch von mir findet man im Sammelband einen Beitrag – eine in ihrem Ansatz ganz traditionelle Studie „Zur Etablierung der ‚technischen Physik‘ in Deutschland“ –, der zu meinen meist zitierten Aufsätzen gehört und immer noch nachgefragt wird. Das sind solche Sachen zur Verzahnung von Theorie und Geschichte, die bei uns in der Gruppe gemacht wurden.</p><p><b>MG</b>: Man könnte sich auch eine internalistische Form von Wissenschaftsgeschichtsschreibung als dialektische Begriffsgeschichte vorstellen, die in der DDR ganz gut funktioniert haben dürfte.</p><p><b>DH</b>: So etwas wurde auch gemacht. Aber das entartete sehr schnell in eine Art scholastische Debatte. Für mich jedenfalls. Solche Begriffsdialektik wurde von Laitko betrieben und von Kollegen, die durch Peter Ruben<sup>49</sup> beeinflusst waren, zum Beispiel Peter Beurton<sup>50</sup>, Bruno Hartmann<sup>51</sup> oder Renate Wahsner<sup>52</sup>, um ein paar Namen zu nennen. Meine Sache war das nicht, doch zur Kenntnis nahm man diese Dinge wohl, weil sie nicht dem marxistisch-leninistischen Kanon folgten.</p><p><b>AtH</b>: Noch einmal zurück zu den Büchern und wie Ihr an diese gekommen seid. Stimmt es, dass das in der Akademie leichter war als an der Universität?</p><p><b>DH</b>: Ja, die Beschränkungen waren an der Uni wohl etwas ausgeprägter, in der Akademie nicht so stark, zumal uns sicher auch mehr Mittel (Devisen!) zur Verfügung standen. Ich denke, dass die Literatur, die wir für unsere konkreten Forschungen brauchten, im Großen und Ganzen angeschafft oder über andere Bibliotheken beschafft werden konnte; sehr viel prekärer war die Reiseproblematik. Was die Literaturbeschaffung angeht, ließen sich mit etwas Bauernschläue und der Pflege persönlicher Kontakte sogar private belletristische Lesewünsche erfüllen. Im Haus gab es z. B. das Zentralinstitut für Literaturwissenschaften mit einer gut sortierten Bibliothek. Und da lieh ich mir zuweilen die neusten (West-)Bücher aus, faktisch kurz nachdem sie erschienen waren, zum Beispiel die <i>Jahrestage</i> von Uwe Johnson, den ich schon damals bewunderte und der in der DDR auf dem Index stand. Die Literaturbeschaffung war eigentlich institutionell geregelt, doch gab es auch private Kanäle, die toleriert wurden. Schriftsteller und Künstler, die ja meist freischaffend waren, konnten eine sogenannte Postzoll-Nummer beantragen, die verhinderte, dass der DDR-Zoll oder die Staatssicherheit Buchsendungen aus dem Westen – wie sonst üblich – beschlagnahmte, und diese dann den Adressaten nicht erreichten. Dafür brauchte man Westgeld oder eine betuchte Verwandtschaft im Westen – über beides verfügte ich nicht. Allerdings konnte man mit Westkollegen Literatur tauschen: „Ich schicke dir das Buch, Du schickst mir das.“ Für solchen Naturalienhandel musste erstmal ein geeigneter Partner gefunden werden. Da die Westpost ja kontrolliert bzw. mitgelesen wurde, durfte man auch nicht als Bittsteller auftreten, da dies den Tugenden eines sozialistischen Menschen und erst recht dem Verhaltenskodex eines Akademiemitarbeiters widersprach. Insofern war es auch in diesem Falle von Vorteil, wenn man Reisekader war, denn so war es einfacher, kollegiale Freundschaften zu schließen und Buch-Deals anzubahnen. Da ich nicht dieser Kaste angehörte, pflegte ich einen recht intensiven Briefverkehr, zum Beispiel mit Andreas Kleinert<sup>53</sup> in Hamburg. Diesen hatte ich auf dem Wissenschaftshistoriker-Kongress in Bukarest im Sommer 1981 getroffen, und wir sind bis heute in engem Kontakt.</p><p>Ich habe ihm damals auch bei Archivrecherchen geholfen, was bei einem Westler nicht trivial war, denn man agierte da in einem Graubereich (illegale Nachrichtenbeschaffung!), der sehr schnell kriminalisiert werden konnte. Denn die Weitergabe von Informationen an West-Kollegen, wozu auch Archivmaterial gehörte, war allein schon durch die Nutzungsordnung untersagt.</p><p><b>MG</b>: Gab es da institutionalisierte Foren wie regelmäßige Tagungen oder Treffen, wo man wusste, dass sich dort vielleicht Begegnungen mit Forschern aus dem westlichen Ausland ergeben?</p><p><b>DH</b>: Ja sicher, eben die schon erwähnten internationalen Konferenzen. Darüber hinaus gab es im Osten wie im Westen spezielle Foren oder Arbeitskreise, die jedoch meist nicht öffentlich bzw. deren Teilnehmer streng selektiert waren. Es gab zum Beispiel die sogenannten Jours Fixes am Institut für Gesellschaft und Wissenschaft (IWG) der Uni Erlangen, oder auch regelmäßige Treffen im österreichischen Deutschlandsberg. Da kamen aber nur die geprüften Reisekader hin. Mir (und natürlich auch anderen) blieb es vorbehalten, auf Tagungen nach Budapest oder Prag zu fahren. Die Beziehungen mit Prag waren besonders eng, und dort erinnerte vieles an die DDR – nach 1968 war alles streng „durchherrscht“ und auf Parteilinie gebracht worden. Wohingegen in Ungarn der reale Sozialismus deutlich „liberaler“ daherkam und man sehr viel mehr Westleute treffen konnte; in Polen sowieso. Die Polen schauten aber immer über uns hinweg, gleich bis nach Westberlin oder bis nach …</p><p><b>AtH</b>: … Frankreich.</p><p><b>DH</b>: Frankreich, oder auch nach Westdeutschland. Obwohl ich ein relativ romantisches Verhältnis zu Polen habe (dorthin ging als junger Oberschüler meine erste Auslandsreise, wo ich nicht nur ein aufmüpfiges Volk, sondern den Jazz und die moderne Kunst in Gestalt von „Nägeln in Brettern“ entdeckte), gelang es mir nie, wissenschaftliche Beziehungen zu dortigen Kollegen aufzubauen. In meiner Wahrnehmung gab es dort auch nicht so eine breite Wissenschaftsgeschichte wie bei uns oder in der Tschechoslowakei; natürlich forschte man sehr viel über Copernicus oder zur polnischen Wissenschaftsgeschichte.</p><p><b>MG</b>: Ich hake hier nochmal nach. In den Naturwissenschaften fanden ja durchaus zum Beispiel Jahrestagungen von Fachgesellschaften, Biochemie oder so etwas, in Prag statt, da gab es also einigen Austausch. Offensichtlich funktionierten diese teilweise über die <i>International Unions of Science</i> organisierten Gesellschaften über den Eisernen Vorhang hinweg. Gab es Vergleichbares im Bereich Wissenschaftsgeschichte oder Wissenschaftsforschung?</p><p><b>DH</b>: Das wüsste ich jetzt nicht, in den Naturwissenschaften natürlich. Es hängt immer von den Leuten ab. Du sagtest gerade „Prag“ und „Biochemie“. In Prag war Soňa Štrbáňová.<sup>54</sup> Das ist eine Biochemikerin, die sehr anerkannt ist – sie lebt ja noch, ist inzwischen fast 90 und immer noch aktiv –, die viele internationale Beziehungen hatte. Die Leute aus dem Westen kamen ja nicht aus Freundlichkeit ins vermeintliche „Sibirien“, die wollten ja neben Gulasch und Pilsner Urquell insbesondere intellektuell etwas geboten bekommen bzw. lernen. Das heißt, wenn es Leute gab, die interessant waren – dies aus persönlicher Sicht, aber vor allem natürlich fachlich – dann konnte schon so etwas entstehen. In der DDR konnte ich als „Schütze Arsch“ nicht vorschlagen, bestenfalls über Bande anregen, dass dieser oder jener mal eingeladen werden sollte. Das geschah ein oder zwei Ebenen über mir, denn damit waren nicht zuletzt Fragen der politischen Großwetterlage, der Finanzierung oder inner-institutionelle Machtfragen verbunden – abgesehen von den ideologischen Prämissen. Außerdem darf man sich diese sozialistische Gesellschaft und deren Möglichkeiten nicht so vorstellen, wie wir es aus den letzten zwanzig, dreißig West-Jahren kennen.</p><p><b>AtH</b>: Ich würde gern vom Reisen und den Kontakten weg hin zu den wissenschaftshistorischen Fragen, die für euch in den 1970er Jahren wichtig wurden und für die Ihr – wenn ich Dich richtig verstanden habe – eigene Arbeitsgruppen gründetet?</p><p><b>DH</b>: Ja, und Du meinst sicherlich die „Arbeitsgruppe Physikgeschichte“. Es gab die Physikalische Gesellschaft der DDR und dort – wie überhaupt bei Physikern – war das Interesse für physikhistorische Fragen sehr groß. Diesem grenz- und systemüberschreitenden Faktum hatte man Anfang der 1970er Jahre in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft – also im Westen – Rechnung getragen und unter der Federführung des Stuttgarter Physikhistorikers Armin Hermann einen Fachverband Geschichte der Physik gegründet. Auch wenn es keine direkten institutionellen Kontakte zwischen den beiden deutschen Physikalischen Gesellschaften oder den Physikhistorikern in Ost und West gab, konnte man darüber in den <i>Physikalischen Blättern</i> lesen, die in den Fachbibliotheken auslagen (in manchen allerdings unter Verschluss). Ich sagte mir, das sollten wir eigentlich auch bei uns haben. Parallel und unabhängig von meinen Überlegungen hatte Horst Kant, der damals an der Humboldt-Universität war, eine solche Idee aus ganz anderen Kontexten heraus entwickelt und als er in den späten 1970er Jahren zu uns ans Institut kam, haben wir uns zusammengetan und nun gemeinsam das „Projekt AG Physikgeschichte“ vorangetrieben, dessen offizielle Gründung 1980 erfolgte. Wenn ich mich recht erinnere, schrieben wir einen entsprechenden Brief an den Vorstand der Gesellschaft bzw. seinen Sekretär. Zuvor hatten wir natürlich unseren Chef, Hubert Laitko, über unsere Initiative informiert, der dagegen nichts einzuwenden hatte und uns gewähren ließ. Wer weiß, wozu eine solche Kooperation nützlich sein könnte, wird er vielleicht gedacht haben, denn die Physiker stellten auch in der DDR eine mächtige Gruppe dar, die nicht nur über symbolisches Kapital verfügte. Ich und wohl auch Horst Kant dachten uns, obwohl solche Aspekte nie offen zwischen uns diskutiert oder gar in die Öffentlichkeit getragen wurden, im Windschatten der mächtigen und pragmatischen Physiker würden wir vielleicht Dinge diskutieren und möglich machen können, die bei uns am Institut nicht, oder nur schwer bzw. in von uns nicht gewünschten Koalitionen zu realisieren waren. Darüber hinaus ging es uns darum – wir waren ja beide ausgebildete Physiker –, eine Brücke zwischen der Fachphysik und ihrer Geschichte zu schlagen, was an unserem Institut natürlich nicht im Fokus des Interesses stand, aber für mein/unser Verständnis von Wissenschaftsgeschichte immer und bis heute zentral war und ist. Dabei war es für mich (wahrscheinlich auch für Horst) wichtig, die Philosophen ein bisschen auf Distanz zu halten – wir wollten sie nicht ausschalten, doch wir wollten „den Hut“ aufhaben, denn sonst hätte die Sache sehr schnell einen philosophischen „Spin“ bekommen und damit in eine prägende ideologische bzw. politische Orientierung gedrängt werden können. Das war sicher keine Form von politischem Widerstand oder Dissidenz, aber es war das Bemühen, uns intellektuelle Freiräume und auch eine gewisse Unabhängigkeit zu verschaffen.</p><p><b>AtH</b>: Und wie wurde dieses Interesse dann institutionalisiert?</p><p><b>DH</b>: Wir organisierten zunächst physikhistorische Vorträge; so drei-, viermal im Jahr. Ab 1985 wurden von uns im zweijährigen Rhythmus und wegen des gesuchten Kontakts zu den Fachphysikern parallel zu deren Jahreshaupttagungen größere „Physikhistorische Tagungen“ unter internationaler Beteiligung organisiert, wo wir Gäste aus der Sowjetunion, Ungarn, der Tschechoslowakei und auch aus den USA und der Bundesrepublik begrüßen konnten;<sup>55</sup> im Frühjahr 1991 fand schließlich in Dresden die erste gesamtdeutsche Tagung statt, zu der erfreulich viele Kollegen aus dem Westen angereist kamen; man war damals neugierig. Die Physikhistorischen Tagungen haben im Übrigen die Wiedervereinigung überlebt, was angesichts des allgemeinen Kahlschlags nicht selbstverständlich war; heute sind wir bei der 20. oder so angelangt.</p><p>Diese Aktivitäten wurden zu einem Forum, wo wir versuchten, auf die Wahrnehmung der Physikgeschichte und ihre Bedeutung für die Physik Einfluss zu nehmen; ebenfalls wollten wir die Fachphysiker mit aktuellem, physikhistorischem Fachwissen bekannt und nicht zuletzt die methodische Spezifik wissenschaftshistorischer Forschungen deutlich machen – Physikgeschichte ist eben nicht Physik, sondern Geschichte! Wir konnten in unserem missionarischen Ehrgeiz zumindest auf die verbale Unterstützung von einflussreichen, ja mächtigen Physikern zählen. So auf Robert Rompe<sup>56</sup>, „Oberphysiker der DDR“, der sich auf seine alten Tage dafür interessierte, wie Physikzentren wie Berlin entstanden waren, oder Hans-Jürgen Treder<sup>57</sup>, von dem es anregende wissenschaftshistorische sowie wissenschaftsphilosophische Studien gibt, und der gemeinsam mit Rompe den Terminus der „Großen Berliner Physik“ geprägt und propagiert hat. Damit ist gemeint, dass beginnend mit der Berufung von Helmholtz als Physikordinarius der Berliner Universität, also seit 1871 und bis 1933, vor allem aber in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende, in Berlin nicht lokale Physik, sondern Weltphysik getrieben wurde. Intensive physikhistorische Interessen pflegte ebenfalls der Thermodynamiker Werner Ebeling<sup>58</sup>, mit dem ich seit Mitte der 1970er Jahre – damals wirkte er noch in Rostock – persönlich bekannt bin und mit dem ich auch gemeinsam publiziert habe.<sup>59</sup> Wenn man solche Leute im Hintergrund hat und sie für die einen bewegenden Themen interessieren kann, hilft es, diese in der Fachcommunity durchzusetzen. Es ist so, als wenn Sie heute einen Nobelpreisträger als persönlichen Förderer haben. Dann ist man zwar nicht so sakrosankt wie der Nobelpreisträger selbst, aber man kann doch mehr Sachen machen und durchsetzen, ähnlich einem akademischen Patronage-Verhältnis.</p><p>Die Beschäftigung mit der „Großen Berliner Physik“ und deren berühmten Protagonisten bediente nicht nur physikhistorische Forschungsinteressen, sondern besaß darüber hinaus auch noch einen handfesten wissenschaftspolitischen und ideologischen Impetus. Es sollte eine Tradition sichtbar machen, die ins Hier und Heute führte. Solches war im Marxismus und speziell für das marxistische Geschichtsbild immer wichtig: die Tradition, die hier bei uns auf fruchtbaren Boden fiel. In der DDR, die unter hohem Legitimationsdruck stand, spielte diese Bezugnahme noch eine besondere Rolle, sollte dadurch doch die Misere der Gegenwart verdeckt und verschleiert werden – man redete über die große Zeit der Berliner Physik, doch wollte man mit der Propagierung dieser wirkmächtigen Tradition an deren Abglanz partizipieren und die Durchschnittlichkeit der aktuellen Forschungsergebnisse kaschieren.</p><p>In der Physikalischen Gesellschaft haben wir in den 1980er Jahren zum Beispiel Tagungen zum 100. Geburtstag von Niels Bohr oder Erwin Schrödinger veranstaltet oder eben im Jahr des Berlin-Jubiläums 1987 zur „Großen Tradition der Berliner Physik“.</p><p>Bestimmte Ideen oder gar Projekte, die man in unserem Institut oder an anderen gesellschaftswissenschaftlichen Institutionen nicht hätte realisieren können oder die auf kein Interesse stießen, machten wir dann eben unter dem Patronat der Fachwissenschaften und speziell mit unserer Fachgruppe „Geschichte der Physik“. Da ließ sich auch in bescheidenem Maße Geld zur Finanzierung solcher Veranstaltungen akquirieren und man konnte damit ebenfalls seine wissenschaftliche Reputation und Akzeptanz verbessern. Als ich mich Mitte der 1980er Jahre für Ernst Mach zu interessieren begann, ließ sich Letzteres gut nutzen. Ich hatte ja schon erwähnt, dass Mach durch Lenin zum „Beelzebub“ der marxistisch-leninistischen Philosophie gemacht worden war und mein akademischer Lehrer Friedrich Herneck darüber gefallen ist. Damit war mir natürlich bewusst, dass meine Beschäftigung mit Mach in einem (ideologischen) Minenfeld erfolgen würde. Deshalb wollte ich mich nicht mit den Philosophen oder gar der „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten“ darüber auseinandersetzen, ob Mach als Philosoph nun gut oder schlecht war. Da hätte ich leicht zum Verlierer werden können, zumal angesichts meiner philosophischen Defizite. Zur Rehabilitation von Mach wollte ich deshalb einen Umweg gehen, der auch meinen Fähigkeiten und Interessen entsprach, und den Physiker in den Fokus rücken: Ich wollte zeigen, dass er zumindest ein sehr guter Physiker gewesen war, was im Lichte der leninistischen Diffamierungen allzu leicht und geflissentlich vergessen wurde. Daneben wollte ich noch ein anderes Forschungsdesiderat aufarbeiten: Machs Prager Schaffensperiode, die fast drei Jahrzehnte von 1867 bis 1895 währte und damit seine längste und wohl produktivste war. Zudem erfolgte in diesen Jahren die Teilung der Prager Universität in eine Deutsche und Tschechische Universität, bei der Mach als Rektor besonders gefordert war. In diesem Nationalitätenkonflikt zeigte er sich im Übrigen nicht als Chauvinist und Nationalist wie viele seiner Zeitgenossen. Dieser thematische Rahmen wurde dann zur Grundlage meiner „Dissertation B“ (Habilitation), bei der ich von Hubert Laitko sowohl intellektuell als auch institutionell großzügig unterstützt wurde – so konnte ich 1985 im Rahmen des Akademie-Austauschprogramms für vier Monate nach Prag gehen, um in den dortigen Archiven meine Forschungen voranzutreiben. In der Zeit der politischen Wende im September 1989 habe ich meine Arbeit erfolgreich an der Humboldt-Universität verteidigen können. Bereits im Jahr zuvor, anlässlich des 150. Geburtstages von Ernst Mach, hatten wir sozusagen als Joint Venture von Physikalischer Gesellschaft, Kulturbund, dem Potsdamer Einstein-Laboratorium und natürlich unserem Institut, eine Mach-Tagung organisiert, die eine neue marxistische Mach-Rezeption auf den Weg bringen sollte. Sie erregte damals einige Aufmerksamkeit, doch sind die Intentionen sehr schnell von den politischen Ereignissen und den Folgen der deutschen Wiedervereinigung in den Schatten gestellt und zur Marginalie geworden. Neben Mach habe ich mich in meinen Forschungen generell immer wieder mit wissenschaftlichen „Außenseitern“ und marginalisierten Wissenschaftlern beschäftigt – so in der Zeit der Friedlichen Revolution in der DDR mit Robert Havemann, dem Physikochemiker und wohl wichtigsten Dissidenten der DDR.<sup>60</sup> Seine öffentliche Rehabilitierung Ende November 1989 wurde für mich Anlass, umgehend an das Archiv der SED den Antrag auf Einsichtnahme in die „Akte Havemann“ zu stellen, womit ich wohl der erste Forscher war, der dazu im Parteiarchiv und anderen Archiven damals gearbeitet hat und woraus in den folgenden Jahren mehrere Publikationen entstanden sind.</p><p>Noch ein anderer Anknüpfungspunkt meiner Beschäftigung mit Havemann sei erwähnt. Havemann war ein Thema, das in der DDR bis 1989 eigentlich mit einem absoluten Tabu belegt war, aber gelegentlich doch gebrochen werden konnte. So in unserem Berlin-Buch<sup>61</sup>, in dem wir Wert darauf legten, dass Havemanns antifaschistische Widerstandtätigkeit und das gegen ihn verhängte Todesurteil gewürdigt wurden. Das erscheint heute vielleicht als selbstverständlich und belanglos, war aber damals ein gewaltiges Problem, das nicht nur unter uns diskutiert wurde. Auch Laitko, sonst ein sehr vorsichtiger und irenischer Mann, sagte, Havemann müsse (in gebotener Kürze) gewürdigt werden – was dann auch nach einigen Diskussionen mit den Lektoren des Dietz-Verlags, dem Verlag der SED, und vielleicht auch nach Absprache mit höherrangigen Funktionären, von denen vielleicht Laitko weiß, geschah.</p><p><b>MG</b>: Kommen wir endlich zu Eurem Buch <i>Wissenschaft in Berlin: Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945</i>, das anlässlich des 750-jährigen Stadtjubiläums 1987 erschien.</p><p><b>DH</b>: Ich denke, es war das wichtigste Projekt unseres Bereichs und ist der Ausweis unserer allgemeinen wissenschaftshistorischen Kompetenz und namentlich der unseres Chefs Hubert Laitko. Es ist auch ein Zeugnis des vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs geführten wissenschaftlichen Konkurrenzkampfes zwischen Ost und West. Unser Buch sollte vor dem Hintergrund der Systemauseinandersetzung der beiden deutschen Staaten das Thema „Wissenschaft in Berlin“ auf hohem wissenschaftlichem Niveau zusammenfassen. So wie es in Berlin zwei (eigentlich sogar drei) Opernhäuser gab, gab es auch für die Wissenschaft zwei komplementäre Wahrnehmungen der Stadt. Das Buch war Teil des Kampfes um die wissenschaftshistorische Deutungshoheit über die Frontstadt des Kalten Kriegs Berlin.</p><p><b>MG</b>: So wie es in West-Berlin zur 750-Jahr-Feier einen starken Fokus auf Berlin als „Wissenschaftsstadt“ gab …</p><p><b>DH</b>: … ja, aber was dort entstanden ist, war doch mehr atomisiert. Da gab es keine wirkliche Zusammenschau …</p><p><b>MG</b>: Das leuchtet ein. Spielte dabei in der DDR auch das Thema „Innovation durch Wissenschaft“ eine Rolle, das in Westdeutschland in den 1980er Jahren eindeutig als Reaktion auf die wirtschaftliche Krise zu verstehen ist und in dieser Form bis heute so verwendet wird?</p><p><b>DH</b>: Wir sollten ebenfalls zeigen, wie wissenschaftliche Innovation passiert, aber offiziell nahmen wir uns wechselseitig nicht wahr. Das ist ja ohnehin die besondere Situation von West-Berlin. Ich sage mal, es war bis Mitte der 1980er Jahre, und konkret bis zur Unterzeichnung des Wissenschaftsabkommens zwischen der DDR und der BRD im Jahre 1988, viel leichter, nach Ost-Berlin einen beliebigen internationalen Gast zum Vortrag einzuladen als einen Kollegen aus West-Berlin. Die besondere politische Einheit West-Berlin war eine ganz heikle und problematische Geschichte. Es gab da keinerlei offizielle Beziehungen. Die Leute, die – <i>[lacht]</i> das ist ja auch das Schizophrene – Reisekader waren, bekamen, wenn sie es begründen konnten, ein Visum, im Jahr zehn Tage oder so, um Bibliotheken und Archive in West-Berlin zu besuchen. Dabei besuchten sie natürlich auch Herrn Schütt an der TU, aber das war inoffiziell.<sup>62</sup> Das durften sie eigentlich nicht, mit einer Westberliner Institution und deren Repräsentanten Kontakte zu pflegen.</p><p><b>AtH</b>: Ich würde gern noch einmal zurück zu dem, was Du geschrieben hast. Du sagtest ja selbst, dass Du auch viel in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hattest. Es war Dir ein Anliegen, Physikgeschichte zu popularisieren oder allgemeinverständlich darzustellen. Und es fällt auf, wenn man durch Deine Publikationen geht – wir haben sie ausgeliehen, gelesen, quergelesen – dass Biographien Dir immer ein Anliegen waren.</p><p><b>DH</b>: Ja. Das war meiner allgemeinen Neugier geschuldet <i>[lacht]</i>. Mein Einstieg in die Wissenschaftsgeschichte ging über Einstein – über sein Leben.</p><p><b>AtH</b>: Genau. Und Biographien lassen sich natürlich gut darstellen. Das heißt, da kann man jemandem das, was die Physik ausmacht, faszinierend und spannend verständlich machen. Waren Biographien auch etwas, mit dem man – vielleicht ist das jetzt auch noch einmal so eine „Westsicht“ – etwas relativ unideologisch darstellen konnte? War das eine bewusste Entscheidung für dieses Genre „Biographie“ oder würdest Du sagen: Ach, das war einfach ein Interesse, und ich habe das so gemacht.</p><p><b>DH</b>: Es war zunächst einmal und vor allem ein Interesse. Aber richtig, wie Du sagst, konnte man sich unter der Fülle der Biographien Leute aussuchen, wo man meinte, deren Lebensgeschichte oder deren Haltung vermitteln etwas, das Dir privat wichtig ist und das man gerne in die Mitte gerückt sähe.</p><p><b>AtH</b>: Biographie auch als eine wirklich gute Verbindung von wissenschaftlichen Inhalten und Persönlichkeit …</p><p><b>DH</b>: Ja, sozusagen soziale Strukturen und so eine Sozialgeschichte, ohne von internalistischen Sachen absehen zu können. Das hängt damit zusammen, dass ich viele Dinge in der Physik, auch wenn ich sie verstand, doch nicht so richtig verstanden habe <i>[allgemeines Lachen]</i>. Ja, ist ja so. Also kann man zwar darüber schreiben, wie das ist, aber diese Feinheiten, das ist dann doch noch ein nächster Schritt. Auch das Interesse an Schicksalen und an Haltungen passt zu Biographien, dass man zum Beispiel, wenn man über Einstein schreibt, seinen Pazifismus thematisiert. Pazifismus oder Antimilitarismus und Einsteins Haltung zur Sowjetunion waren in der DDR eher Tabuthemen.</p><p><b>AtH</b>: Hast Du das von Herneck gelernt?</p><p><b>DH</b>: Ich glaube, ja. Hernecks Spruch war immer: „Frag die Leute und entwickele daraus ein wahrhaftiges Bild“. Was Dir ja auch nahe ist. Sein Stil war aber nicht unwidersprochen. Der war ein Stück zu populär und lag quer zu dieser internalistischen Richtung in der DDR, insofern war er ebenfalls Außenseiter.</p><p><b>AtH</b>: In einem Nachruf hast Du geschrieben, dass sich diese Herneck'sche Wissenschaftsauffassung nicht durchgesetzt hat.<sup>63</sup> Wie würdest Du sie charakterisieren?</p><p><b>DH</b>: Die war recht narrativ. Das heutige Verständnis ist doch ein ganz anderes. Viel komplexer. Nicht auf dieses „Heldengedenken“ ausgerichtet, was bei Herneck immer durchscheint. Er schreibt „für Helden“, war ein Kommunist und marxistischer Denker bis zum Ende. Bei seiner narrativen Darstellungsweise sieht er zwar nicht von politischen Dingen ab, aber explizit marxistische Elemente kommen nicht viel bei ihm vor. Er schreibt nicht in einen marxistischen Ideologierahmen hinein und nimmt sich auch die Freiheit, <i>gegen</i> solche Sachen anzuschreiben. Ich muss jetzt auch sagen, ich wurde natürlich aufgefangen von Laitko, der einen anderen Stil hat und mehr von allgemeinen Prämissen und Theorien ausgeht.</p><p><b>AtH</b>: Um noch mal auf das Berlin-Buch zurückzukommen …</p><p><b>DH</b>: Also, wenn unser Bereich an der Akademie nach außen hin wahrgenommen wird, dann meist über das Disziplin-Projekt von Guntau und Laitko, über das wir bereits sprachen sowie das Berlin-Buch; alles andere scheint weitgehend vergessen. Beides waren Projekte, die auch konzeptionell für die Forschungsrichtung unserer Gruppe typisch sind. Schlägt das Interesse für die Disziplingenese die Brücke zur Wissenschaftsforschung, so geht das Berlin-Buch in Richtung der Sozial- und Kulturgeschichte und natürlich der politischen Geschichte, wie das Buch ja auch – wie vorhin kurz angedeutet – eine nicht zu vernachlässigende politische Funktion hatte. Dies nicht nur in dem Sinne, als dass es die Anfänge moderner Wissenschaftspolitik und der aktiven Steuerung wissenschaftspolitischer Prozesse darstellt – als Stichwort sei in diesem Zusammenhang das „System Althoff“ erwähnt. Politisch war das Projekt eben „ein Auftragswerk“ für das 1987 anstehende 750-jährige Berlin-Jubiläum. Das Jubiläum hatte die höchsten politischen Weihen, und wer von Rang und Namen in der DDR war, insbesondere an den Berliner Wissenschaftsinstitutionen, wurde dringlichst aufgefordert, sich an der wissenschaftlichen und publizistischen Aufarbeitung zu beteiligen. In der Planungshierarchie war es auf der obersten Stufe als Staatsplan-Projekt ausgewiesen, verknüpft mit überdurchschnittlichen Forschungsmitteln und Prestige.</p><p>Wegen der herausragenden Bedeutung des Jubiläums – nicht zuletzt war Berlin eine Art Schaufenster des Ostens – wurde so um 1980 ein hochkarätiges Berlin-Komitee eingerichtet, dem nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Journalisten als Teil des Propaganda-Apparats sowie höhere Funktionäre von Staat und Partei angehörten – nicht so unähnlich der Organisation des Einstein-Centenariums 2005 …</p><p>An uns – an die Akademie, nicht an die Universität – erging so der Auftrag, ein wissenschaftshistorisches Konzept für das Jubiläum zu schreiben. Das wurde natürlich von Laitko als Chef gemacht, der auch Mitglied im zentralen Komitee war, das aber nur einmal getagt haben soll. Davon einmal abgesehen, hat er solche Sachen wie zum Beispiel Konzepte verfassen, geradezu perfekt beherrscht.</p><p>Als vorbereitende Maßnahme wurde zunächst eine Kolloquium-Reihe eingerichtet, die 1980 begann und systematisch spezielle Themenfelder der Berliner Wissenschaftsgeschichte beleuchtete, wobei auch auswärtige Kollegen zu Vorträgen eingeladen wurden. Unsere „Berliner Wissenschaftshistorische Kolloquien“ – so der offizielle Titel der Reihe, in der die Vorträge später auch publiziert wurden – waren also keine interne Angelegenheit und hatten einen regen Zulauf und viel Interesse; ich glaube, mich an Veranstaltungen von bis zu hundert Zuhörern zu erinnern.</p><p><b>AtH</b>: Da habt Ihr die einzelnen Kapitel abgearbeitet.</p><p><b>DH</b>: Ja, dort wurden mehr oder weniger systematisch Schwerpunkte bzw. Grundprobleme abgearbeitet, zum Beispiel die „Große Berliner Physik“, das „System Althoff“ etc. Die Erkenntnisse aus diesen Kolloquien gingen dann in das Konzept für das geplante Buch ein, wobei dieses von den Mitgliedern unseres Forschungsbereichs und unter Federführung von Laitko verfasst wurde – in diesem Fall waren die einzigen Kooperationspartner Conrad Grau<sup>64</sup> und Wolfgang Schlicker<sup>65</sup> von der Arbeitsstelle „Akademiegeschichte“ der Akademie, also nähere Kollegen.</p><p>Allerdings muss man im Rückblick doch selbstkritisch feststellen, dass wir beim Schreiben der einzelnen Kapitel unseren Chef schmählich im Stich gelassen haben und wir am Ende in der Synthese, aber auch in der hohen Qualität, die nötig war, aus meiner Sicht nichts Adäquates lieferten. Hinsichtlich der Autorenschaft hätte es durchaus heißen können: „Von Hubert Laitko unter Mitwirkung von etc.“ und nicht wie im Impressum des Buches festgehalten ist: „Autorenkollektiv: Hubert Laitko, Leitung, etc.“ Dass Laitko mehr als der Kopf des Buchprojektes war und die Kärrnerarbeit geleistet hat, wurde allgemein durchaus wahrgenommen. Laitko wurde dann auch dafür mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Ich glaube, er war der erste (genuine) Wissenschaftshistoriker, der mit dieser höchsten Wissenschaftsauszeichnung der DDR geehrt wurde; allerdings gehörte er zur letzten Runde der DDR-Nationalpreisträger, denn mit der Wiedervereinigung war der Nationalpreis <i>perdu</i>.</p><p>Die konzeptionelle Leistung von Laitko wurde – nicht zuletzt im Vergleich zu dem, was im Westen zum Jubiläum erschien – auch im Westen gewürdigt. Nicht so sehr von Vertretern einer internalistischen Wissenschaftsgeschichte, die vieles unter Ideologieverdacht stellten und Laitko vor allen Dingen das von ihm verfasste letzte Kapitel über die Aufbaujahre nach 1945 übelnahmen. Die positive Reaktion kam von Leuten wie dem Historiker und Mitherausgeber der KWG-Geschichte Bernhard vom Brocke, deren Forschungsfokus ja die Institutionengeschichte und speziell das „System Althoff“ sowie die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war.</p><p><b>AtH</b>: Und Rüdiger vom Bruch<sup>66</sup> …</p><p><b>DH</b>: Ja, diese Richtung (wissenschafts-)historischer Forschung, wobei vom Bruchs Lob schon etwas verhaltener ausfiel. Unser Buch und das Forschungskonzept von Laitko waren natürlich eine ganz andere Geschichte als die von Hans Wußing<sup>67</sup> am traditionsreichen Sudhoff-Institut in Leipzig, wo es ebenfalls ein hochkarätiges Buchprojekt gab, die <i>Geschichte der Naturwissenschaften</i>.<sup>68</sup> Dieses war im Übrigen explizit für den Westmarkt geschrieben worden, und nur wenige Exemplare der Auflage wurden in der DDR vertrieben.</p><p><b>MG</b>: Ein anderes Thema dieser Zeit ist das Hervortreten eines veränderten historischen Bewusstseins insgesamt: Das Denkmal Friedrichs des Großen wurde Unter den Linden wieder aufgestellt, das Nikolaiviertel in historischem Stadtgrundriss rekonstruiert … Wie diskutierte man dieses veränderte historische Bewusstsein jenseits des Jubiläums?</p><p><b>DH</b>: Was das Nikolaiviertel angeht, fällt mein Urteil doch sehr verhalten aus – ich bin dort, in den Ruinen des alten Viertels, groß geworden und empfand die vermeintliche Rekonstruktion doch eher als Disneyland denn als historische Replik.</p><p>Dass Traditionspflege seit den späten 1970er Jahren wieder wichtig wurde, stimmt natürlich und spiegelt sich auch in unserem Berlin-Buch, wie in unserer und meiner Beschäftigung mit den großen Traditionen der Wissenschaft bzw. Physik in Berlin. Das wurde auch bei naturwissenschaftlichen Fachkollegen so wahrgenommen, die diese Traditionslinien für das eigene Selbstverständnis sowie für die eigene Motivation aufnahmen. Gelehrte von Max Planck und Albert Einstein über Fritz Haber, Otto Hahn oder Lise Meitner bis hin zu Gelehrten der zweiten Kategorie wie Wilhelm Foerster, Walter Friedrich oder Oskar Vogt sollte man sich zum Vorbild nehmen.</p><p><b>MG</b>: Was man durchaus auch sehr kritisch hätte sehen können.</p><p><b>DH</b>: Sicherlich, doch sollte man hier nicht allzu selbstgerecht urteilen, denn der kritische Blick auf Wissenschaftsbiographien und -institutionen wurde im Westen auch nicht umstandslos von den etablierten Fachvertretern gepflegt, sondern zunächst von alternativen Projekten auf studentischer oder Assistentenebene. Eine solche Ebene gab es aus politischen Gründen in der DDR nicht, aber es gab durchaus auch staats- und ideologieferne Diskussionsrunden (von der Stasi oft argwöhnisch ins Visier genommen), in denen alternative Sichtweisen gepflegt wurden. So erinnere ich mich an Diskussionen im Umfeld des Einstein-Jahres 1979, in denen es um dessen Judentum und seine Haltung zum Zionismus und zum Staat Israel ging, sowie seine nicht nur positive Haltung zur Sowjetunion. Hoffähig oder gar publizierbar war das in der DDR aber nicht!</p><p>Dass in der DDR das „Würdigungswesen“ – hier darf ich ein Copyright reklamieren, denn dieser ironisierende Begriff unseres Tuns ist wohl von mir kreiert worden – so extensiv betrieben wurde, zumindest deutlich stärker als im Westen, hat sicher zum Teil damit zu tun, dass die Beschäftigung mit einer heroischen Vergangenheit und einer wissenschaftlichen Hochkultur gut dafür genutzt werden konnte, die aktuelle Misere etwas vergessen zu lassen und eine eigene, an der glorreichen Vergangenheit partizipierende Identität zu konstruieren, was staatlicherseits propagandistisch gut ausgeschlachtet werden konnte. Überhaupt lässt sich feststellen, dass sich das Traditionsverständnis in der DDR in der Honecker-Ära weitete und weniger dogmatisch war als in den Jahrzehnten zuvor. Ähnliches wie mit Friedrich dem Großen passierte im Lutherjahr mit Martin Luther oder auch mit Siemens sowie nicht zuletzt mit Preußen oder dem sächsischen Königshaus: Alle wurden in den 1980er Jahren enttabuisiert und dem progressiven Erbe der DDR zugeschlagen. Unsere Forschungen waren Teil dieser neuen Erbpflege.</p><p><b>AtH</b>: Vielleicht noch eine Frage, die zwar privat ist, aber auch eine politische Dimension hat: Da Du und Deine Frau voll berufstätig wart, wie bekamt Ihr das mit den beiden Kindern hin?</p><p><b>DH</b>: Dazu zwei Dinge vorab: Erst einmal war das Betreuungssystem ein anderes. Heutzutage bin ich immer erstaunt bei meinen Kindern, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre Kinder aus beruflichen Gründen in die Kita oder den Hort bringen. Hort war für uns immer eine <i>no go area</i>. Unsere eine Tochter wollte aber unbedingt dahin, und so schickten wir sie in diese Kinder-Verwahranstalt. Nach zwei Monaten hatte sie aber die Nase voll und wurde wieder zu der Art „Schlüsselkind“, wie es in unserem Freundes- und Bekanntenkreis sehr verbreitet war. Hinzu kam, zweitens, dass wir auch eine ganz andere Arbeitswirklichkeit hatten: Unser Forschungsbereich von etwa 15 Leuten verfügte über drei Büroräume – in dem einen saß die Sekretärin, im zweiten arbeiteten unsere wissenschaftlich-technischen Assistent:innen, die tägliche Präsenzpflicht hatten, und der dritte, etwas größere Raum war den Wissenschaftlern zugedacht, in dem unsere wöchentlichen Dienstbesprechungen und andere Zusammenkünfte abgehalten wurden; ansonsten musste von uns Wissenschaftlern immer jemand zu den üblichen Dienstzeiten anwesend und auskunftsfähig sein, was kollegial aufgeteilt wurde. Alles andere lief zu Hause ab bzw. man arbeitete in der Bibliothek oder in den Archiven – „nebenher“ konnte man also noch ganz gut unsere „Schlüsselkinder“ betreuen. So sah mein Arbeitsalltag aus, und diese Sozialisation habe ich bis heute – zum Kummer meiner Frau – weitgehend beibehalten, denn irritierenderweise lade ich ja heute noch die Leute zu mir nach Hause ein. Allerdings waren und sind wir vergleichsweise gut mit Wohnraum ausgestattet. Insgesamt konnten wir so die Betreuung relativ gut abfangen, zumal meine Frau als Lehrerin oft um drei oder vier Uhr nachmittags zu Hause war. Das klappte natürlich nicht immer, doch war es meist irgendwie regelbar. Zudem entließ man die Kinder frühzeitiger in die Selbstständigkeit.</p><p>Obwohl seit Gründung der DDR die Gleichberechtigung der Frau Verfassungsrecht und durch eine Vielzahl von Gesetzen geregelt war, war die Erziehung in der DDR deutlich frauenfokussiert und die Frauen leisteten trotz aller Emanzipation in der Regel den größten Teil der Hausarbeit. Hinzu kam, dass die Organisation des täglichen Lebens deutlich schwieriger und zeitaufwändiger war – man konnte beispielsweise nicht, wie heute, abends um halb sieben in die Kaufhalle (das Ost-Pendant zum Supermarkt) rennen und bekam dann alles, was auf dem Einkaufszettel stand. Bestimmte Sachen waren mit Anstehen und zeitfressender Organisation verbunden. Das Leben, zumal die Technisierung des Haushaltes, war natürlich auch weit unter den heutigen Standards. Die Frauen hatten so durchaus eine Art doppelte Berufstätigkeit zu leisten. Grundsätzlich wurde darüber nicht oder nur wenig gesprochen – man sprach nur darüber, wie man sie bewältigt. Die Situation war vielleicht vergleichbar mit der in Frankreich und oder den USA. Da ist es ja auch normal, dass beide Elternteile arbeiten; nicht zuletzt baute in der DDR der Lebensstandard auf zwei Gehältern auf, denn mit einem Gehalt ließ sich nur mit starken Einschränkungen eine Familie versorgen. Beispielsweise hatte sich die Frau einer befreundeten Familie ganz bewusst dafür entschieden, die ersten drei Jahre das Kind zu betreuen und nicht in die Kinderkrippe zu geben. Das war eine absolute Ausnahme und sie merkten die finanziellen Konsequenzen sehr schnell, und da waren dann Einschränkungen nötig. Unsere Gehälter waren ja nicht so doll. Meine Frau bekam als Lehrerin mehr als ich, etwa tausend DDR-Mark, ich um die achthundert. Ein Trabant kostete ungefähr zehntausend Mark, die Wohnungsmiete neunzig Mark. So war das, und es unterscheidet sich doch ganz grundsätzlich von dem, was dann nach der politischen Wende über uns Ostler kam, wobei man durchaus generalisierend feststellen kann, dass zu den Verlierern der deutschen Einheiten gewiss die Frauen gehören, nicht zuletzt die Akademikerinnen, die oft die ersten waren, die auf der Straße standen oder aus ihren Positionen herausgedrängt wurden.</p><p><b>AtH</b>: Damit wären wir bei der politischen Wende in der DDR angekommen – wie hast Du den politischen Umbruch erlebt, und welche wissenschaftlichen und beruflichen Konsequenzen hatte dieser für Dich?</p><p><b>DH</b>: Das Jahr 1989 war ohne Zweifel für mich das emotional bewegendste und zusammen mit den Folgejahren das dynamischste meines Lebens. Auch ohne Friedliche Revolution und Mauerfall hätte es wohl einen Wendepunkt in meinem Leben markiert. Im Sommer 1989 konnte ich erfolgreich mit <i>Studien zu Ernst Mach</i> meine Habilitation abschließen und gehörte auch zur DDR-Delegation zum Weltkongress für Wissenschaftsgeschichte in Hamburg und München (übrigens auf Kosten des Bundesministeriums für Innerdeutsche Fragen, was noch Mitte der 1980er Jahre ein Unding gewesen wäre!), war damit faktisch zum Reisekader-West aufgestiegen. Beide Qualifikationen hätten mir unter DDR-Bedingungen wohl ebenfalls neue berufliche Horizonte eröffnet; sicherlich deutlich bescheidenere, als die Imponderabilien der Weltgeschichte sie mir dann eröffnet haben.</p><p>Was 1989 geschah, war natürlich nicht vorhersehbar gewesen – schon gar nicht die Implosion des realen Sozialismus und der Untergang der DDR. Allerdings war Leuten wie mir, die kritisch zur DDR standen und pro-westlich dachten, klar, dass es so wie gehabt in der DDR nicht weitergehen konnte. Mein Kollege Mark Walker, der heute zu meinem engeren Freundeskreis gehört und in dieser kritischen Zeit in West-Berlin als Humboldt-Stipendiat forschte, erinnerte sich nach vielen Jahren daran, dass ich ihm auf seine Frage, wie die politische Lage in der DDR zu bewerten sei, im Spätsommer 1989 die für ihn sybillinische Antwort gab: „Ich weiß nicht, was konkret geschehen wird, doch klar ist, dass demnächst irgendetwas geschieht.“ Das „irgendetwas“ war die Friedliche Revolution mit dem Mauerfall vom Herbst 1989. Von der deutschen (Wieder)Vereinigung habe ich damals nicht einmal zu träumen gewagt, und als nüchternem und realistisch denkendem Historiker und Kind des Kalten Kriegs sowie im Angesicht von 500.000 Rotarmisten im Land erschien mir die deutsche Wiedervereinigung noch Weihnachten 1989 bestenfalls als Sache der Zukunft. Diese Meinung teilte ich damals mit vielen, u. a. einem heute hochangesehenen westdeutschen Politologen, mit dem ich zu Silvester die deutsche Frage ausführlich diskutierte. Ich habe die deutsche Wiedervereinigung damals emphatisch begrüßt und stehe auch heute noch dafür. Bauchschmerzen habe ich lediglich mit der Art und Weise, wie sie ausgeführt wurde, denn das geschah doch zu sehr und allzu einseitig auf dem Rücken von uns Ostlern und zugunsten westdeutscher Interessen, nicht zuletzt im akademischen Bereich. Dort wurde tüchtig ausgekehrt, und die Stellen in der Regel von (meist durchaus verdienstvollen und exzellenten) Kollegen aus dem Westen wieder besetzt.</p><p>Das System „West“ wurde dem Ost-System sozusagen übergestülpt und alles, was dem nicht angepasst werden konnte, ob nun sinnvoll oder nicht, wurde wie bei einem Baum, der gestutzt werden muss, radikal weggeschnitten – vermeintliche „Nicht-Finanzierbarkeit“ war hierbei eine gängige Begründung. Wenn ich mir so meine Gedanken über die deutsche Wiedervereinigung mache, was mit einiger Regelmäßigkeit geschieht, dann muss ich oft an Wolf Biermanns <i>Deutschland. Ein Wintermärchen</i> denken, wo er zur Entnazifizierung in der SBZ/DDR dichtet: „So gründlich haben wir/geschrubbt/mit Stalins hartem Besen/Das rot verschrammt der/Hintern ist/Der vorher braun gewesen …“ Nun kann man natürlich nicht die Entnazifizierung im Nachkriegsdeutschland eins zu eins in Beziehung zu dem setzen, was dann vier Jahrzehnte später im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung geschah – und dies ist auch keineswegs meine Intention beim Zitieren des Biermann-Poems –, doch wurden in absichtsvoller Rigorosität und überbordender Selbstgerechtigkeit nicht nur die Nomenklaturkader in den Orkus gewischt, sondern manche und manches, was durchaus bewahrenswert gewesen wäre, verschwand auf Nimmerwiedersehen – warum wurde beispielsweise der Biochemiker Tom Rapoport aus Berlin-Buch weggegrault, so dass er Deutschland in Richtung Harvard verließ? Die Art und Weise, wie <i>tabula rasa</i> gemacht wurde, ging auch zu Lasten unserer Gruppe, deren Leistungspotential ich hier in keiner Weise schönreden will, doch sie wäre vielleicht ein möglicher Nukleus für Forschungen zum so erfolgreichen Wissenschaftssystem im Wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik gewesen. Dafür gab es keine einflussreichen westdeutschen Fürsprecher oder gar eine Lobby. Im Ergebnis wurde unsere Gruppe, wie die Majorität der Akademieforschung, atomisiert und in alle Winde zerstreut – etwa ein Drittel konnte im Forschungssystem der Bundesrepublik verbleiben, meist in subalternen Positionen oder durch Drittmittel finanziert, ein Drittel wurde mehr oder weniger unfreiwillig Vor-Ruheständler und ein weiteres Drittel musste sich seinen Lebensunterhalt nun im nichtakademischen Bereich verdienen. Dabei folgte diese Drittel-Parität eher statistischen Regeln als dem Leistungsprinzip. Dass heute, wo alle Messen gelesen, die Kommandoposten verteilt sind und sich tatkräftige westdeutsche Netzwerke etabliert haben, unaufrichtige Krokodilstränen darüber vergossen werden, befremdet mich eigentlich mehr, als es einen erfreut – wo waren die Stimmen der kollegialen Solidarität vor dreißig Jahren!?</p><p>Ich selbst, der ich weder Bürgerrechtler noch Dissident war, habe im Herbst 1989 versucht, mich in den Reformprozess meines Instituts wie auch der gesamten Akademie einzubringen. Im Sommer 1990 war das aber alles „Makulatur“ geworden, denn im vereinigten Deutschland würde es zum 1. 1. 1992 keine Akademie der Wissenschaften mehr geben. Es war also privat wie beruflich eine grundlegende Neuorientierung angesagt, und bei dieser spielten Zufall und Glück eine große Rolle.</p><p>Ich selbst hatte Glück – vielleicht auch das Glück des Tüchtigen. Mir kam dabei zu Gute, dass ich dem Westen gegenüber offen und neugierig war, einige Westkollegen auch persönlich kannte. So wurde ich zunächst von der Physikalisch-Technischen Bundeanstalt (PTB) eingeladen, mit einem Stipendium den Vereinigungsprozess zwischen der PTB und dem entsprechenden metrologischen Institut der DDR zu dokumentieren. In dieser Zeit wurde ich auf ein spezielles Integrationsprogramm der Alexander von Humboldt-Stiftung aufmerksam, das jüngeren Wissenschaftlern aus dem Osten – ich gehörte gerade noch zu dieser anvisierten Alterskohorte – die Möglichkeit bot, für ein halbes Jahr an ein westdeutsches Institut ihrer Wahl zu gehen, um dort den Westen „zu lernen“. Ich gehörte zu den ersten Stipendiaten dieses Programms und ging 1991 für ein reichliches halbes Jahr zu Armin Hermann<sup>69</sup> an die Universität Stuttgart. Dass die Wahl auf Hermann fiel, hing damit zusammen, dass Hermann für mich eine Art „Fernlehrer“ gewesen war und ich ihm beim Wissenschaftshistoriker-Kongress in Hamburg und München im Sommer 1989 persönlich begegnet bin. Manche Leute schüttelten über meine Entscheidung etwas den Kopf, doch stand mir Hermann in seiner etwas altbacken betriebenen Wissenschaftsgeschichte damals wissenschaftlich sehr nahe, und er war mir gegenüber sehr hilfsbereit. Seine Bücher wurden auch im Osten gelesen, nicht zuletzt von Physikern.</p><p><b>AtH</b>: Und er schrieb auch Biographien …</p><p><b>DH</b>: Ja, viele und meist populäre. Vor allem aber war er in der westdeutschen <i>community</i> sehr gut und effektiv vernetzt, was mir einige Vortragseinladungen einbrachte; auch sonst verfügte er über gute Verbindungen, die mir etwa halfen, im folgenden Jahr (1992) in die USA zu gehen. Zunächst aber ging es erstmal nach Stuttgart, wo ich den Westen in jeder Hinsicht kennenlernte – auch die innovativen Ansätze der aktuellen Wissenschaftsgeschichte durch Hermanns Assistenten Helmuth Albrecht. Mit ihm und seiner Frau Monika Renneberg habe ich damals viel diskutiert, und wir sind bis heute befreundet.</p><p><b>AtH</b>: Du warst 1992 in Harvard …</p><p><b>DH</b>: Ich glaube, Harvard war für meine Entwicklung und meine Akzeptanz im Westen am entscheidendsten. Dabei war es nicht trivial, dorthin zu kommen. Erwin Hiebert<sup>70</sup> und Gerald Holton<sup>71</sup> – Hiebert hatte ich schon in den 1980er Jahren durch die vorhin erwähnte tschechische Kollegin Soňa Štrbáňová persönlich kennengelernt und Holton 1990 auf einer Tagung zum Wiener Kreis in Wien – hatten mich nach Harvard eingeladen. Dass dies allein schon eine hohe Ehre war, wusste ich damals nicht, musste ich doch das Geld für die Reise und den dortigen Aufenthalt selbst aufbringen. Dafür kam wieder die Humboldt-Stiftung auf, denn das Integrationsstipendium sah, wie bei Humboldt-Stipendiaten üblich, eine Wiederaufnahme vor – allerdings sollte man in Deutschland bleiben. In meinem Wiederholungsantrag schrieb ich, dass einer meiner großen Träume Amerika sei und mir mit der Einladung die einmalige Möglichkeit dafür geboten würde; auch würde ich nur das Geld beanspruchen, das ich für die Verlängerung in Deutschland bekäme. Solchem Pragmatismus hat man sich nicht entziehen können und man genehmigte mir eigentlich regelwidrig das Stipendium. Nicht nur in meinem Fall ist die Humboldt-Stiftung eine sehr unbürokratisch handelnde und ungewöhnlich kooperative Institution. Ich ging dann also Ostern 1992 nach Harvard, wo ich mich vor allem durch die <i>Einstein Papers</i> wühlte – leider konnte aus diesen Archiv-Studien keine Edition von Briefen Einsteins an Berliner Physiker realisiert werden, da Princeton University Press damals eifersüchtig das Copyright für solche geschlossenen Briefeditionen für sich reklamierte. Allerdings gab es einen vollwertigen Ersatz, denn während meines Amerika-Aufenthalts waren die Farm-Hall-Protokolle freigegeben worden. Darauf hatten mich Mark Walker<sup>72</sup> und Roger Stuewer<sup>73</sup> aufmerksam gemacht, und ich nutzte die Gunst der Stunde, fuhr nach Washington in die National Archives und brachte die Kopien der Protokolle mit nach Deutschland. Im folgenden Jahr erschienen sie dann bei Rowohlt Berlin, was einiges Aufsehen erregte und mein größter Bucherfolg wurde – bis heute. Das Buch hat sicherlich meine Akzeptanz in der <i>community</i> gestärkt und wohl auch dazu beigetragen, dass ich im harten Selektionsprozess nach der deutschen Einheit nicht auf der Strecke blieb. Über mehrere Zwischenstationen erhielt ich schließlich eine unbefristete Stelle am neugegründeten MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin in der Abteilung von Jürgen Renn und war damit im „Paradies der Forschung“ gelandet. In der Lotterie der deutschen Einheit war mir sozusagen ein Fünfer im Lotto zuteilgeworden, wobei mir aber in Demut und Bescheidenheit die Anmerkung erlaubt sei, dass ich sehr wohl weiß, dass es auch noch Sechser gibt, doch will man ja nicht unbescheiden sein …</p><p><b>AtH</b>: Du warst danach noch 1994 in New York, 1995/96 dann zweimal in England.</p><p><b>DH</b>: Ja, in Cambridge bei Simon Schaffer, den ich hier in Berlin getroffen hatte und dessen Buch mit Steven Shapin mir wegen seines für mich neuartigen Blicks auf die Wissenschaftsgeschichte sehr imponierte.<sup>74</sup></p><p><b>AtH</b>: Ich erinnere, dass innerhalb des Verbundes für Wissenschaftsgeschichte, der 1988 oder 1989 im Westen gegründet wurde …</p><p><b>DH</b>: … die letzte Gründung des Kalten Krieges, sage ich immer … <i>[lacht]</i></p><p><b>AtH</b>: … und bei dem Du auch immer bei den Sommerakademien dabei warst.</p><p><b>DH</b>: Als Zuhörer. Ob immer, weiß ich nicht …</p><p><b>AtH</b>: Und ich erinnere mich gut an Annette Vogt<sup>75</sup>, die – glaube ich – Lorenz Krüger<sup>76</sup> unterstützt hat?</p><p><b>DH</b>: Ja, sie war eine Art Geschäftsführerin des befristeten und von der MPG finanzierten Forschungsschwerpunktes „Wissenschaftsgeschichte und -theorie“, der vom Göttinger Wissenschaftsphilosophen Lorenz Krüger geleitet wurde – ein feiner, leider allzu früh verstorbener West-Chef.</p><p><b>AtH</b>: Und inwiefern spielten diese Sommerakademien für Dich eine Rolle?</p><p><b>DH</b>: Sie waren eigentlich nicht so präsent, was auch damit zusammenhängt, dass ich in dieser Zeit, wie beschrieben, viel unterwegs und nicht in Berlin war – das waren sozusagen meine verspäteten Lehr- und Wanderjahre. Hinzu kam, dass ich mich neben meinen beruflichen Verpflichtungen auch sehr in der Physikalischen Gesellschaft engagierte. 1991 hatte mir Hermann die Leitung des Fachverbandes „Geschichte der Physik“ der Deutschen Physikalischen Gesellschaft übertragen. Das war für mich und nicht zuletzt meine Karriere ungemein wichtig, weil diese Aktivitäten ganz wesentlich zu meiner Reputation beitrugen.</p><p><b>AtH</b>: Dieses Amt hast Du zwanzig Jahre bekleidet – eine lange Zeit.</p><p><b>DH</b>: Ja, eine ungewöhnlich lange Amtsperiode und für ein Amt in der DPG sogar rekordverdächtig. Aber es hat mir Spaß gemacht und mir auch viele Gestaltungsmöglichkeiten gegeben – mehr als mir am MPI eingeräumt wurden. Die dort betriebene Wissenschaftsgeschichte war mir in Teilen auch manchmal zu avanciert und abgehoben, zuweilen wurde man dort auch absichtsvoll übersehen … Ich denke da zum Beispiel an das Projekt zur Geschichte der Kaiser Wilhelm Gesellschaft (KWG) im Nationalsozialismus oder auch jüngst das zur Geschichte der MPG, bei denen eben nur Platz für die aller-aller-besten war. Da habe ich dann eben zusammen mit Mark Walker das Projekt zur Geschichte der DPG im Dritten Reich initiiert und in einem sehr viel bescheideneren Rahmen realisiert.</p><p><b>AtH</b>: Aber trotzdem hast Du vor drei Jahren einen renommierten Preis bekommen, den Abraham Pais Prize für Geschichte der Physik.</p><p><b>DH</b>: Der wird aber von der American Physical Society verliehen und steht genau für das, was ich mit meinen Forschungen anstrebe: den Brückenschlag zwischen Physikgeschichte und Physik. Aber auch der Preis war großes und völlig unerwartetes Glück, lassen sich doch sofort ein Dutzend oder mehr Kollegen aufzählen, die den Preis mindestens genauso verdient hätten wie ich – doch Auszeichnungen sind eben nicht-lineare Phänomene!</p><p><b>AtH</b>: Ein schönes Schlusswort.</p>","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":"46 4","pages":"378-412"},"PeriodicalIF":0.6000,"publicationDate":"2023-11-14","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300029","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Bausteine zu einer Oral History der Wissenschaftsgeschichte Interview mit Dieter Hoffmann\",\"authors\":\"Mathias Grote, Anke te Heesen, Dieter Hoffmann\",\"doi\":\"10.1002/bewi.202300029\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"<p>Dieter Hoffmann (*1948) studierte Physik an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und promovierte 1975 ebendort. Zwischen 1976 und 1990 war Hoffmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Wissenschaftsgeschichte am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaften an der Akademie der Wissenschaften der DDR. In den 1990er Jahren führten ihn Gastaufenthalte nach Harvard, New York und Cambridge. Zwischen 1995 und 2014 war Hoffmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin. Daneben fungierte er zwischen 1991 und 2011 als Vorsitzender des Fachverbands Geschichte der Physik in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), die ihn 2010 mit der Ehrennadel der DPG ehrte. Im gleichen Jahr wählte ihn die Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften, zu ihrem Mitglied; 2020 erhielt er den renommierten Abraham-Pais-Prize for History of Physics der American Physical Society.</p><p><b>Anke te Heesen (AtH</b>): Zu Beginn möchten wir Dich fragen, wie Du zur Wissenschaftsgeschichte gekommen bist: Du hast Physik studiert, bist dann aber relativ schnell in die Wissenschaftsgeschichte gegangen, oder?</p><p><b>Dieter Hoffmann (DH)</b>: Na gut, das hängt mit meinem Leben und auch mit meinem sozialen Hintergrund zusammen. Ich wurde in einer Familie groß, die in ihren Grundsätzen nicht pro-DDR, sondern dezidiert pro-westlich war – anti-DDR wäre wohl etwas übertrieben. Mitte der 1950er Jahren hatten meine Eltern auch mit dem Gedanken gespielt, in den Westen zu gehen, und wir waren zur „Sondierung“ zu meinem Onkel ins Ruhrgebiet gefahren, doch wurde man mit den Rheinländern nicht „warm“, so dass wir wieder nach Hause fuhren; letztendlich haben meine Eltern wohl die zweite Fluchterfahrung innerhalb eines Jahrzehnts gescheut, denn 1945 war man aus Schlesien vertrieben worden und hatte sich inzwischen in (Ost-)Berlin eine bescheidene Existenz aufgebaut.</p><p>Wenn ich im Westen großgeworden wäre, hätte ich wahrscheinlich Geschichte oder Philosophie studiert. Das wollte ich in der DDR nicht, weil damit sofort politische Implikationen verbunden gewesen wären. Für diese Fächer war, mehr oder weniger, die <i>conditio sine qua non</i>, Parteimitglied zu werden. Eine Generation später, in den 1980er Jahren, gab es da schon Ausnahmen. In meiner aber wurde erwartet, dass man Mitglied der SED wird, und das wollte ich nicht, zumal man das in unserer Familie eben nicht tat.</p><p>Ich war kein Wunderkind, aber ich war ein ziemlich guter Schüler und nicht zuletzt in den Naturwissenschaften stark. Bereits mit dreizehn, vierzehn Jahren hatte ich mich für Einstein begeistert. So bin ich „auf den Spuren von Einstein“ mit dem Fahrrad durch die Mark gefahren, unter anderem zum Sommerhaus Einsteins in Caputh, wo ich mich wunderte, dass in einer solchen Bruchbude – so jedenfalls das Erscheinungsbild des Hauses Mitte der 1960er Jahre – ein Genie wie Einstein gelebt haben soll. Es lag nah, Physik zu studieren, was mit weniger gesellschaftlichen oder gesellschaftspolitischen Restriktionen und Anpassungen verbunden war. Allerdings merkte ich relativ schnell, dass mich das „Was“ mehr interessierte, als das „Wie“. Als ich dann in die Diplomphase meines Physikstudiums kam, schaute ich mich nach Alternativen um. Gerade die Arbeiten von Friedrich Herneck<sup>1</sup> zu Einstein, die ich schon als Oberschüler gelesen hatte, begeisterten mich, hatten mich im Übrigen für das Physikstudium motiviert. Ich ging deshalb zu Herneck, das muss so 1970/71 gewesen sein, und fragte, ob ich bei ihm Assistent werden könne. Er antwortete mir, dass ihn das freuen würde, in der aktuellen Phase der Hochschulreform aber nicht zu realisieren sei. Es würde ja alles umstrukturiert und seine künftige Stellung sei unklar, zumal er auch kurz vor der Emeritierung stehe. Mit der anstehenden Gründung der Sektion „Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsorganisation“ an der Humboldt-Universität fühlte er sich wohl auch inhaltlich aufs Abstellgleis gesetzt. Obwohl Herneck überzeugter Kommunist war, zählte er zu den „Gefallenen“, denn seine quellenbezogene Beschäftigung mit Ernst Mach während der sogenannten „Tauwetterperiode“ Mitte der 1950er Jahre hatte ihm den Vorwurf des Revisionismus eingebracht und fast zu seiner Entlassung aus dem Hochschuldienst geführt. Herneck war also umstritten und von seiner Persönlichkeit her auch polarisierend, was seine Integration in die neuen Strukturen und die Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit wohl zum Problem machte. Wie er mir einmal sagte, fühlte er sich in dieser Zeit als <i>persona ingrata</i>. 1974 wurde er fristgemäß emeritiert, doch hat er noch meine Promotion mitbetreut, so dass er zu meinen maßgeblichen akademischen Lehrern gehört. Bis zu seinem Tod 1993 blieb ich mit ihm in engem Kontakt. 1989 hat er sogar noch für meine Habilschrift („Dissertation B“) über Ernst Mach das Zweitgutachten verfasst, obwohl er zu der Zeit schon fast erblindet war und meine Tochter ihm den Text vorlesen musste.</p><p>Herneck war es, der mir empfahl, Kontakt mit den Philosophen der Universität und namentlich mit Hermann Ley<sup>2</sup> und Karl-Friedrich Wessel<sup>3</sup> – einem anderen seiner wenigen Schüler – aufzunehmen. Bei ihnen gebe es ein Promotionsprogramm, das sehr breit angelegt sei und dessen Aufgabe es sei, die Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie und Weltanschauung im Denken und Handeln der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz zu verankern und diese so zu Bündnispartnern der Weltrevolution zu machen. Nun, ich und mit mir gleich noch ein paar meiner Kommilitonen, die sich für die „Philosophischen Probleme der Naturwissenschaften“ interessierten, folgten dem Rat Hernecks. Wir wurden prompt mit offenen Armen empfangen und man stellte uns ein Forschungsstudium in Aussicht. Auch wenn mir mein Diplomvater in der Physik eine Mitarbeiterstelle mit Promotionsmöglichkeit in seiner Arbeitsgruppe bei der Akademie angeboten hatte, wechselte ich so nach dem Diplom zur Wissenschaftsgeschichte bzw. -philosophie und beschäftigte mich in den folgenden drei Jahren vor allem mit der Geschichte der Halbleiterphysik. Meine Forschungen sollten zeigen, wie physikalisches Wissen sich in eine unmittelbare Produktivkraft (ein damals unter DDR-Gesellschaftswissenschaftlern heiß diskutierter Begriff) verwandelt und mit der Entwicklung des Transistors die wissenschaftlich-technische Revolution angetrieben hat. Im Herbst 1976 habe ich meine Dissertation verteidigt.</p><p>Nun stand die Frage im Raum, wie es weitergeht. Die Möglichkeiten waren überschaubar, zumal ich auch in Berlin bleiben wollte, denn die DDR war ja ein streng zentralistisches Land, und in solchen Ländern spielt die Musik eben in der Hauptstadt. Da ich zudem in der wissenschaftlichen Forschung bleiben wollte, standen eigentlich nur die HU und die Akademie der Wissenschaften zur Auswahl. Die frühen 1970er Jahre waren ja die Zeit der „III. Hochschulreform“ und der Gründung der Sektionen anstelle der bisherigen Instituts- und Ordinarienstruktur. Um 1970 war an der HU eine Sektion „Wissenschaftstheorie und -organisation“ gegründet worden, mit einer wissenschaftshistorischen Forschungsgruppe. Die hat Günter Wendel<sup>4</sup> geleitet, den ich mal etwas locker so charakterisieren würde: Er hatte eine Promotion über die Gründungsgeschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft geschrieben, die ganz gut war und heute noch lesenswert ist, doch war er in seinem Auftreten ein strammer Dogmatiker und Stalinist, der viele Jahre im Parteiapparat tätig und dort sozialisiert worden war. Alles, was er wissenschaftlich sagte und praktizierte, wurde an der marxistisch-leninistischen Ideologie oder an den Parteibeschlüssen gespiegelt. Er und wohl auch andere Mitarbeiter der Gruppe bzw. der Sektion wollten so einen wie mich nicht. Weit entfernt, ein Dissident zu sein, war ich für solche Parteisoldaten zu wenig angepasst und rechtgläubig: Ich war kein Genosse, sagte klipp und klar, was ich von den „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ hielt, denen ich auf keinen Fall beitreten wollte und lief damals in einem Parka herum.</p><p><b>Mathias Grote (MG)</b>: Woraus bestand eine „Kampfgruppe“ in diesem Zusammenhang?</p><p><b>DH</b>: Na, das waren paramilitärische Einheiten der SED, die aus der Erfahrung des 17. Juni 1953 gegründet, im Notfall mit der Waffe in der Hand die DDR gegen die „Konterrevolution“ hätten verteidigen sollen – am 13. August riegelten sie zum Beispiel die Grenze zum Westen ab und sicherten den Bau der Mauer; in der sich zuspitzenden Krise der DDR, also 1988/89, übten sie auch den Ernstfall und das Auflösen von Demonstrationen. Da wurden alle SED-Genossen hineingepresst und gedrillt, aber auch solche vermeintlich „parteilosen Genossen“ wie ich sollten so diszipliniert werden. Am Akademie-Institut war ich wohl lange Zeit der einzige wissenschaftliche Mitarbeiter, der nicht in der Partei war – sieht man mal von den „Gefallenen“ ab, die wegen Revisionismus oder anderer Häresien aus der Partei geflogen waren. An der Uni war das alles noch schärfer als an der Akademie mit ihrer Nischenfunktion für solche bunten Vögel wie mich. Da wurde im Grunde das genau verlangt, dieses …</p><p><b>AtH</b>: … Bekenntnis.</p><p><b>DH</b>: Ja genau, dieses Bekenntnis, dass es eine Ehre und Pflicht war, sich vier oder fünfmal im Jahr am Wochenende die Kalaschnikow überzuhängen und in Sturmausrüstung durch den Märkischen Wald zu robben. Das alles hatte natürlich auch eine folkloristische Seite, denn am Abend wurde gegrillt, viel getrunken und sich im Witze-Erzählen, aber auch im allgemeinen Meinungsaustausch geübt, was es gestandenen Professoren oder kontemplativ veranlagten Wissenschaftlern wohl erleichtert hat, die Disziplinierungsexerzitien zu ertragen. Aber das ist eine andere Geschichte.</p><p>Wie gesagt, man wollte mich nicht an der Uni. Da hätte ich ja anderen mit meiner Kampfgruppen-Phobie ein Vorbild sein und vor allem als Dozent Studenten vom Pfad der sozialistischen Tugend abbringen können. Es gab glücklicherweise an der Akademie noch das „Institut für Theorie und Organisation der Wissenschaft“, ab 1975 dann „Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft“. Hubert Laitko<sup>5</sup>, der meine Promotion mitbetreut hatte, war zu dieser Zeit mit dem Aufbau einer Gruppe „Wissenschaftsgeschichte“ betraut worden, um die Wissenschaftsforschung gewissermaßen empirisch durch wissenschaftshistorische Untersuchungen zu flankieren. Laitko, der mein wichtigster akademischer Lehrer wurde, stammte ebenfalls aus der „Ley-Schule“ und gehörte zu ihrer ersten Generation; ich war Spross der zweiten, zeitlich wie qualitativ. Interessant ist, dass viele Doktoranden von Hermann Ley später in der Wissenschaftsforschung reüssierten.</p><p>Ich wurde nicht ganz zufällig zu einem Kolloquiumsvortrag ins Akademieinstitut eingeladen, um über meine Promotion vorzutragen, zu dem auch Günter Kröber<sup>6</sup> als Direktor kam. Alles war damals noch relativ klein und überschaubar sowie in flachen Hierarchien strukturiert – ähnlich wie dann auch in den Anfangsjahren am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG). Der Vortrag schien gefallen zu haben, denn mir wurde unmittelbar danach angeboten, Mitarbeiter des Instituts zu werden; zunächst mit einem Dreijahresvertrag, der dann problemlos in eine Dauerstelle umgewandelt wurde. Damit war ich glücklich in der Akademie gelandet und in der Gruppe Laitko für die Physikgeschichte verantwortlich, später zusammen mit Horst Kant<sup>7</sup>.</p><p><b>MG</b>: Was war 1975 der Hintergrund der Gründung des Bereichs Wissenschaftsgeschichte am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der DDR?</p><p><b>DH</b>: Man erkannte sehr schnell, dass diese Wissenschaftstheorie – oder Wissenschaftsforschung, von dem Begriff redete man damals aber nicht so viel – nicht bloß Soziologie oder Theorie, also in diesem Sinne Wissenschaftsphilosophie war, sondern eine empirische Basis in Gestalt der Wissenschaftsgeschichte benötigte. Dazu sollten Sie aber besser Laitko fragen, denn er war der theoretische Kopf des Instituts. In seiner Bescheidenheit oder Zurückhaltung sagte er das nie so, aber viele merkten das. Nicht Günter Kröber als Direktor, sondern er war der Ideengeber für vieles am Institut – so sehe ich das jedenfalls.</p><p><b>AtH</b>: Ein Ideengeber für die historische Dimension?</p><p><b>DH</b>: Dies sicher auch, doch war er eigentlich immer Generalist und wissenschaftlich sehr breit aufgestellt. Zum Beispiel geht auf ihn und Martin Guntau<sup>8</sup>, einen alten Freund aus der Zeit am Ley-Lehrstuhl, das Projekt „Disziplingeschichte“ zurück, das unserer Gruppe einige nationale wie internationale Aufmerksamkeit bescherte und sicher zu ihren bleibenden Leistungen gehört. Guntau war Geologiehistoriker und ein international hochgeachteter Wissenschaftler.</p><p><b>AtH</b>: Mir sind die Veröffentlichungen von Guntau durch das Museum für Naturkunde Berlin ein Begriff, wie ging es mit ihm weiter?</p><p><b>DH</b>: Nach seiner Promotion bei Ley kehrte er an die Bergakademie in Freiberg zurück, wo er studiert hatte und sich zu einem international anerkannten Geologiehistoriker profilierte. Nach der Habilitation baute er ab Mitte der 1970er Jahre an der Universität Rostock einen Bereich Wissenschaftsgeschichte auf, der zu den wichtigen Forschungszentren in der DDR zu zählen ist. Sein Wechsel nach Rostock hatte zudem damit zu tun, dass damals an fast allen Hochschulen der DDR Lehrstühle der Geschichte der Naturwissenschaften für die Lehrerausbildung vorgehalten werden mussten.</p><p><b>MG</b>: Was ebenso wie das Programm an der Universität, in dem Sie promovierten, dazu dienen sollte, den Marxismus in die Naturwissenschaften hineinzubringen …</p><p><b>DH</b>: Nicht ganz, denn in Berlin hatte das noch eine eigenständige Komponente. Hier gab es eine wissenschaftshistorische Tradition, die bis in die 1920er Jahre zurück reicht – ich meine das Institut für die Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften mit dem Medizinhistoriker Paul Diepgen<sup>9</sup> als Institutsdirektor und dem Orientalisten Julius Ruska<sup>10</sup>, der die Naturwissenschaftsgeschichte vertrat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Tradition dann durch Alexander Mette<sup>11</sup>, Dietrich Tutzke<sup>12</sup> und eben Friedrich Herneck fortgeführt. Das war, glaube ich, eine wirkmächtigere Tradition, auf die dann der wissenschaftspolitische Wunsch bzw. die ideologische Zielstellung aufgesetzt wurde, eine dezidiert marxistische Geschichte der Naturwissenschaften zu betreiben.</p><p>Dennoch war das Institut sehr klein. Herneck hatte bestenfalls einen Assistenten, sonst nichts. Und vielfach – das ist die internalistische Tradition, die institutionell mit der Wende fast ganz verlorengegangen ist an der Uni – gab es auch an den einzelnen Fachbereichen Naturwissenschaftler, die sich für Geschichte interessierten. Wogegen andere Universitäten nicht auf einer wissenschaftshistorischen Tradition aufbauen konnten – in Rostock, wohin Guntau ging, vielleicht auf das Wirken des Philosophen Heinrich Vogel, der dort in den frühen 1970er Jahren einen interdisziplinären Arbeitskreis für Philosophische Probleme der Naturwissenschaften aufgebaut hatte. Für Rostock wurde per Dekret des Ministeriums verfügt: „Wir gründen jetzt da was, und der Herr G. sollte es dann in diesem Rahmen leiten.“ Die DDR war ja ein zentralistischer Staat, da konnte der Minister sagen: „Der Herr von da geht dort hin.“ Das musste zwar noch konkret abgesprochen werden, doch wer will nicht Professor oder Dozent werden und etwas Neues aufbauen? Das war – etwas holzschnittartig skizziert – die Gründungsphase der professionellen marxistisch-leninistischen Wissenschaftsgeschichte in der DDR, wobei neben Berlin vor allem Leipzig mit dem traditionsreichen Sudhoff-Institut zu den gesetzten Zentren gehörte.</p><p>Ob wir als Akademieinstitut im Vergleich zur Humboldt-Universität die Besseren waren, dazu möchte ich aus Befangenheit nichts sagen. Zumindest waren wir breiter aufgestellt, obwohl es an der Universität auch Forschungsrichtungen gab, die bei uns am Institut weniger – quantitativ wie qualitativ – gepflegt wurden. Ich denke da zum Beispiel an die kybernetischen Arbeiten von Klaus Fuchs-Kittowski<sup>13</sup>, auch ein Ley-Schüler.</p><p><b>AtH</b>: Wer gehörte denn in der HU zur wissenschaftshistorischen Gruppe?</p><p><b>DH</b>: Hannelore Bernhardt<sup>14</sup> machte Mathematikgeschichte, Hartmut Scholz<sup>15</sup> Chemiegeschichte, Ulli Sucker<sup>16</sup> Biologiegeschichte und um 1980 komplettierte dann Reinhard Siegmund-Schultze<sup>17</sup> aus Leipzig bzw. Halle die Gruppe als Mathematikhistoriker; in den späten 1980er Jahren kam noch Ralph-Jürgen Lischke<sup>18</sup> dazu, der sich mit Friedrich Althoff beschäftigte und dazu kurz vor der Wende promoviert wurde. Das waren die tragenden Säulen von Wendels Truppe; es gab dann wohl noch zwei, drei Leute, deren Namen ich vergessen habe, die Teil der Marx-Engels-Werkausgabe waren. Auch Universitätsgeschichte wurde betrieben. 1985 stand ja das 175-jährige Universitätsjubiläum vor der Tür, doch das Projekt ist total gescheitert, weil der dafür verantwortliche Kollege unfähig war – der Name ist mir entfallen …</p><p><b>AtH</b>: … wie praktisch …</p><p><b>DH</b>: Na ja, da die gesamte Sektion nach 1990 abgewickelt wurde, standen alle auf der Straße – eigentlich sind nur Hannelore Bernhardt als Vorruheständlerin und Reinhard Siegmund-Schultze, der nach mehrjähriger Durststrecke einen Ruf nach Kristiansand in Norwegen erhielt, im Fach geblieben.</p><p><b>AtH</b>: Wie sah das Verhältnis der beiden Gruppen aus, war es durch Konkurrenz oder Kooperation geprägt?</p><p><b>DH</b>: Persönlich war das Verhältnis einvernehmlich, doch gab es natürlich eine Konkurrenz zwischen uns, und an Kooperationsvorhaben kann ich mich nicht erinnern. Die Situation der Akademie war ganz ähnlich wie die der Mitarbeiter der Max-Planck-Gesellschaft heute: Für uns gab es kaum Möglichkeiten, an der Uni Vorlesungen zu halten. Die dortigen Leute hatten natürlich Vorrang. Heutzutage ist das ja nicht viel anders. Laitko war allerdings umtriebig und hilfreich. Er achtete sehr darauf, dass wir uns auch in dieser Hinsicht entwickeln konnten und setzte dafür seine Beziehungen ein – heute würde man wohl von Netzwerken sprechen. Beispielsweise wurde sein gutes Verhältnis zu Dorothea Goetz<sup>19</sup> genutzt, indem wir sie hin und wieder in der Lehre vertreten und so Lehrerfahrungen sammeln konnten. Auch wurde mit Laitkos alten Freunden vom Ley-Lehrstuhl, die inzwischen republikweit Professuren bekleideten, in dieser Weise kooperiert. So habe ich mehrmals an der Verkehrshochschule Dresden Vorlesungen zu physikhistorischen Themen gehalten; dass man sich dabei ein paar Groschen hinzuverdienen konnte, war im Übrigen auch nicht zu verachten. Das waren aber mehr individuelle Sachen. Solche Lehraufträge sind nie formalisiert oder institutionalisiert worden. Das ist uns 1990 dann gehörig auf die Füße gefallen, weil man sagte: „Ihr seid zwar gut, aber Ihr habt keine Lehrerfahrung.“ Für bestimmte Anstellungen wurden wir deshalb absichtsvoll gar nicht berücksichtigt.</p><p><b>MG</b>: Ich würde gerne nochmal auf den Organisationsbegriff zu sprechen kommen, der im Namen beider Institute steckt. Was verbarg sich für eine Agenda oder für ein Ziel hinter diesem Begriff und wie ging man in der Praxis mit dem Thema „Wissenschaftsorganisation“ um?</p><p><b>DH</b>: Das kann ich nicht so richtig sagen, in meiner Wahrnehmung war die „Wissenschaftsorganisation“ ein Kind der Ulbricht-Ära. Ulbricht war zwar ein eiskalter Machtpolitiker, doch waren Wissenschaft und Technik und deren Vertreter bei ihm positiv konnotiert, war er doch im Milieu der Arbeiterbildungsvereine groß geworden und zeigte so für Wissenschaft und Gelehrte einen gewissen Respekt, zuweilen sogar Hochachtung. Bei Honecker war das ganz anders, er und sein Parteiapparat waren in hohem Maße intellektuellenfeindlich eingestellt, das waren für ihn eigentlich alles „Eierköppe“, denen man prinzipiell misstraute. In den späten 1960er Jahren wollte man mittels heuristischer Ansätze und Methoden alle Mängel und Probleme, die es in der DDR-Gesellschaft und nicht zuletzt bei der Organisation von Wissenschaft und Technik gab, optimieren oder gar lösen. Das ist meiner Ansicht nach einer der Pfade, die zur Institutionalisierung der Wissenschaftswissenschaft in der DDR führen. Vielleicht kann man hier vom praktischen oder angewandten Zweig der Wissenschaftsforschung sprechen. Und hinzu kam sowas wie der Studiengang „Wissenschaftsorganisation“; das waren Leute, die in Institutionen die rechte Hand des Direktors wurden … Aber ich kenne mich mit all dem nicht so aus, da müsst Ihr andere fragen.</p><p>Und ehrlich gesagt, mich hat das alles kaum interessiert und tangiert. Die Wissenschaftsforschung, die ich erlebte, fand ich viel zu politisch und von Ideologie getrieben. Auch fühlte ich mich in den am Institut geführten Diskussionen unwohl und blieb weitgehend – eigentlich bis heute – in einer ganz „stinknormalen“ oder als etwas altmodisch zu charakterisierenden Wissenschaftsgeschichte, die nicht mal dezidiert internalistisch war. Mich interessierten Institutionen, Personen, Entdeckungsgeschichten in ihrer Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Zeit, aber nicht unbedingt als Helden des Sozialismus. Damit fühlte ich mich in der Tradition von Friedrich Herneck. Im Westen zählten anfangs zu meinen Vorbildern Armin Hermann<sup>20</sup> oder Robert Jungk<sup>21</sup> mit seinem Buch <i>Heller als Tausend Sonnen</i>.<sup>22</sup> Auch Fritz Kraffts<sup>23</sup> Arbeiten zur Entdeckungsgeschichte der Kernspaltung und der Rolle Fritz Strassmanns oder zur Entwicklung des Selbstverständnisses der Physik<sup>24</sup> habe ich gelesen; natürlich habe ich damals – und ich spreche von den 1970er und frühen 1980er Jahren auch Bernals <i>Wissenschaft in der Geschichte</i> oder Kuhn studiert, wobei mir bei letzterem weniger die <i>Struktur wissenschaftlicher Revolutionen</i> wichtig war, sondern sein Buch <i>Black Body Theory and the Quantum Discontinuity 1894–1912</i>.<sup>25</sup> Das Buch hat mich so beeindruckt, dass ich es mir bald über private Kanäle beschafft habe – das war eine wirkliche Anschaffung, nicht nur intellektuell gesehen, sondern nicht zuletzt pekuniär, denn der (illegale) Umtauschkurs der Westmark lag bei 1 : 5, das heißt bei über 100 Mark (Ost), das heißt fast 20 % meines Monatslohns waren zu investieren und gegenüber meiner Frau (und meinem Geiz) zu rechtfertigen.</p><p>Physikhistorisch fand ich im Übrigen die zweibändige Weltgeschichte des russischen Physikers Jakob G. Dorfmann anregend, weil sie einen interessanten und komprimierten Überblick zur Entwicklung der Physik von der Antike bis zum 20. Jahrhundert liefert.<sup>26</sup> Interessant war das Buch insofern, als dass es eine gute Synthese von internalistischer und externalistischer Wissenschaftsgeschichte bot – dies wohlgemerkt aus der Sicht eines „Postdocs“ in den späten 1970er Jahren. Große Teile des Buches habe ich sogar ins Deutsche übersetzt, nicht um deutsch-sowjetische Freundschaft zu zelebrieren, sondern ich wollte auf diese Weise vor allem systematisches Wissen und einen Überblick zu meinem Fachgebiet erwerben, was an einem außeruniversitären Forschungsinstitut nicht trivial ist – bis heute übrigens! Meine Übersetzungstätigkeit war natürlich auch mit der Hoffnung verbunden, vielleicht einen Verlag zu finden, was aber leider nicht in Erfüllung ging – <i>c'est la vie</i> …</p><p>In Euren aufgelisteten Fragen habt Ihr geschrieben, dass ich in meinen Arbeiten vor 1990 nicht oder nur verhalten ideologisch argumentiere, was einen im Nachhinein freut. Es war im Übrigen damals schon von anderen bemerkt worden, denn ein inzwischen verstorbener Kollege aus dem Westen sagte mir mal: „Wenn man Sie gelesen hat, dann wusste man, Sie sind kein Bekennender.“ Obwohl ich den Mut und die Zivilcourage zum Dissidenten nicht hatte, mich weitgehend loyal verhielt und wie so viele allzu oft die Schnauze gehalten habe, wurde ich von der Stasi in die Tüte „Freigeist“ gesteckt. Es gab eben bestimmte Grenzen, die ich nicht unterschreiten wollte; grundsätzlich hatte und habe ich nichts gegen den Sozialismus, sympathisiere damals wie heute eher mit sozialistischen Idealen wie Gerechtigkeit, Solidarität und Emanzipation (Freiheit und Demokratie sowieso), nur eben nicht in der stalinistischen Form, wie er im realen Sozialismus der DDR und den anderen sozialistischen Ländern doktriniert wurde.</p><p><b>MG</b>: Vielleicht noch einen Nachtrag zum Organisationsbegriff: Passt der in die Richtung des Konzepts der „Wissenschaftswissenschaft“, das, soweit ich das weiß, aus der sowjetischen Forschung stammt und eine theoretische Durchdringung des Funktionierens und der Organisation von Wissenschaft bezeichnet, oder ist das eine andere Debatte?</p><p><b>DH</b>: Wahrscheinlich wird das so gewesen sein. Doch was heißt Debatte, es war die Gründungs-DNA unseres Instituts, dessen intellektuelle und ideologische Wurzeln in ihren Grundsätzen wohl mehr oder weniger sakrosankt waren und das in seinem theoretischen Konstrukt von der Wissenschaftswissenschaft wohl in erster Linie den sowjetischen Diskussionen zur <i>naukovedenye</i> [Wissenschaftswissenschaft] entlehnt war. Über diese war man „aus erster Hand“ informiert, denn die Beziehungen zur Sowjetunion waren eng und dominant. Kröber zum Beispiel hatte Philosophie in der Sowjetunion studiert. In der Gründungsphase des Instituts gab es auch vielerlei und regelmäßigen Besuch von Kollegen aus dem Land des „Großen Bruders“. Ich selbst, der dort erst ab 1976 Mitarbeiter war, erinnere mich beispielsweise an mehrere Besuche von Bonifaz M. Kedrow<sup>27</sup> am Institut. Der, damals schon um die 80, war eine Art „Guru“ der sowjetischen Wissenschaftsgeschichte und -philosophie, nicht zuletzt ein alter „Bolschewik“.</p><p>Die Wissenschaftsorganisation war besonders präsent an der Uni, das hängt sicher mit der Ausbildungsfunktion der dortigen Sektion Wissenschaftstheorie und -organisation zusammen.</p><p><b>AtH</b>: Dieses Institut gibt es – in veränderter Form – nach wie vor und wurde kürzlich in ein interdisziplinäres Zentrum für Wissenschaftsforschung transferiert.<sup>28</sup> Interessant ist, dass in Gesprächen mit ehemaligen Absolventen dieses Studiengangs John D. Bernal und die Lektüre seiner Bücher in den Vordergrund gestellt wird.</p><p><b>DH</b>: Eigentlich ist die Sektion keine Vorgängerin des Zentrums, denn sie ist ja 1990 komplett abgewickelt worden, doch Bernal war so eine Art Gottvater … Ich hatte ihn schon als Physikstudent gelesen; nicht sein für die marxistische Wissenschaftstheorie so grundlegendes Buch <i>The Social Function of Science</i>, das in der DDR übrigens erst 1986 erschienen ist,<sup>29</sup> aber die voluminöse Studie <i>Die Wissenschaft in der Geschichte</i>, die seit den 1960er Jahren auch in einer DDR-Ausgabe vorlag,<sup>30</sup> das heißt problemlos zugänglich war. Allerdings habe ich ihn zunächst nicht als Antithese zur bürgerlichen Wissenschaftsgeschichte oder als Grundlage einer neuen, marxistisch verstandenen Wissenschaftsgeschichte gelesen; vielmehr als eine generalisierende Zusammenschau der Wissenschaftsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart – ähnlich wie die oben erwähnte Physikgeschichte von Dorfmann. Ich fand Bernals Buch interessant, aber nicht aufregend, und hatte als Physikstudent auch nicht den Wissensstand, um das Revolutionäre daran zu erfassen. Wann ich das begriffen habe, kann ich nicht einmal mehr sagen; ich glaube, erst nach meiner Promotion und in der Atmosphäre unseres Instituts. Hier war Bernal natürlich <i>en vogue</i>, doch ob er Gegenstand tiefgründiger und exzessiver Diskussionen war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.</p><p>Ich glaube auch, dass viele im Parteiapparat und auch unter meinen angepassten Kollegen lieber auf die sowjetische Literatur zurückgriffen. Das war ähnlich wie mit dem berühmten Aufsatz von Boris Hessen, den man erst spät in den stalinistischen Giftschränken „wiederentdeckt“ hatte, weil Hessens tragisches Schicksal als Opfer des stalinistischen Terrors orthogonal zum epistemisch revolutionären Gehalt seines Aufsatzes stand und damit schwierig umzugehen war. Es ist sicherlich ein Armutszeugnis der marxistisch-leninistischen Wissenschaftsforschung und -geschichte, dass der Nachdruck von Hessens berühmtem Vortrag „The Socio-Economic Roots of Newton's Principia“ in einem Studienband des westdeutschen Fischer Verlages publiziert wurde<sup>31</sup> und danach im Westen ein Revival erlebte;<sup>32</sup> im Osten dagegen und bei uns am Institut wurde dieses Thema nach wie vor eher unter der Hand und mehr in privaten Diskussionsgruppen diskutiert. Meines Wissens erschien erst 1990 in der (untergehenden) DDR eine umfassende Würdigung von Hessen und seinen Thesen zur wissenschaftlichen Revolution.</p><p><b>MG</b>: War Bernals Positionierung <i>vis-à-vis</i> Trofim D. Lyssenko<sup>33</sup> und Nikolai Vavilov<sup>34</sup> damals auch ein Thema?</p><p><b>DH</b>: Das waren zu meiner Zeit alles keine Tabuthemen mehr, doch es war kein <i>mainstream</i>, eher die Sache von kritischen und unangepassten Geistern, ja Außenseitern. Offiziell wollte man sich damit nicht wirklich beschäftigen, und dies aus gutem Grund, denn die Erfahrungen des 17. Juni 1953 und der kurzen „Tauwetter-Periode“ der späten 1950er Jahre, aber auch die blutige Niederschlagung der polnischen Arbeiteraufstände (1956, 1968, 1980) sowie des mit sowjetischen Panzern niedergewalzten ungarischen Volksaufstandes von 1956 und insbesondere des „Prager Frühlings“ 1968 waren im kollektiven Gedächtnis der DDR-Gesellschaft genauso fest verankert wie die rigiden Eingriffe in den Kulturbetrieb – Stichwort 11. Plenum (1965) – oder die restaurativen Tendenzen unter Honecker. Man wusste, es kann sehr schnell wieder anders, repressiver und intoleranter werden; andererseits war der „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten“ klar, dass die Beschäftigung mit solchen Themen sehr schnell die „Leichen im Keller“ des Sozialismus und die unter der Decke gehaltenen gesellschaftlichen Widersprüche offenbaren würde.</p><p>Die Lebensgeschichte meines akademischen Lehrers Friedrich Herneck ist dafür im Übrigen ein gutes Beispiel. In den späten 1950er Jahren war er im Zusammenhang mit seinen Forschungen zu „fortschrittlichen und atheistischen Wissenschaftlern“ auf ein autobiographisches Manuskript des österreichischen Physikers und Wissenschaftsphilosophen Ernst Mach gestoßen und hatte dieses in einer kommentierten Fassung publiziert. In der Wahrnehmung dogmatischer Kollegen und des stalinistisch geprägten Parteiapparats hatte er dabei aber die nötige „revolutionäre Wachsamkeit“ vermissen lassen, war doch Mach durch Lenins Streitschrift <i>Materialismus und Empiriokritizismus</i> als Revisionist entlarvt und quasi unter Bann. Herneck geriet so als überzeugter Kommunist, der am Ethos wissenschaftlicher Forschung festhielt, in die Mühlen der SED-Inquisition. Er wurde als Angehöriger einer „parteifeindlichen Gruppe“ denunziert, bekam ein Parteiverfahren, das seine Entlassung aus dem Hochschuldienst forderte. Allerdings wurde er am Ende nur seiner Stellung als Dozent im Marxismus-Leninismus-Grundlagenstudium enthoben, was ihm letztendlich zum Vorteil geriet, denn er wurde mit der Vorbereitung des 150-jährigen Universitätsjubiläums der HU 1960 betraut. Von da an stieg sein Stern als Wissenschaftshistoriker, doch war er ein „Gefallener“, dem man fortan nach wie vor wegen seiner „undurchsichtigen Haltung“ misstraute und der wegen seiner ausführlichen Korrespondenz mit westlichen Gelehrten für sein Buch <i>Bahnbrecher des Atomzeitalters</i><sup>35</sup> wohl auch von den Organen der Staatssicherheit überwacht wurde. Es war nicht nur die Stasi, die einem unabhängigen Geist wie Herneck auf den Leib rückte. Es waren auch Kollegen, die indoktrinierten – so kann ich mich noch lebhaft an eine Dienstversammlung erinnern, das muss Mitte der 1970er Jahre gewesen sein, wo über Herneck hergezogen wurde, weil er in der westdeutschen Zeitschrift <i>Die Naturwissenschaften</i> eine kleine Notiz publiziert hatte.<sup>36</sup> Es könne doch nicht sein, „dass ein Professor in West-Zeitschriften publiziert!“ Solch ein Verdikt zielte natürlich nicht nur auf die vermeintliche feindliche Tätigkeit des Professor Herneck, sondern war vor allem an potentielle Nachahmer gerichtet. Beispielsweise hatte man in unserem Bereich und wohl auch im ganzen Institut bis zur Wende nicht in Westzeitschriften zu publizieren – die Ausnahmen bestimmte der Direktor. Solche Praxis war von Fachgebiet zu Fachgebiet und von Institut zu Institut unterschiedlich. So hatte ich Anfang der 1980er Jahre einmal die Idee, einen Aufsatz über Max Born und Pjotr Kapitza in einer Westzeitschrift zu platzieren und argumentierte dabei mit dem Beispiel meines Kollegen Siegmund-Schultze von der HU, der gerade einen Aufsatz in der renommierten Zeitschrift <i>Archive for History of Exact Sciences</i><sup>37</sup> publizierte hatte. Von meinem Institutsdirektor Günter Kröber oder seinem Sekretär bekam ich jedoch die freundlich formulierte, aber bestimmte Anweisung: „Nee, machst du nicht.“</p><p>Das war die Atmosphäre in einem gesellschaftswissenschaftlichen Institut; in den Natur- und Technikwissenschaften wurde sowas natürlich nicht so rigide behandelt, wenn es überhaupt jemals solche Auswüchse gegeben hat. Das Englische war dort seit jeher deutlich mehr verbreitet und akzeptiert als in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern, wo es auch aus ideologischen Gründen diskreditiert war. Als ich in meiner Dissertation (1975) englischsprachige Zitate verwenden und nicht ins Deutsche übersetzen wollte, wurde mir von einem wohlmeinenden und treuen Genossen gesagt: „Also Hoffi, man schreibt in einer philosophischen bzw. wissenschaftshistorischen Qualifikationsschrift nicht in der Sprache des Klassenfeindes.“ Ich habe es bei den englischen Zitaten belassen und es ist nichts passiert – doch wie die Sache zehn oder zwanzig Jahre früher ausgegangen wäre, das weiß ich nicht.</p><p><b>AtH</b>: Wie fand überhaupt wissenschaftlicher Austausch oder generell die Kommunikation mit westlichen Kollegen statt?</p><p><b>DH</b>: Das hatte alles nach strikten und festgefügten Regeln zu erfolgen, bei Wahrung des Primats der Politik. Auf diesem Gebiet gab es eine Art von Kastenwesen, denn die Mitarbeiter waren getrennt, in die sogenannten Reisekader, die ins Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW) reisen durften – eine Minorität, die streng nach politischen und sicherheitspolitischen Kriterien selektiert worden war –, und in die Majorität der Institutsangehörigen, die von diesem Privileg ausgeschlossen war. In unserem Bereich waren von 15 Wissenschaftlern vier oder fünf Kollegen NSW-Reisekader, ein wohl repräsentatives Verhältnis, und um ein gängiges westliches Vorurteil klar zu stellen: Reisekader waren nicht per se IMs der Staatssicherheit, denn oft waren gerade sie – aus nachvollziehbaren sicherheitspolitischen Gründen – der Stasi-Observation ausgesetzt.</p><p>Ich war kein Reisekader, und ein entsprechender Antrag wurde wohl erst in der Endzeit der DDR, als die Agonie der Macht schon groß war, in den jeweiligen Gremien des Instituts vorbereitet bzw. diskutiert. Allerdings war es mir seit Aufnahme meiner Tätigkeit an der Akademie erlaubt, in die „sozialistischen Bruderländer“ zu Tagungen oder Forschungsaufenthalten zu reisen – so war ich relativ häufig in der Tschechoslowakei, wo es mit der Tschechischen Akademie und deren Forschungsgruppe Wissenschaftsgeschichte enge Kooperationsbeziehungen gab, mehrmals in Ungarn und zweimal in Moskau, im Herbst 1983 sogar zu einem viermonatigen Aufenthalt an unserem Partnerinstitut, dem Akademieinstitut für die Geschichte der Naturwissenschaft und Technik.</p><p>Da ich nicht gen Westen reisen durfte, aber privat wie auch wissenschaftlich immer intensiv ins „Gelobte Land“ geschielt habe, versuchte ich dieses Defizit dadurch zu minimieren, dass ich mit vielen Westleuten, die ich zum Beispiel auf Tagungen in Ungarn oder der Tschechoslowakei, aber auch in Moskau, kennengelernt hatte, eine intensive Korrespondenz pflegte. Meine Briefe mussten allerdings sämtlich dem Sekretariat des Institutsdirektors vorgelegt werden; die Postordnung des Instituts (wahrscheinlich auch die der ganzen Akademie) sah vor, dass die eingehende Post aus dem NSW vom Sekretariat des Direktors geöffnet und kontrolliert wurde.</p><p><b>AtH</b>: Und die Sekretärin las die dann …?</p><p><b>DH</b>: Es war nicht die Sekretärin, es war schon jemand von dem Rang eines diplomierten oder promovierten Wissenschaftsorganisators oder ähnlicher Qualifikation; wichtig war, revolutionäre Wachsamkeit zu zeigen. Wenn der Brief etwas Erklärungsbedürftiges oder Anstößiges enthielt, wurde ich hin und wieder zum Direktor zwecks Aufklärung des Sachverhalts zitiert. Auch die ausgehende Post wurde so behandelt, wobei man einen Briefentwurf dem Direktor vorzulegen hatte, der dem Westkollegen dann schrieb: „Sehr geehrte[r] Herr/Frau! Mein Mitarbeiter Dr. Dieter Hoffmann beschäftigt sich im Rahmen seiner wissenschaftshistorischen Forschungsarbeit mit dem Problem X und würde gern Y wissen.“ Einmal wollte ich Friedrich Hund<sup>38</sup> in Göttingen zur Geschichte der Quantentheorie befragen, doch bekam ich den Briefentwurf umgehend mit der handschriftlichen Bemerkung zurück: „Dem Hund schreibe ich nicht!“ Leider habe ich diesen Brief nicht aufgehoben. Hintergrund der brüsken Ablehnung war, dass Kröber als revolutionärer FDJler oder was auch immer Hund in Jena erlebt und ihm wohl insbesondere nicht verziehen hatte, dass er 1951 der DDR den Rücken gekehrt und in den Westen gewechselt war. Republikflucht war damals eine strafbare Handlung und ein großes Sakrileg, das insbesondere bei doktrinären Kommunisten in der Zeit des Kalten Krieges über den Tod hinaus registriert und sanktioniert wurde.</p><p><b>AtH</b>: Mit anderen Worten: Du unterhieltest keine Korrespondenz mit Hund.</p><p><b>DH</b>: Doch. Ich ließ den Brief einfach von einem Freund schreiben. Dieser war Physiker und dort gab es solche strengen und unsinnigen Vorschriften nicht – sie wären dort auch nicht praktisch umsetzbar gewesen. Man konnte sich also mit etwas Phantasie und kleinen Tricks über solchen Unsinn hinwegsetzen und durchlavieren.</p><p>Die Geschichte ist im Übrigen in die zweite Hälfte der 1970er Jahre zu datieren – in den 1980er Jahren verhielt man sich auch bei uns etwas „liberaler“, aber das Kontrollsystem blieb in seinem Wesen genauso demütigend. Man durfte nun seine West-Briefe selbst adressieren und diese wurden nun nur noch von der Leiterin der Stabsstelle „Internationale Beziehungen“ und zuweilen sicher auch vom Direktor persönlich gegengelesen. Die berüchtigte Schere im Kopf verhinderte, dass es übermäßig viele Beanstandungen gab, die Einschränkungen oder Verbote zur Folge haben konnten.</p><p><b>MG</b>: Noch einmal zurück zu Kuhn. Wie habt Ihr ihn und die Debatten um die <i>Structure</i> wahrgenommen?</p><p><b>DH</b>: Kuhn wurde in der DDR relativ früh wahrgenommen. Gerhard Harig<sup>39</sup> hatte sich 1966, also noch vor der deutschen Ausgabe des Buches im Suhrkamp Verlag, in der <i>NTM</i> mit dem Kuhn'schen Paradigma-Konzept auseinandergesetzt.<sup>40</sup> Dieser Aufsatz ist – wie so manches aus dem Osten – bisher nicht in seiner Bedeutung angemessen gewürdigt worden, obwohl Wolfgang Krohn<sup>41</sup>2010 in der <i>NTM</i>-Jubiläumsschrift eine kluge Exegese von Harigs Aufsatz vorgelegt hat.<sup>42</sup> Kuhn war natürlich auch für uns eine Größe, mit der man sich am Institut auseinandersetzte – für meine Begriffe allerdings etwas einseitig und stark ideologisch durchtränkt im Rahmen einer „Kritik der bürgerlichen Philosophie“, so der Name einer Forschungsgruppe am Institut. Dort setzte man sich ebenfalls mit den Theorien von Popper, Lakatos und anderen sogenannten spätbürgerlichen Wissenschaftstheoretikern auseinander – aber immer mit dem Fokus des ideologischen Verdikts und der Besserwisserei. Bei Popper und Lakatos hatte man zudem Abstand zu halten, denn man konnte sie auf keinen Fall als „reine Gelehrte“ behandeln, galt Popper doch als Ideologe und Theoretiker der Sozialdemokratie, und Lakatos hatte im kommunistischen Ungarn als Revisionist im Gefängnis gesessen und war dann nach 1956 in den Westen emigriert. Vorsicht war angesagt. Die Analysen meiner Kollegen fanden allein schon aus diesem Grunde nicht mein besonderes Interesse, weil man am Anfang der Analyse meist erahnen konnte, was am Ende herauskommen würde – da unterhielt ich mich dann schon lieber mit Laitko oder auch mit Hans-Peter Krüger<sup>43</sup>, der mir Habermas nahe brachte, und die zu diesen Fragen deutlich profundere und differenziertere Ansichten hatten.</p><p>In den späten 1980er Jahren vollzog sich in der Beschäftigung mit diesen Fragen ein Wandel – zumindest empfand ich das so. Die Orthodoxie wurde durch Bücher wie Reinhard Moceks<sup>44</sup> <i>Neugier und Nutzen</i> oder Ulrich Rösebergs<sup>45</sup> <i>Szenarium einer Revolution</i> aufgebrochen.<sup>46</sup> Dass Moceks <i>Neugier</i> nicht nur von mir als interessant empfunden wurde, zeigt, dass in unserem Bereich in einer Art „Lesezirkel“ unter der Leitung Laitkos und der gelegentlichen Beteiligung Moceks – beide verband eine alte Freundschaft – das Buch intensiv diskutiert wurde. In diesen Büchern, mehr noch bei Röseberg, findet man auch, wenn auch etwas versteckt, Ansätze, das angelsächsische Konzept der <i>History and Philosophy of Science</i> für die eigene Forschung nutzbar zu machen. Die Ironie, um nicht von Tragik zu sprechen, ist dabei, dass diese fachlich guten und inspirierenden Kollegen mit dem politischen System und wie im Fall von Röseberg zudem eng mit der Staatssicherheit verbandelt waren. Dies hatte ihnen im Übrigen als Reisekader überhaupt erst die Möglichkeit gegeben, sich in der Welt umzutun und solche innovativen Konzepte wahrzunehmen.</p><p><b>MG</b>: Wäre das ein positives Beispiel für eine Verzahnung von Geschichte und Theorie?</p><p><b>DH</b>: In der Physikgeschichte würde ich das, wie eben erwähnt, bei Röseberg sehen; das Projekt von Guntau und Laitko zum Disziplinbegriff gehört ebenfalls hierher. Das daraus hervorgegangene Buch <i>Der Ursprung der modernen Wissenschaften</i> wurde auch im Westen gelesen.<sup>47</sup> Im Buch findet man beispielsweise einen Beitrag von Wolfgang Girnus<sup>48</sup>, der auf seine Dissertation zurückgeht, der von einem „theoretischen Überbau“ ausgehend – was ist wissenschaftstheoretisch und soziologisch unter einer Disziplin zu verstehen – die Kärrnerarbeit der Disziplinwerdung beschrieb: Welche Lehrstühle, welche Zeitschriften, welche Forschungsthemen etc. es gab. Auch von mir findet man im Sammelband einen Beitrag – eine in ihrem Ansatz ganz traditionelle Studie „Zur Etablierung der ‚technischen Physik‘ in Deutschland“ –, der zu meinen meist zitierten Aufsätzen gehört und immer noch nachgefragt wird. Das sind solche Sachen zur Verzahnung von Theorie und Geschichte, die bei uns in der Gruppe gemacht wurden.</p><p><b>MG</b>: Man könnte sich auch eine internalistische Form von Wissenschaftsgeschichtsschreibung als dialektische Begriffsgeschichte vorstellen, die in der DDR ganz gut funktioniert haben dürfte.</p><p><b>DH</b>: So etwas wurde auch gemacht. Aber das entartete sehr schnell in eine Art scholastische Debatte. Für mich jedenfalls. Solche Begriffsdialektik wurde von Laitko betrieben und von Kollegen, die durch Peter Ruben<sup>49</sup> beeinflusst waren, zum Beispiel Peter Beurton<sup>50</sup>, Bruno Hartmann<sup>51</sup> oder Renate Wahsner<sup>52</sup>, um ein paar Namen zu nennen. Meine Sache war das nicht, doch zur Kenntnis nahm man diese Dinge wohl, weil sie nicht dem marxistisch-leninistischen Kanon folgten.</p><p><b>AtH</b>: Noch einmal zurück zu den Büchern und wie Ihr an diese gekommen seid. Stimmt es, dass das in der Akademie leichter war als an der Universität?</p><p><b>DH</b>: Ja, die Beschränkungen waren an der Uni wohl etwas ausgeprägter, in der Akademie nicht so stark, zumal uns sicher auch mehr Mittel (Devisen!) zur Verfügung standen. Ich denke, dass die Literatur, die wir für unsere konkreten Forschungen brauchten, im Großen und Ganzen angeschafft oder über andere Bibliotheken beschafft werden konnte; sehr viel prekärer war die Reiseproblematik. Was die Literaturbeschaffung angeht, ließen sich mit etwas Bauernschläue und der Pflege persönlicher Kontakte sogar private belletristische Lesewünsche erfüllen. Im Haus gab es z. B. das Zentralinstitut für Literaturwissenschaften mit einer gut sortierten Bibliothek. Und da lieh ich mir zuweilen die neusten (West-)Bücher aus, faktisch kurz nachdem sie erschienen waren, zum Beispiel die <i>Jahrestage</i> von Uwe Johnson, den ich schon damals bewunderte und der in der DDR auf dem Index stand. Die Literaturbeschaffung war eigentlich institutionell geregelt, doch gab es auch private Kanäle, die toleriert wurden. Schriftsteller und Künstler, die ja meist freischaffend waren, konnten eine sogenannte Postzoll-Nummer beantragen, die verhinderte, dass der DDR-Zoll oder die Staatssicherheit Buchsendungen aus dem Westen – wie sonst üblich – beschlagnahmte, und diese dann den Adressaten nicht erreichten. Dafür brauchte man Westgeld oder eine betuchte Verwandtschaft im Westen – über beides verfügte ich nicht. Allerdings konnte man mit Westkollegen Literatur tauschen: „Ich schicke dir das Buch, Du schickst mir das.“ Für solchen Naturalienhandel musste erstmal ein geeigneter Partner gefunden werden. Da die Westpost ja kontrolliert bzw. mitgelesen wurde, durfte man auch nicht als Bittsteller auftreten, da dies den Tugenden eines sozialistischen Menschen und erst recht dem Verhaltenskodex eines Akademiemitarbeiters widersprach. Insofern war es auch in diesem Falle von Vorteil, wenn man Reisekader war, denn so war es einfacher, kollegiale Freundschaften zu schließen und Buch-Deals anzubahnen. Da ich nicht dieser Kaste angehörte, pflegte ich einen recht intensiven Briefverkehr, zum Beispiel mit Andreas Kleinert<sup>53</sup> in Hamburg. Diesen hatte ich auf dem Wissenschaftshistoriker-Kongress in Bukarest im Sommer 1981 getroffen, und wir sind bis heute in engem Kontakt.</p><p>Ich habe ihm damals auch bei Archivrecherchen geholfen, was bei einem Westler nicht trivial war, denn man agierte da in einem Graubereich (illegale Nachrichtenbeschaffung!), der sehr schnell kriminalisiert werden konnte. Denn die Weitergabe von Informationen an West-Kollegen, wozu auch Archivmaterial gehörte, war allein schon durch die Nutzungsordnung untersagt.</p><p><b>MG</b>: Gab es da institutionalisierte Foren wie regelmäßige Tagungen oder Treffen, wo man wusste, dass sich dort vielleicht Begegnungen mit Forschern aus dem westlichen Ausland ergeben?</p><p><b>DH</b>: Ja sicher, eben die schon erwähnten internationalen Konferenzen. Darüber hinaus gab es im Osten wie im Westen spezielle Foren oder Arbeitskreise, die jedoch meist nicht öffentlich bzw. deren Teilnehmer streng selektiert waren. Es gab zum Beispiel die sogenannten Jours Fixes am Institut für Gesellschaft und Wissenschaft (IWG) der Uni Erlangen, oder auch regelmäßige Treffen im österreichischen Deutschlandsberg. Da kamen aber nur die geprüften Reisekader hin. Mir (und natürlich auch anderen) blieb es vorbehalten, auf Tagungen nach Budapest oder Prag zu fahren. Die Beziehungen mit Prag waren besonders eng, und dort erinnerte vieles an die DDR – nach 1968 war alles streng „durchherrscht“ und auf Parteilinie gebracht worden. Wohingegen in Ungarn der reale Sozialismus deutlich „liberaler“ daherkam und man sehr viel mehr Westleute treffen konnte; in Polen sowieso. Die Polen schauten aber immer über uns hinweg, gleich bis nach Westberlin oder bis nach …</p><p><b>AtH</b>: … Frankreich.</p><p><b>DH</b>: Frankreich, oder auch nach Westdeutschland. Obwohl ich ein relativ romantisches Verhältnis zu Polen habe (dorthin ging als junger Oberschüler meine erste Auslandsreise, wo ich nicht nur ein aufmüpfiges Volk, sondern den Jazz und die moderne Kunst in Gestalt von „Nägeln in Brettern“ entdeckte), gelang es mir nie, wissenschaftliche Beziehungen zu dortigen Kollegen aufzubauen. In meiner Wahrnehmung gab es dort auch nicht so eine breite Wissenschaftsgeschichte wie bei uns oder in der Tschechoslowakei; natürlich forschte man sehr viel über Copernicus oder zur polnischen Wissenschaftsgeschichte.</p><p><b>MG</b>: Ich hake hier nochmal nach. In den Naturwissenschaften fanden ja durchaus zum Beispiel Jahrestagungen von Fachgesellschaften, Biochemie oder so etwas, in Prag statt, da gab es also einigen Austausch. Offensichtlich funktionierten diese teilweise über die <i>International Unions of Science</i> organisierten Gesellschaften über den Eisernen Vorhang hinweg. Gab es Vergleichbares im Bereich Wissenschaftsgeschichte oder Wissenschaftsforschung?</p><p><b>DH</b>: Das wüsste ich jetzt nicht, in den Naturwissenschaften natürlich. Es hängt immer von den Leuten ab. Du sagtest gerade „Prag“ und „Biochemie“. In Prag war Soňa Štrbáňová.<sup>54</sup> Das ist eine Biochemikerin, die sehr anerkannt ist – sie lebt ja noch, ist inzwischen fast 90 und immer noch aktiv –, die viele internationale Beziehungen hatte. Die Leute aus dem Westen kamen ja nicht aus Freundlichkeit ins vermeintliche „Sibirien“, die wollten ja neben Gulasch und Pilsner Urquell insbesondere intellektuell etwas geboten bekommen bzw. lernen. Das heißt, wenn es Leute gab, die interessant waren – dies aus persönlicher Sicht, aber vor allem natürlich fachlich – dann konnte schon so etwas entstehen. In der DDR konnte ich als „Schütze Arsch“ nicht vorschlagen, bestenfalls über Bande anregen, dass dieser oder jener mal eingeladen werden sollte. Das geschah ein oder zwei Ebenen über mir, denn damit waren nicht zuletzt Fragen der politischen Großwetterlage, der Finanzierung oder inner-institutionelle Machtfragen verbunden – abgesehen von den ideologischen Prämissen. Außerdem darf man sich diese sozialistische Gesellschaft und deren Möglichkeiten nicht so vorstellen, wie wir es aus den letzten zwanzig, dreißig West-Jahren kennen.</p><p><b>AtH</b>: Ich würde gern vom Reisen und den Kontakten weg hin zu den wissenschaftshistorischen Fragen, die für euch in den 1970er Jahren wichtig wurden und für die Ihr – wenn ich Dich richtig verstanden habe – eigene Arbeitsgruppen gründetet?</p><p><b>DH</b>: Ja, und Du meinst sicherlich die „Arbeitsgruppe Physikgeschichte“. Es gab die Physikalische Gesellschaft der DDR und dort – wie überhaupt bei Physikern – war das Interesse für physikhistorische Fragen sehr groß. Diesem grenz- und systemüberschreitenden Faktum hatte man Anfang der 1970er Jahre in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft – also im Westen – Rechnung getragen und unter der Federführung des Stuttgarter Physikhistorikers Armin Hermann einen Fachverband Geschichte der Physik gegründet. Auch wenn es keine direkten institutionellen Kontakte zwischen den beiden deutschen Physikalischen Gesellschaften oder den Physikhistorikern in Ost und West gab, konnte man darüber in den <i>Physikalischen Blättern</i> lesen, die in den Fachbibliotheken auslagen (in manchen allerdings unter Verschluss). Ich sagte mir, das sollten wir eigentlich auch bei uns haben. Parallel und unabhängig von meinen Überlegungen hatte Horst Kant, der damals an der Humboldt-Universität war, eine solche Idee aus ganz anderen Kontexten heraus entwickelt und als er in den späten 1970er Jahren zu uns ans Institut kam, haben wir uns zusammengetan und nun gemeinsam das „Projekt AG Physikgeschichte“ vorangetrieben, dessen offizielle Gründung 1980 erfolgte. Wenn ich mich recht erinnere, schrieben wir einen entsprechenden Brief an den Vorstand der Gesellschaft bzw. seinen Sekretär. Zuvor hatten wir natürlich unseren Chef, Hubert Laitko, über unsere Initiative informiert, der dagegen nichts einzuwenden hatte und uns gewähren ließ. Wer weiß, wozu eine solche Kooperation nützlich sein könnte, wird er vielleicht gedacht haben, denn die Physiker stellten auch in der DDR eine mächtige Gruppe dar, die nicht nur über symbolisches Kapital verfügte. Ich und wohl auch Horst Kant dachten uns, obwohl solche Aspekte nie offen zwischen uns diskutiert oder gar in die Öffentlichkeit getragen wurden, im Windschatten der mächtigen und pragmatischen Physiker würden wir vielleicht Dinge diskutieren und möglich machen können, die bei uns am Institut nicht, oder nur schwer bzw. in von uns nicht gewünschten Koalitionen zu realisieren waren. Darüber hinaus ging es uns darum – wir waren ja beide ausgebildete Physiker –, eine Brücke zwischen der Fachphysik und ihrer Geschichte zu schlagen, was an unserem Institut natürlich nicht im Fokus des Interesses stand, aber für mein/unser Verständnis von Wissenschaftsgeschichte immer und bis heute zentral war und ist. Dabei war es für mich (wahrscheinlich auch für Horst) wichtig, die Philosophen ein bisschen auf Distanz zu halten – wir wollten sie nicht ausschalten, doch wir wollten „den Hut“ aufhaben, denn sonst hätte die Sache sehr schnell einen philosophischen „Spin“ bekommen und damit in eine prägende ideologische bzw. politische Orientierung gedrängt werden können. Das war sicher keine Form von politischem Widerstand oder Dissidenz, aber es war das Bemühen, uns intellektuelle Freiräume und auch eine gewisse Unabhängigkeit zu verschaffen.</p><p><b>AtH</b>: Und wie wurde dieses Interesse dann institutionalisiert?</p><p><b>DH</b>: Wir organisierten zunächst physikhistorische Vorträge; so drei-, viermal im Jahr. Ab 1985 wurden von uns im zweijährigen Rhythmus und wegen des gesuchten Kontakts zu den Fachphysikern parallel zu deren Jahreshaupttagungen größere „Physikhistorische Tagungen“ unter internationaler Beteiligung organisiert, wo wir Gäste aus der Sowjetunion, Ungarn, der Tschechoslowakei und auch aus den USA und der Bundesrepublik begrüßen konnten;<sup>55</sup> im Frühjahr 1991 fand schließlich in Dresden die erste gesamtdeutsche Tagung statt, zu der erfreulich viele Kollegen aus dem Westen angereist kamen; man war damals neugierig. Die Physikhistorischen Tagungen haben im Übrigen die Wiedervereinigung überlebt, was angesichts des allgemeinen Kahlschlags nicht selbstverständlich war; heute sind wir bei der 20. oder so angelangt.</p><p>Diese Aktivitäten wurden zu einem Forum, wo wir versuchten, auf die Wahrnehmung der Physikgeschichte und ihre Bedeutung für die Physik Einfluss zu nehmen; ebenfalls wollten wir die Fachphysiker mit aktuellem, physikhistorischem Fachwissen bekannt und nicht zuletzt die methodische Spezifik wissenschaftshistorischer Forschungen deutlich machen – Physikgeschichte ist eben nicht Physik, sondern Geschichte! Wir konnten in unserem missionarischen Ehrgeiz zumindest auf die verbale Unterstützung von einflussreichen, ja mächtigen Physikern zählen. So auf Robert Rompe<sup>56</sup>, „Oberphysiker der DDR“, der sich auf seine alten Tage dafür interessierte, wie Physikzentren wie Berlin entstanden waren, oder Hans-Jürgen Treder<sup>57</sup>, von dem es anregende wissenschaftshistorische sowie wissenschaftsphilosophische Studien gibt, und der gemeinsam mit Rompe den Terminus der „Großen Berliner Physik“ geprägt und propagiert hat. Damit ist gemeint, dass beginnend mit der Berufung von Helmholtz als Physikordinarius der Berliner Universität, also seit 1871 und bis 1933, vor allem aber in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende, in Berlin nicht lokale Physik, sondern Weltphysik getrieben wurde. Intensive physikhistorische Interessen pflegte ebenfalls der Thermodynamiker Werner Ebeling<sup>58</sup>, mit dem ich seit Mitte der 1970er Jahre – damals wirkte er noch in Rostock – persönlich bekannt bin und mit dem ich auch gemeinsam publiziert habe.<sup>59</sup> Wenn man solche Leute im Hintergrund hat und sie für die einen bewegenden Themen interessieren kann, hilft es, diese in der Fachcommunity durchzusetzen. Es ist so, als wenn Sie heute einen Nobelpreisträger als persönlichen Förderer haben. Dann ist man zwar nicht so sakrosankt wie der Nobelpreisträger selbst, aber man kann doch mehr Sachen machen und durchsetzen, ähnlich einem akademischen Patronage-Verhältnis.</p><p>Die Beschäftigung mit der „Großen Berliner Physik“ und deren berühmten Protagonisten bediente nicht nur physikhistorische Forschungsinteressen, sondern besaß darüber hinaus auch noch einen handfesten wissenschaftspolitischen und ideologischen Impetus. Es sollte eine Tradition sichtbar machen, die ins Hier und Heute führte. Solches war im Marxismus und speziell für das marxistische Geschichtsbild immer wichtig: die Tradition, die hier bei uns auf fruchtbaren Boden fiel. In der DDR, die unter hohem Legitimationsdruck stand, spielte diese Bezugnahme noch eine besondere Rolle, sollte dadurch doch die Misere der Gegenwart verdeckt und verschleiert werden – man redete über die große Zeit der Berliner Physik, doch wollte man mit der Propagierung dieser wirkmächtigen Tradition an deren Abglanz partizipieren und die Durchschnittlichkeit der aktuellen Forschungsergebnisse kaschieren.</p><p>In der Physikalischen Gesellschaft haben wir in den 1980er Jahren zum Beispiel Tagungen zum 100. Geburtstag von Niels Bohr oder Erwin Schrödinger veranstaltet oder eben im Jahr des Berlin-Jubiläums 1987 zur „Großen Tradition der Berliner Physik“.</p><p>Bestimmte Ideen oder gar Projekte, die man in unserem Institut oder an anderen gesellschaftswissenschaftlichen Institutionen nicht hätte realisieren können oder die auf kein Interesse stießen, machten wir dann eben unter dem Patronat der Fachwissenschaften und speziell mit unserer Fachgruppe „Geschichte der Physik“. Da ließ sich auch in bescheidenem Maße Geld zur Finanzierung solcher Veranstaltungen akquirieren und man konnte damit ebenfalls seine wissenschaftliche Reputation und Akzeptanz verbessern. Als ich mich Mitte der 1980er Jahre für Ernst Mach zu interessieren begann, ließ sich Letzteres gut nutzen. Ich hatte ja schon erwähnt, dass Mach durch Lenin zum „Beelzebub“ der marxistisch-leninistischen Philosophie gemacht worden war und mein akademischer Lehrer Friedrich Herneck darüber gefallen ist. Damit war mir natürlich bewusst, dass meine Beschäftigung mit Mach in einem (ideologischen) Minenfeld erfolgen würde. Deshalb wollte ich mich nicht mit den Philosophen oder gar der „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten“ darüber auseinandersetzen, ob Mach als Philosoph nun gut oder schlecht war. Da hätte ich leicht zum Verlierer werden können, zumal angesichts meiner philosophischen Defizite. Zur Rehabilitation von Mach wollte ich deshalb einen Umweg gehen, der auch meinen Fähigkeiten und Interessen entsprach, und den Physiker in den Fokus rücken: Ich wollte zeigen, dass er zumindest ein sehr guter Physiker gewesen war, was im Lichte der leninistischen Diffamierungen allzu leicht und geflissentlich vergessen wurde. Daneben wollte ich noch ein anderes Forschungsdesiderat aufarbeiten: Machs Prager Schaffensperiode, die fast drei Jahrzehnte von 1867 bis 1895 währte und damit seine längste und wohl produktivste war. Zudem erfolgte in diesen Jahren die Teilung der Prager Universität in eine Deutsche und Tschechische Universität, bei der Mach als Rektor besonders gefordert war. In diesem Nationalitätenkonflikt zeigte er sich im Übrigen nicht als Chauvinist und Nationalist wie viele seiner Zeitgenossen. Dieser thematische Rahmen wurde dann zur Grundlage meiner „Dissertation B“ (Habilitation), bei der ich von Hubert Laitko sowohl intellektuell als auch institutionell großzügig unterstützt wurde – so konnte ich 1985 im Rahmen des Akademie-Austauschprogramms für vier Monate nach Prag gehen, um in den dortigen Archiven meine Forschungen voranzutreiben. In der Zeit der politischen Wende im September 1989 habe ich meine Arbeit erfolgreich an der Humboldt-Universität verteidigen können. Bereits im Jahr zuvor, anlässlich des 150. Geburtstages von Ernst Mach, hatten wir sozusagen als Joint Venture von Physikalischer Gesellschaft, Kulturbund, dem Potsdamer Einstein-Laboratorium und natürlich unserem Institut, eine Mach-Tagung organisiert, die eine neue marxistische Mach-Rezeption auf den Weg bringen sollte. Sie erregte damals einige Aufmerksamkeit, doch sind die Intentionen sehr schnell von den politischen Ereignissen und den Folgen der deutschen Wiedervereinigung in den Schatten gestellt und zur Marginalie geworden. Neben Mach habe ich mich in meinen Forschungen generell immer wieder mit wissenschaftlichen „Außenseitern“ und marginalisierten Wissenschaftlern beschäftigt – so in der Zeit der Friedlichen Revolution in der DDR mit Robert Havemann, dem Physikochemiker und wohl wichtigsten Dissidenten der DDR.<sup>60</sup> Seine öffentliche Rehabilitierung Ende November 1989 wurde für mich Anlass, umgehend an das Archiv der SED den Antrag auf Einsichtnahme in die „Akte Havemann“ zu stellen, womit ich wohl der erste Forscher war, der dazu im Parteiarchiv und anderen Archiven damals gearbeitet hat und woraus in den folgenden Jahren mehrere Publikationen entstanden sind.</p><p>Noch ein anderer Anknüpfungspunkt meiner Beschäftigung mit Havemann sei erwähnt. Havemann war ein Thema, das in der DDR bis 1989 eigentlich mit einem absoluten Tabu belegt war, aber gelegentlich doch gebrochen werden konnte. So in unserem Berlin-Buch<sup>61</sup>, in dem wir Wert darauf legten, dass Havemanns antifaschistische Widerstandtätigkeit und das gegen ihn verhängte Todesurteil gewürdigt wurden. Das erscheint heute vielleicht als selbstverständlich und belanglos, war aber damals ein gewaltiges Problem, das nicht nur unter uns diskutiert wurde. Auch Laitko, sonst ein sehr vorsichtiger und irenischer Mann, sagte, Havemann müsse (in gebotener Kürze) gewürdigt werden – was dann auch nach einigen Diskussionen mit den Lektoren des Dietz-Verlags, dem Verlag der SED, und vielleicht auch nach Absprache mit höherrangigen Funktionären, von denen vielleicht Laitko weiß, geschah.</p><p><b>MG</b>: Kommen wir endlich zu Eurem Buch <i>Wissenschaft in Berlin: Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945</i>, das anlässlich des 750-jährigen Stadtjubiläums 1987 erschien.</p><p><b>DH</b>: Ich denke, es war das wichtigste Projekt unseres Bereichs und ist der Ausweis unserer allgemeinen wissenschaftshistorischen Kompetenz und namentlich der unseres Chefs Hubert Laitko. Es ist auch ein Zeugnis des vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs geführten wissenschaftlichen Konkurrenzkampfes zwischen Ost und West. Unser Buch sollte vor dem Hintergrund der Systemauseinandersetzung der beiden deutschen Staaten das Thema „Wissenschaft in Berlin“ auf hohem wissenschaftlichem Niveau zusammenfassen. So wie es in Berlin zwei (eigentlich sogar drei) Opernhäuser gab, gab es auch für die Wissenschaft zwei komplementäre Wahrnehmungen der Stadt. Das Buch war Teil des Kampfes um die wissenschaftshistorische Deutungshoheit über die Frontstadt des Kalten Kriegs Berlin.</p><p><b>MG</b>: So wie es in West-Berlin zur 750-Jahr-Feier einen starken Fokus auf Berlin als „Wissenschaftsstadt“ gab …</p><p><b>DH</b>: … ja, aber was dort entstanden ist, war doch mehr atomisiert. Da gab es keine wirkliche Zusammenschau …</p><p><b>MG</b>: Das leuchtet ein. Spielte dabei in der DDR auch das Thema „Innovation durch Wissenschaft“ eine Rolle, das in Westdeutschland in den 1980er Jahren eindeutig als Reaktion auf die wirtschaftliche Krise zu verstehen ist und in dieser Form bis heute so verwendet wird?</p><p><b>DH</b>: Wir sollten ebenfalls zeigen, wie wissenschaftliche Innovation passiert, aber offiziell nahmen wir uns wechselseitig nicht wahr. Das ist ja ohnehin die besondere Situation von West-Berlin. Ich sage mal, es war bis Mitte der 1980er Jahre, und konkret bis zur Unterzeichnung des Wissenschaftsabkommens zwischen der DDR und der BRD im Jahre 1988, viel leichter, nach Ost-Berlin einen beliebigen internationalen Gast zum Vortrag einzuladen als einen Kollegen aus West-Berlin. Die besondere politische Einheit West-Berlin war eine ganz heikle und problematische Geschichte. Es gab da keinerlei offizielle Beziehungen. Die Leute, die – <i>[lacht]</i> das ist ja auch das Schizophrene – Reisekader waren, bekamen, wenn sie es begründen konnten, ein Visum, im Jahr zehn Tage oder so, um Bibliotheken und Archive in West-Berlin zu besuchen. Dabei besuchten sie natürlich auch Herrn Schütt an der TU, aber das war inoffiziell.<sup>62</sup> Das durften sie eigentlich nicht, mit einer Westberliner Institution und deren Repräsentanten Kontakte zu pflegen.</p><p><b>AtH</b>: Ich würde gern noch einmal zurück zu dem, was Du geschrieben hast. Du sagtest ja selbst, dass Du auch viel in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hattest. Es war Dir ein Anliegen, Physikgeschichte zu popularisieren oder allgemeinverständlich darzustellen. Und es fällt auf, wenn man durch Deine Publikationen geht – wir haben sie ausgeliehen, gelesen, quergelesen – dass Biographien Dir immer ein Anliegen waren.</p><p><b>DH</b>: Ja. Das war meiner allgemeinen Neugier geschuldet <i>[lacht]</i>. Mein Einstieg in die Wissenschaftsgeschichte ging über Einstein – über sein Leben.</p><p><b>AtH</b>: Genau. Und Biographien lassen sich natürlich gut darstellen. Das heißt, da kann man jemandem das, was die Physik ausmacht, faszinierend und spannend verständlich machen. Waren Biographien auch etwas, mit dem man – vielleicht ist das jetzt auch noch einmal so eine „Westsicht“ – etwas relativ unideologisch darstellen konnte? War das eine bewusste Entscheidung für dieses Genre „Biographie“ oder würdest Du sagen: Ach, das war einfach ein Interesse, und ich habe das so gemacht.</p><p><b>DH</b>: Es war zunächst einmal und vor allem ein Interesse. Aber richtig, wie Du sagst, konnte man sich unter der Fülle der Biographien Leute aussuchen, wo man meinte, deren Lebensgeschichte oder deren Haltung vermitteln etwas, das Dir privat wichtig ist und das man gerne in die Mitte gerückt sähe.</p><p><b>AtH</b>: Biographie auch als eine wirklich gute Verbindung von wissenschaftlichen Inhalten und Persönlichkeit …</p><p><b>DH</b>: Ja, sozusagen soziale Strukturen und so eine Sozialgeschichte, ohne von internalistischen Sachen absehen zu können. Das hängt damit zusammen, dass ich viele Dinge in der Physik, auch wenn ich sie verstand, doch nicht so richtig verstanden habe <i>[allgemeines Lachen]</i>. Ja, ist ja so. Also kann man zwar darüber schreiben, wie das ist, aber diese Feinheiten, das ist dann doch noch ein nächster Schritt. Auch das Interesse an Schicksalen und an Haltungen passt zu Biographien, dass man zum Beispiel, wenn man über Einstein schreibt, seinen Pazifismus thematisiert. Pazifismus oder Antimilitarismus und Einsteins Haltung zur Sowjetunion waren in der DDR eher Tabuthemen.</p><p><b>AtH</b>: Hast Du das von Herneck gelernt?</p><p><b>DH</b>: Ich glaube, ja. Hernecks Spruch war immer: „Frag die Leute und entwickele daraus ein wahrhaftiges Bild“. Was Dir ja auch nahe ist. Sein Stil war aber nicht unwidersprochen. Der war ein Stück zu populär und lag quer zu dieser internalistischen Richtung in der DDR, insofern war er ebenfalls Außenseiter.</p><p><b>AtH</b>: In einem Nachruf hast Du geschrieben, dass sich diese Herneck'sche Wissenschaftsauffassung nicht durchgesetzt hat.<sup>63</sup> Wie würdest Du sie charakterisieren?</p><p><b>DH</b>: Die war recht narrativ. Das heutige Verständnis ist doch ein ganz anderes. Viel komplexer. Nicht auf dieses „Heldengedenken“ ausgerichtet, was bei Herneck immer durchscheint. Er schreibt „für Helden“, war ein Kommunist und marxistischer Denker bis zum Ende. Bei seiner narrativen Darstellungsweise sieht er zwar nicht von politischen Dingen ab, aber explizit marxistische Elemente kommen nicht viel bei ihm vor. Er schreibt nicht in einen marxistischen Ideologierahmen hinein und nimmt sich auch die Freiheit, <i>gegen</i> solche Sachen anzuschreiben. Ich muss jetzt auch sagen, ich wurde natürlich aufgefangen von Laitko, der einen anderen Stil hat und mehr von allgemeinen Prämissen und Theorien ausgeht.</p><p><b>AtH</b>: Um noch mal auf das Berlin-Buch zurückzukommen …</p><p><b>DH</b>: Also, wenn unser Bereich an der Akademie nach außen hin wahrgenommen wird, dann meist über das Disziplin-Projekt von Guntau und Laitko, über das wir bereits sprachen sowie das Berlin-Buch; alles andere scheint weitgehend vergessen. Beides waren Projekte, die auch konzeptionell für die Forschungsrichtung unserer Gruppe typisch sind. Schlägt das Interesse für die Disziplingenese die Brücke zur Wissenschaftsforschung, so geht das Berlin-Buch in Richtung der Sozial- und Kulturgeschichte und natürlich der politischen Geschichte, wie das Buch ja auch – wie vorhin kurz angedeutet – eine nicht zu vernachlässigende politische Funktion hatte. Dies nicht nur in dem Sinne, als dass es die Anfänge moderner Wissenschaftspolitik und der aktiven Steuerung wissenschaftspolitischer Prozesse darstellt – als Stichwort sei in diesem Zusammenhang das „System Althoff“ erwähnt. Politisch war das Projekt eben „ein Auftragswerk“ für das 1987 anstehende 750-jährige Berlin-Jubiläum. Das Jubiläum hatte die höchsten politischen Weihen, und wer von Rang und Namen in der DDR war, insbesondere an den Berliner Wissenschaftsinstitutionen, wurde dringlichst aufgefordert, sich an der wissenschaftlichen und publizistischen Aufarbeitung zu beteiligen. In der Planungshierarchie war es auf der obersten Stufe als Staatsplan-Projekt ausgewiesen, verknüpft mit überdurchschnittlichen Forschungsmitteln und Prestige.</p><p>Wegen der herausragenden Bedeutung des Jubiläums – nicht zuletzt war Berlin eine Art Schaufenster des Ostens – wurde so um 1980 ein hochkarätiges Berlin-Komitee eingerichtet, dem nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Journalisten als Teil des Propaganda-Apparats sowie höhere Funktionäre von Staat und Partei angehörten – nicht so unähnlich der Organisation des Einstein-Centenariums 2005 …</p><p>An uns – an die Akademie, nicht an die Universität – erging so der Auftrag, ein wissenschaftshistorisches Konzept für das Jubiläum zu schreiben. Das wurde natürlich von Laitko als Chef gemacht, der auch Mitglied im zentralen Komitee war, das aber nur einmal getagt haben soll. Davon einmal abgesehen, hat er solche Sachen wie zum Beispiel Konzepte verfassen, geradezu perfekt beherrscht.</p><p>Als vorbereitende Maßnahme wurde zunächst eine Kolloquium-Reihe eingerichtet, die 1980 begann und systematisch spezielle Themenfelder der Berliner Wissenschaftsgeschichte beleuchtete, wobei auch auswärtige Kollegen zu Vorträgen eingeladen wurden. Unsere „Berliner Wissenschaftshistorische Kolloquien“ – so der offizielle Titel der Reihe, in der die Vorträge später auch publiziert wurden – waren also keine interne Angelegenheit und hatten einen regen Zulauf und viel Interesse; ich glaube, mich an Veranstaltungen von bis zu hundert Zuhörern zu erinnern.</p><p><b>AtH</b>: Da habt Ihr die einzelnen Kapitel abgearbeitet.</p><p><b>DH</b>: Ja, dort wurden mehr oder weniger systematisch Schwerpunkte bzw. Grundprobleme abgearbeitet, zum Beispiel die „Große Berliner Physik“, das „System Althoff“ etc. Die Erkenntnisse aus diesen Kolloquien gingen dann in das Konzept für das geplante Buch ein, wobei dieses von den Mitgliedern unseres Forschungsbereichs und unter Federführung von Laitko verfasst wurde – in diesem Fall waren die einzigen Kooperationspartner Conrad Grau<sup>64</sup> und Wolfgang Schlicker<sup>65</sup> von der Arbeitsstelle „Akademiegeschichte“ der Akademie, also nähere Kollegen.</p><p>Allerdings muss man im Rückblick doch selbstkritisch feststellen, dass wir beim Schreiben der einzelnen Kapitel unseren Chef schmählich im Stich gelassen haben und wir am Ende in der Synthese, aber auch in der hohen Qualität, die nötig war, aus meiner Sicht nichts Adäquates lieferten. Hinsichtlich der Autorenschaft hätte es durchaus heißen können: „Von Hubert Laitko unter Mitwirkung von etc.“ und nicht wie im Impressum des Buches festgehalten ist: „Autorenkollektiv: Hubert Laitko, Leitung, etc.“ Dass Laitko mehr als der Kopf des Buchprojektes war und die Kärrnerarbeit geleistet hat, wurde allgemein durchaus wahrgenommen. Laitko wurde dann auch dafür mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Ich glaube, er war der erste (genuine) Wissenschaftshistoriker, der mit dieser höchsten Wissenschaftsauszeichnung der DDR geehrt wurde; allerdings gehörte er zur letzten Runde der DDR-Nationalpreisträger, denn mit der Wiedervereinigung war der Nationalpreis <i>perdu</i>.</p><p>Die konzeptionelle Leistung von Laitko wurde – nicht zuletzt im Vergleich zu dem, was im Westen zum Jubiläum erschien – auch im Westen gewürdigt. Nicht so sehr von Vertretern einer internalistischen Wissenschaftsgeschichte, die vieles unter Ideologieverdacht stellten und Laitko vor allen Dingen das von ihm verfasste letzte Kapitel über die Aufbaujahre nach 1945 übelnahmen. Die positive Reaktion kam von Leuten wie dem Historiker und Mitherausgeber der KWG-Geschichte Bernhard vom Brocke, deren Forschungsfokus ja die Institutionengeschichte und speziell das „System Althoff“ sowie die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war.</p><p><b>AtH</b>: Und Rüdiger vom Bruch<sup>66</sup> …</p><p><b>DH</b>: Ja, diese Richtung (wissenschafts-)historischer Forschung, wobei vom Bruchs Lob schon etwas verhaltener ausfiel. Unser Buch und das Forschungskonzept von Laitko waren natürlich eine ganz andere Geschichte als die von Hans Wußing<sup>67</sup> am traditionsreichen Sudhoff-Institut in Leipzig, wo es ebenfalls ein hochkarätiges Buchprojekt gab, die <i>Geschichte der Naturwissenschaften</i>.<sup>68</sup> Dieses war im Übrigen explizit für den Westmarkt geschrieben worden, und nur wenige Exemplare der Auflage wurden in der DDR vertrieben.</p><p><b>MG</b>: Ein anderes Thema dieser Zeit ist das Hervortreten eines veränderten historischen Bewusstseins insgesamt: Das Denkmal Friedrichs des Großen wurde Unter den Linden wieder aufgestellt, das Nikolaiviertel in historischem Stadtgrundriss rekonstruiert … Wie diskutierte man dieses veränderte historische Bewusstsein jenseits des Jubiläums?</p><p><b>DH</b>: Was das Nikolaiviertel angeht, fällt mein Urteil doch sehr verhalten aus – ich bin dort, in den Ruinen des alten Viertels, groß geworden und empfand die vermeintliche Rekonstruktion doch eher als Disneyland denn als historische Replik.</p><p>Dass Traditionspflege seit den späten 1970er Jahren wieder wichtig wurde, stimmt natürlich und spiegelt sich auch in unserem Berlin-Buch, wie in unserer und meiner Beschäftigung mit den großen Traditionen der Wissenschaft bzw. Physik in Berlin. Das wurde auch bei naturwissenschaftlichen Fachkollegen so wahrgenommen, die diese Traditionslinien für das eigene Selbstverständnis sowie für die eigene Motivation aufnahmen. Gelehrte von Max Planck und Albert Einstein über Fritz Haber, Otto Hahn oder Lise Meitner bis hin zu Gelehrten der zweiten Kategorie wie Wilhelm Foerster, Walter Friedrich oder Oskar Vogt sollte man sich zum Vorbild nehmen.</p><p><b>MG</b>: Was man durchaus auch sehr kritisch hätte sehen können.</p><p><b>DH</b>: Sicherlich, doch sollte man hier nicht allzu selbstgerecht urteilen, denn der kritische Blick auf Wissenschaftsbiographien und -institutionen wurde im Westen auch nicht umstandslos von den etablierten Fachvertretern gepflegt, sondern zunächst von alternativen Projekten auf studentischer oder Assistentenebene. Eine solche Ebene gab es aus politischen Gründen in der DDR nicht, aber es gab durchaus auch staats- und ideologieferne Diskussionsrunden (von der Stasi oft argwöhnisch ins Visier genommen), in denen alternative Sichtweisen gepflegt wurden. So erinnere ich mich an Diskussionen im Umfeld des Einstein-Jahres 1979, in denen es um dessen Judentum und seine Haltung zum Zionismus und zum Staat Israel ging, sowie seine nicht nur positive Haltung zur Sowjetunion. Hoffähig oder gar publizierbar war das in der DDR aber nicht!</p><p>Dass in der DDR das „Würdigungswesen“ – hier darf ich ein Copyright reklamieren, denn dieser ironisierende Begriff unseres Tuns ist wohl von mir kreiert worden – so extensiv betrieben wurde, zumindest deutlich stärker als im Westen, hat sicher zum Teil damit zu tun, dass die Beschäftigung mit einer heroischen Vergangenheit und einer wissenschaftlichen Hochkultur gut dafür genutzt werden konnte, die aktuelle Misere etwas vergessen zu lassen und eine eigene, an der glorreichen Vergangenheit partizipierende Identität zu konstruieren, was staatlicherseits propagandistisch gut ausgeschlachtet werden konnte. Überhaupt lässt sich feststellen, dass sich das Traditionsverständnis in der DDR in der Honecker-Ära weitete und weniger dogmatisch war als in den Jahrzehnten zuvor. Ähnliches wie mit Friedrich dem Großen passierte im Lutherjahr mit Martin Luther oder auch mit Siemens sowie nicht zuletzt mit Preußen oder dem sächsischen Königshaus: Alle wurden in den 1980er Jahren enttabuisiert und dem progressiven Erbe der DDR zugeschlagen. Unsere Forschungen waren Teil dieser neuen Erbpflege.</p><p><b>AtH</b>: Vielleicht noch eine Frage, die zwar privat ist, aber auch eine politische Dimension hat: Da Du und Deine Frau voll berufstätig wart, wie bekamt Ihr das mit den beiden Kindern hin?</p><p><b>DH</b>: Dazu zwei Dinge vorab: Erst einmal war das Betreuungssystem ein anderes. Heutzutage bin ich immer erstaunt bei meinen Kindern, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre Kinder aus beruflichen Gründen in die Kita oder den Hort bringen. Hort war für uns immer eine <i>no go area</i>. Unsere eine Tochter wollte aber unbedingt dahin, und so schickten wir sie in diese Kinder-Verwahranstalt. Nach zwei Monaten hatte sie aber die Nase voll und wurde wieder zu der Art „Schlüsselkind“, wie es in unserem Freundes- und Bekanntenkreis sehr verbreitet war. Hinzu kam, zweitens, dass wir auch eine ganz andere Arbeitswirklichkeit hatten: Unser Forschungsbereich von etwa 15 Leuten verfügte über drei Büroräume – in dem einen saß die Sekretärin, im zweiten arbeiteten unsere wissenschaftlich-technischen Assistent:innen, die tägliche Präsenzpflicht hatten, und der dritte, etwas größere Raum war den Wissenschaftlern zugedacht, in dem unsere wöchentlichen Dienstbesprechungen und andere Zusammenkünfte abgehalten wurden; ansonsten musste von uns Wissenschaftlern immer jemand zu den üblichen Dienstzeiten anwesend und auskunftsfähig sein, was kollegial aufgeteilt wurde. Alles andere lief zu Hause ab bzw. man arbeitete in der Bibliothek oder in den Archiven – „nebenher“ konnte man also noch ganz gut unsere „Schlüsselkinder“ betreuen. So sah mein Arbeitsalltag aus, und diese Sozialisation habe ich bis heute – zum Kummer meiner Frau – weitgehend beibehalten, denn irritierenderweise lade ich ja heute noch die Leute zu mir nach Hause ein. Allerdings waren und sind wir vergleichsweise gut mit Wohnraum ausgestattet. Insgesamt konnten wir so die Betreuung relativ gut abfangen, zumal meine Frau als Lehrerin oft um drei oder vier Uhr nachmittags zu Hause war. Das klappte natürlich nicht immer, doch war es meist irgendwie regelbar. Zudem entließ man die Kinder frühzeitiger in die Selbstständigkeit.</p><p>Obwohl seit Gründung der DDR die Gleichberechtigung der Frau Verfassungsrecht und durch eine Vielzahl von Gesetzen geregelt war, war die Erziehung in der DDR deutlich frauenfokussiert und die Frauen leisteten trotz aller Emanzipation in der Regel den größten Teil der Hausarbeit. Hinzu kam, dass die Organisation des täglichen Lebens deutlich schwieriger und zeitaufwändiger war – man konnte beispielsweise nicht, wie heute, abends um halb sieben in die Kaufhalle (das Ost-Pendant zum Supermarkt) rennen und bekam dann alles, was auf dem Einkaufszettel stand. Bestimmte Sachen waren mit Anstehen und zeitfressender Organisation verbunden. Das Leben, zumal die Technisierung des Haushaltes, war natürlich auch weit unter den heutigen Standards. Die Frauen hatten so durchaus eine Art doppelte Berufstätigkeit zu leisten. Grundsätzlich wurde darüber nicht oder nur wenig gesprochen – man sprach nur darüber, wie man sie bewältigt. Die Situation war vielleicht vergleichbar mit der in Frankreich und oder den USA. Da ist es ja auch normal, dass beide Elternteile arbeiten; nicht zuletzt baute in der DDR der Lebensstandard auf zwei Gehältern auf, denn mit einem Gehalt ließ sich nur mit starken Einschränkungen eine Familie versorgen. Beispielsweise hatte sich die Frau einer befreundeten Familie ganz bewusst dafür entschieden, die ersten drei Jahre das Kind zu betreuen und nicht in die Kinderkrippe zu geben. Das war eine absolute Ausnahme und sie merkten die finanziellen Konsequenzen sehr schnell, und da waren dann Einschränkungen nötig. Unsere Gehälter waren ja nicht so doll. Meine Frau bekam als Lehrerin mehr als ich, etwa tausend DDR-Mark, ich um die achthundert. Ein Trabant kostete ungefähr zehntausend Mark, die Wohnungsmiete neunzig Mark. So war das, und es unterscheidet sich doch ganz grundsätzlich von dem, was dann nach der politischen Wende über uns Ostler kam, wobei man durchaus generalisierend feststellen kann, dass zu den Verlierern der deutschen Einheiten gewiss die Frauen gehören, nicht zuletzt die Akademikerinnen, die oft die ersten waren, die auf der Straße standen oder aus ihren Positionen herausgedrängt wurden.</p><p><b>AtH</b>: Damit wären wir bei der politischen Wende in der DDR angekommen – wie hast Du den politischen Umbruch erlebt, und welche wissenschaftlichen und beruflichen Konsequenzen hatte dieser für Dich?</p><p><b>DH</b>: Das Jahr 1989 war ohne Zweifel für mich das emotional bewegendste und zusammen mit den Folgejahren das dynamischste meines Lebens. Auch ohne Friedliche Revolution und Mauerfall hätte es wohl einen Wendepunkt in meinem Leben markiert. Im Sommer 1989 konnte ich erfolgreich mit <i>Studien zu Ernst Mach</i> meine Habilitation abschließen und gehörte auch zur DDR-Delegation zum Weltkongress für Wissenschaftsgeschichte in Hamburg und München (übrigens auf Kosten des Bundesministeriums für Innerdeutsche Fragen, was noch Mitte der 1980er Jahre ein Unding gewesen wäre!), war damit faktisch zum Reisekader-West aufgestiegen. Beide Qualifikationen hätten mir unter DDR-Bedingungen wohl ebenfalls neue berufliche Horizonte eröffnet; sicherlich deutlich bescheidenere, als die Imponderabilien der Weltgeschichte sie mir dann eröffnet haben.</p><p>Was 1989 geschah, war natürlich nicht vorhersehbar gewesen – schon gar nicht die Implosion des realen Sozialismus und der Untergang der DDR. Allerdings war Leuten wie mir, die kritisch zur DDR standen und pro-westlich dachten, klar, dass es so wie gehabt in der DDR nicht weitergehen konnte. Mein Kollege Mark Walker, der heute zu meinem engeren Freundeskreis gehört und in dieser kritischen Zeit in West-Berlin als Humboldt-Stipendiat forschte, erinnerte sich nach vielen Jahren daran, dass ich ihm auf seine Frage, wie die politische Lage in der DDR zu bewerten sei, im Spätsommer 1989 die für ihn sybillinische Antwort gab: „Ich weiß nicht, was konkret geschehen wird, doch klar ist, dass demnächst irgendetwas geschieht.“ Das „irgendetwas“ war die Friedliche Revolution mit dem Mauerfall vom Herbst 1989. Von der deutschen (Wieder)Vereinigung habe ich damals nicht einmal zu träumen gewagt, und als nüchternem und realistisch denkendem Historiker und Kind des Kalten Kriegs sowie im Angesicht von 500.000 Rotarmisten im Land erschien mir die deutsche Wiedervereinigung noch Weihnachten 1989 bestenfalls als Sache der Zukunft. Diese Meinung teilte ich damals mit vielen, u. a. einem heute hochangesehenen westdeutschen Politologen, mit dem ich zu Silvester die deutsche Frage ausführlich diskutierte. Ich habe die deutsche Wiedervereinigung damals emphatisch begrüßt und stehe auch heute noch dafür. Bauchschmerzen habe ich lediglich mit der Art und Weise, wie sie ausgeführt wurde, denn das geschah doch zu sehr und allzu einseitig auf dem Rücken von uns Ostlern und zugunsten westdeutscher Interessen, nicht zuletzt im akademischen Bereich. Dort wurde tüchtig ausgekehrt, und die Stellen in der Regel von (meist durchaus verdienstvollen und exzellenten) Kollegen aus dem Westen wieder besetzt.</p><p>Das System „West“ wurde dem Ost-System sozusagen übergestülpt und alles, was dem nicht angepasst werden konnte, ob nun sinnvoll oder nicht, wurde wie bei einem Baum, der gestutzt werden muss, radikal weggeschnitten – vermeintliche „Nicht-Finanzierbarkeit“ war hierbei eine gängige Begründung. Wenn ich mir so meine Gedanken über die deutsche Wiedervereinigung mache, was mit einiger Regelmäßigkeit geschieht, dann muss ich oft an Wolf Biermanns <i>Deutschland. Ein Wintermärchen</i> denken, wo er zur Entnazifizierung in der SBZ/DDR dichtet: „So gründlich haben wir/geschrubbt/mit Stalins hartem Besen/Das rot verschrammt der/Hintern ist/Der vorher braun gewesen …“ Nun kann man natürlich nicht die Entnazifizierung im Nachkriegsdeutschland eins zu eins in Beziehung zu dem setzen, was dann vier Jahrzehnte später im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung geschah – und dies ist auch keineswegs meine Intention beim Zitieren des Biermann-Poems –, doch wurden in absichtsvoller Rigorosität und überbordender Selbstgerechtigkeit nicht nur die Nomenklaturkader in den Orkus gewischt, sondern manche und manches, was durchaus bewahrenswert gewesen wäre, verschwand auf Nimmerwiedersehen – warum wurde beispielsweise der Biochemiker Tom Rapoport aus Berlin-Buch weggegrault, so dass er Deutschland in Richtung Harvard verließ? Die Art und Weise, wie <i>tabula rasa</i> gemacht wurde, ging auch zu Lasten unserer Gruppe, deren Leistungspotential ich hier in keiner Weise schönreden will, doch sie wäre vielleicht ein möglicher Nukleus für Forschungen zum so erfolgreichen Wissenschaftssystem im Wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik gewesen. Dafür gab es keine einflussreichen westdeutschen Fürsprecher oder gar eine Lobby. Im Ergebnis wurde unsere Gruppe, wie die Majorität der Akademieforschung, atomisiert und in alle Winde zerstreut – etwa ein Drittel konnte im Forschungssystem der Bundesrepublik verbleiben, meist in subalternen Positionen oder durch Drittmittel finanziert, ein Drittel wurde mehr oder weniger unfreiwillig Vor-Ruheständler und ein weiteres Drittel musste sich seinen Lebensunterhalt nun im nichtakademischen Bereich verdienen. Dabei folgte diese Drittel-Parität eher statistischen Regeln als dem Leistungsprinzip. Dass heute, wo alle Messen gelesen, die Kommandoposten verteilt sind und sich tatkräftige westdeutsche Netzwerke etabliert haben, unaufrichtige Krokodilstränen darüber vergossen werden, befremdet mich eigentlich mehr, als es einen erfreut – wo waren die Stimmen der kollegialen Solidarität vor dreißig Jahren!?</p><p>Ich selbst, der ich weder Bürgerrechtler noch Dissident war, habe im Herbst 1989 versucht, mich in den Reformprozess meines Instituts wie auch der gesamten Akademie einzubringen. Im Sommer 1990 war das aber alles „Makulatur“ geworden, denn im vereinigten Deutschland würde es zum 1. 1. 1992 keine Akademie der Wissenschaften mehr geben. Es war also privat wie beruflich eine grundlegende Neuorientierung angesagt, und bei dieser spielten Zufall und Glück eine große Rolle.</p><p>Ich selbst hatte Glück – vielleicht auch das Glück des Tüchtigen. Mir kam dabei zu Gute, dass ich dem Westen gegenüber offen und neugierig war, einige Westkollegen auch persönlich kannte. So wurde ich zunächst von der Physikalisch-Technischen Bundeanstalt (PTB) eingeladen, mit einem Stipendium den Vereinigungsprozess zwischen der PTB und dem entsprechenden metrologischen Institut der DDR zu dokumentieren. In dieser Zeit wurde ich auf ein spezielles Integrationsprogramm der Alexander von Humboldt-Stiftung aufmerksam, das jüngeren Wissenschaftlern aus dem Osten – ich gehörte gerade noch zu dieser anvisierten Alterskohorte – die Möglichkeit bot, für ein halbes Jahr an ein westdeutsches Institut ihrer Wahl zu gehen, um dort den Westen „zu lernen“. Ich gehörte zu den ersten Stipendiaten dieses Programms und ging 1991 für ein reichliches halbes Jahr zu Armin Hermann<sup>69</sup> an die Universität Stuttgart. Dass die Wahl auf Hermann fiel, hing damit zusammen, dass Hermann für mich eine Art „Fernlehrer“ gewesen war und ich ihm beim Wissenschaftshistoriker-Kongress in Hamburg und München im Sommer 1989 persönlich begegnet bin. Manche Leute schüttelten über meine Entscheidung etwas den Kopf, doch stand mir Hermann in seiner etwas altbacken betriebenen Wissenschaftsgeschichte damals wissenschaftlich sehr nahe, und er war mir gegenüber sehr hilfsbereit. Seine Bücher wurden auch im Osten gelesen, nicht zuletzt von Physikern.</p><p><b>AtH</b>: Und er schrieb auch Biographien …</p><p><b>DH</b>: Ja, viele und meist populäre. Vor allem aber war er in der westdeutschen <i>community</i> sehr gut und effektiv vernetzt, was mir einige Vortragseinladungen einbrachte; auch sonst verfügte er über gute Verbindungen, die mir etwa halfen, im folgenden Jahr (1992) in die USA zu gehen. Zunächst aber ging es erstmal nach Stuttgart, wo ich den Westen in jeder Hinsicht kennenlernte – auch die innovativen Ansätze der aktuellen Wissenschaftsgeschichte durch Hermanns Assistenten Helmuth Albrecht. Mit ihm und seiner Frau Monika Renneberg habe ich damals viel diskutiert, und wir sind bis heute befreundet.</p><p><b>AtH</b>: Du warst 1992 in Harvard …</p><p><b>DH</b>: Ich glaube, Harvard war für meine Entwicklung und meine Akzeptanz im Westen am entscheidendsten. Dabei war es nicht trivial, dorthin zu kommen. Erwin Hiebert<sup>70</sup> und Gerald Holton<sup>71</sup> – Hiebert hatte ich schon in den 1980er Jahren durch die vorhin erwähnte tschechische Kollegin Soňa Štrbáňová persönlich kennengelernt und Holton 1990 auf einer Tagung zum Wiener Kreis in Wien – hatten mich nach Harvard eingeladen. Dass dies allein schon eine hohe Ehre war, wusste ich damals nicht, musste ich doch das Geld für die Reise und den dortigen Aufenthalt selbst aufbringen. Dafür kam wieder die Humboldt-Stiftung auf, denn das Integrationsstipendium sah, wie bei Humboldt-Stipendiaten üblich, eine Wiederaufnahme vor – allerdings sollte man in Deutschland bleiben. In meinem Wiederholungsantrag schrieb ich, dass einer meiner großen Träume Amerika sei und mir mit der Einladung die einmalige Möglichkeit dafür geboten würde; auch würde ich nur das Geld beanspruchen, das ich für die Verlängerung in Deutschland bekäme. Solchem Pragmatismus hat man sich nicht entziehen können und man genehmigte mir eigentlich regelwidrig das Stipendium. Nicht nur in meinem Fall ist die Humboldt-Stiftung eine sehr unbürokratisch handelnde und ungewöhnlich kooperative Institution. Ich ging dann also Ostern 1992 nach Harvard, wo ich mich vor allem durch die <i>Einstein Papers</i> wühlte – leider konnte aus diesen Archiv-Studien keine Edition von Briefen Einsteins an Berliner Physiker realisiert werden, da Princeton University Press damals eifersüchtig das Copyright für solche geschlossenen Briefeditionen für sich reklamierte. Allerdings gab es einen vollwertigen Ersatz, denn während meines Amerika-Aufenthalts waren die Farm-Hall-Protokolle freigegeben worden. Darauf hatten mich Mark Walker<sup>72</sup> und Roger Stuewer<sup>73</sup> aufmerksam gemacht, und ich nutzte die Gunst der Stunde, fuhr nach Washington in die National Archives und brachte die Kopien der Protokolle mit nach Deutschland. Im folgenden Jahr erschienen sie dann bei Rowohlt Berlin, was einiges Aufsehen erregte und mein größter Bucherfolg wurde – bis heute. Das Buch hat sicherlich meine Akzeptanz in der <i>community</i> gestärkt und wohl auch dazu beigetragen, dass ich im harten Selektionsprozess nach der deutschen Einheit nicht auf der Strecke blieb. Über mehrere Zwischenstationen erhielt ich schließlich eine unbefristete Stelle am neugegründeten MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin in der Abteilung von Jürgen Renn und war damit im „Paradies der Forschung“ gelandet. In der Lotterie der deutschen Einheit war mir sozusagen ein Fünfer im Lotto zuteilgeworden, wobei mir aber in Demut und Bescheidenheit die Anmerkung erlaubt sei, dass ich sehr wohl weiß, dass es auch noch Sechser gibt, doch will man ja nicht unbescheiden sein …</p><p><b>AtH</b>: Du warst danach noch 1994 in New York, 1995/96 dann zweimal in England.</p><p><b>DH</b>: Ja, in Cambridge bei Simon Schaffer, den ich hier in Berlin getroffen hatte und dessen Buch mit Steven Shapin mir wegen seines für mich neuartigen Blicks auf die Wissenschaftsgeschichte sehr imponierte.<sup>74</sup></p><p><b>AtH</b>: Ich erinnere, dass innerhalb des Verbundes für Wissenschaftsgeschichte, der 1988 oder 1989 im Westen gegründet wurde …</p><p><b>DH</b>: … die letzte Gründung des Kalten Krieges, sage ich immer … <i>[lacht]</i></p><p><b>AtH</b>: … und bei dem Du auch immer bei den Sommerakademien dabei warst.</p><p><b>DH</b>: Als Zuhörer. Ob immer, weiß ich nicht …</p><p><b>AtH</b>: Und ich erinnere mich gut an Annette Vogt<sup>75</sup>, die – glaube ich – Lorenz Krüger<sup>76</sup> unterstützt hat?</p><p><b>DH</b>: Ja, sie war eine Art Geschäftsführerin des befristeten und von der MPG finanzierten Forschungsschwerpunktes „Wissenschaftsgeschichte und -theorie“, der vom Göttinger Wissenschaftsphilosophen Lorenz Krüger geleitet wurde – ein feiner, leider allzu früh verstorbener West-Chef.</p><p><b>AtH</b>: Und inwiefern spielten diese Sommerakademien für Dich eine Rolle?</p><p><b>DH</b>: Sie waren eigentlich nicht so präsent, was auch damit zusammenhängt, dass ich in dieser Zeit, wie beschrieben, viel unterwegs und nicht in Berlin war – das waren sozusagen meine verspäteten Lehr- und Wanderjahre. Hinzu kam, dass ich mich neben meinen beruflichen Verpflichtungen auch sehr in der Physikalischen Gesellschaft engagierte. 1991 hatte mir Hermann die Leitung des Fachverbandes „Geschichte der Physik“ der Deutschen Physikalischen Gesellschaft übertragen. Das war für mich und nicht zuletzt meine Karriere ungemein wichtig, weil diese Aktivitäten ganz wesentlich zu meiner Reputation beitrugen.</p><p><b>AtH</b>: Dieses Amt hast Du zwanzig Jahre bekleidet – eine lange Zeit.</p><p><b>DH</b>: Ja, eine ungewöhnlich lange Amtsperiode und für ein Amt in der DPG sogar rekordverdächtig. Aber es hat mir Spaß gemacht und mir auch viele Gestaltungsmöglichkeiten gegeben – mehr als mir am MPI eingeräumt wurden. Die dort betriebene Wissenschaftsgeschichte war mir in Teilen auch manchmal zu avanciert und abgehoben, zuweilen wurde man dort auch absichtsvoll übersehen … Ich denke da zum Beispiel an das Projekt zur Geschichte der Kaiser Wilhelm Gesellschaft (KWG) im Nationalsozialismus oder auch jüngst das zur Geschichte der MPG, bei denen eben nur Platz für die aller-aller-besten war. Da habe ich dann eben zusammen mit Mark Walker das Projekt zur Geschichte der DPG im Dritten Reich initiiert und in einem sehr viel bescheideneren Rahmen realisiert.</p><p><b>AtH</b>: Aber trotzdem hast Du vor drei Jahren einen renommierten Preis bekommen, den Abraham Pais Prize für Geschichte der Physik.</p><p><b>DH</b>: Der wird aber von der American Physical Society verliehen und steht genau für das, was ich mit meinen Forschungen anstrebe: den Brückenschlag zwischen Physikgeschichte und Physik. Aber auch der Preis war großes und völlig unerwartetes Glück, lassen sich doch sofort ein Dutzend oder mehr Kollegen aufzählen, die den Preis mindestens genauso verdient hätten wie ich – doch Auszeichnungen sind eben nicht-lineare Phänomene!</p><p><b>AtH</b>: Ein schönes Schlusswort.</p>\",\"PeriodicalId\":55388,\"journal\":{\"name\":\"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte\",\"volume\":\"46 4\",\"pages\":\"378-412\"},\"PeriodicalIF\":0.6000,\"publicationDate\":\"2023-11-14\",\"publicationTypes\":\"Journal Article\",\"fieldsOfStudy\":null,\"isOpenAccess\":false,\"openAccessPdf\":\"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300029\",\"citationCount\":\"0\",\"resultStr\":null,\"platform\":\"Semanticscholar\",\"paperid\":null,\"PeriodicalName\":\"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte\",\"FirstCategoryId\":\"98\",\"ListUrlMain\":\"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300029\",\"RegionNum\":2,\"RegionCategory\":\"哲学\",\"ArticlePicture\":[],\"TitleCN\":null,\"AbstractTextCN\":null,\"PMCID\":null,\"EPubDate\":\"\",\"PubModel\":\"\",\"JCR\":\"Q2\",\"JCRName\":\"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE\",\"Score\":null,\"Total\":0}","platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","FirstCategoryId":"98","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300029","RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q2","JCRName":"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE","Score":null,"Total":0}
Bausteine zu einer Oral History der Wissenschaftsgeschichte Interview mit Dieter Hoffmann
Dieter Hoffmann (*1948) studierte Physik an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und promovierte 1975 ebendort. Zwischen 1976 und 1990 war Hoffmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Wissenschaftsgeschichte am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaften an der Akademie der Wissenschaften der DDR. In den 1990er Jahren führten ihn Gastaufenthalte nach Harvard, New York und Cambridge. Zwischen 1995 und 2014 war Hoffmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) in Berlin. Daneben fungierte er zwischen 1991 und 2011 als Vorsitzender des Fachverbands Geschichte der Physik in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG), die ihn 2010 mit der Ehrennadel der DPG ehrte. Im gleichen Jahr wählte ihn die Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften, zu ihrem Mitglied; 2020 erhielt er den renommierten Abraham-Pais-Prize for History of Physics der American Physical Society.
Anke te Heesen (AtH): Zu Beginn möchten wir Dich fragen, wie Du zur Wissenschaftsgeschichte gekommen bist: Du hast Physik studiert, bist dann aber relativ schnell in die Wissenschaftsgeschichte gegangen, oder?
Dieter Hoffmann (DH): Na gut, das hängt mit meinem Leben und auch mit meinem sozialen Hintergrund zusammen. Ich wurde in einer Familie groß, die in ihren Grundsätzen nicht pro-DDR, sondern dezidiert pro-westlich war – anti-DDR wäre wohl etwas übertrieben. Mitte der 1950er Jahren hatten meine Eltern auch mit dem Gedanken gespielt, in den Westen zu gehen, und wir waren zur „Sondierung“ zu meinem Onkel ins Ruhrgebiet gefahren, doch wurde man mit den Rheinländern nicht „warm“, so dass wir wieder nach Hause fuhren; letztendlich haben meine Eltern wohl die zweite Fluchterfahrung innerhalb eines Jahrzehnts gescheut, denn 1945 war man aus Schlesien vertrieben worden und hatte sich inzwischen in (Ost-)Berlin eine bescheidene Existenz aufgebaut.
Wenn ich im Westen großgeworden wäre, hätte ich wahrscheinlich Geschichte oder Philosophie studiert. Das wollte ich in der DDR nicht, weil damit sofort politische Implikationen verbunden gewesen wären. Für diese Fächer war, mehr oder weniger, die conditio sine qua non, Parteimitglied zu werden. Eine Generation später, in den 1980er Jahren, gab es da schon Ausnahmen. In meiner aber wurde erwartet, dass man Mitglied der SED wird, und das wollte ich nicht, zumal man das in unserer Familie eben nicht tat.
Ich war kein Wunderkind, aber ich war ein ziemlich guter Schüler und nicht zuletzt in den Naturwissenschaften stark. Bereits mit dreizehn, vierzehn Jahren hatte ich mich für Einstein begeistert. So bin ich „auf den Spuren von Einstein“ mit dem Fahrrad durch die Mark gefahren, unter anderem zum Sommerhaus Einsteins in Caputh, wo ich mich wunderte, dass in einer solchen Bruchbude – so jedenfalls das Erscheinungsbild des Hauses Mitte der 1960er Jahre – ein Genie wie Einstein gelebt haben soll. Es lag nah, Physik zu studieren, was mit weniger gesellschaftlichen oder gesellschaftspolitischen Restriktionen und Anpassungen verbunden war. Allerdings merkte ich relativ schnell, dass mich das „Was“ mehr interessierte, als das „Wie“. Als ich dann in die Diplomphase meines Physikstudiums kam, schaute ich mich nach Alternativen um. Gerade die Arbeiten von Friedrich Herneck1 zu Einstein, die ich schon als Oberschüler gelesen hatte, begeisterten mich, hatten mich im Übrigen für das Physikstudium motiviert. Ich ging deshalb zu Herneck, das muss so 1970/71 gewesen sein, und fragte, ob ich bei ihm Assistent werden könne. Er antwortete mir, dass ihn das freuen würde, in der aktuellen Phase der Hochschulreform aber nicht zu realisieren sei. Es würde ja alles umstrukturiert und seine künftige Stellung sei unklar, zumal er auch kurz vor der Emeritierung stehe. Mit der anstehenden Gründung der Sektion „Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsorganisation“ an der Humboldt-Universität fühlte er sich wohl auch inhaltlich aufs Abstellgleis gesetzt. Obwohl Herneck überzeugter Kommunist war, zählte er zu den „Gefallenen“, denn seine quellenbezogene Beschäftigung mit Ernst Mach während der sogenannten „Tauwetterperiode“ Mitte der 1950er Jahre hatte ihm den Vorwurf des Revisionismus eingebracht und fast zu seiner Entlassung aus dem Hochschuldienst geführt. Herneck war also umstritten und von seiner Persönlichkeit her auch polarisierend, was seine Integration in die neuen Strukturen und die Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit wohl zum Problem machte. Wie er mir einmal sagte, fühlte er sich in dieser Zeit als persona ingrata. 1974 wurde er fristgemäß emeritiert, doch hat er noch meine Promotion mitbetreut, so dass er zu meinen maßgeblichen akademischen Lehrern gehört. Bis zu seinem Tod 1993 blieb ich mit ihm in engem Kontakt. 1989 hat er sogar noch für meine Habilschrift („Dissertation B“) über Ernst Mach das Zweitgutachten verfasst, obwohl er zu der Zeit schon fast erblindet war und meine Tochter ihm den Text vorlesen musste.
Herneck war es, der mir empfahl, Kontakt mit den Philosophen der Universität und namentlich mit Hermann Ley2 und Karl-Friedrich Wessel3 – einem anderen seiner wenigen Schüler – aufzunehmen. Bei ihnen gebe es ein Promotionsprogramm, das sehr breit angelegt sei und dessen Aufgabe es sei, die Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie und Weltanschauung im Denken und Handeln der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz zu verankern und diese so zu Bündnispartnern der Weltrevolution zu machen. Nun, ich und mit mir gleich noch ein paar meiner Kommilitonen, die sich für die „Philosophischen Probleme der Naturwissenschaften“ interessierten, folgten dem Rat Hernecks. Wir wurden prompt mit offenen Armen empfangen und man stellte uns ein Forschungsstudium in Aussicht. Auch wenn mir mein Diplomvater in der Physik eine Mitarbeiterstelle mit Promotionsmöglichkeit in seiner Arbeitsgruppe bei der Akademie angeboten hatte, wechselte ich so nach dem Diplom zur Wissenschaftsgeschichte bzw. -philosophie und beschäftigte mich in den folgenden drei Jahren vor allem mit der Geschichte der Halbleiterphysik. Meine Forschungen sollten zeigen, wie physikalisches Wissen sich in eine unmittelbare Produktivkraft (ein damals unter DDR-Gesellschaftswissenschaftlern heiß diskutierter Begriff) verwandelt und mit der Entwicklung des Transistors die wissenschaftlich-technische Revolution angetrieben hat. Im Herbst 1976 habe ich meine Dissertation verteidigt.
Nun stand die Frage im Raum, wie es weitergeht. Die Möglichkeiten waren überschaubar, zumal ich auch in Berlin bleiben wollte, denn die DDR war ja ein streng zentralistisches Land, und in solchen Ländern spielt die Musik eben in der Hauptstadt. Da ich zudem in der wissenschaftlichen Forschung bleiben wollte, standen eigentlich nur die HU und die Akademie der Wissenschaften zur Auswahl. Die frühen 1970er Jahre waren ja die Zeit der „III. Hochschulreform“ und der Gründung der Sektionen anstelle der bisherigen Instituts- und Ordinarienstruktur. Um 1970 war an der HU eine Sektion „Wissenschaftstheorie und -organisation“ gegründet worden, mit einer wissenschaftshistorischen Forschungsgruppe. Die hat Günter Wendel4 geleitet, den ich mal etwas locker so charakterisieren würde: Er hatte eine Promotion über die Gründungsgeschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft geschrieben, die ganz gut war und heute noch lesenswert ist, doch war er in seinem Auftreten ein strammer Dogmatiker und Stalinist, der viele Jahre im Parteiapparat tätig und dort sozialisiert worden war. Alles, was er wissenschaftlich sagte und praktizierte, wurde an der marxistisch-leninistischen Ideologie oder an den Parteibeschlüssen gespiegelt. Er und wohl auch andere Mitarbeiter der Gruppe bzw. der Sektion wollten so einen wie mich nicht. Weit entfernt, ein Dissident zu sein, war ich für solche Parteisoldaten zu wenig angepasst und rechtgläubig: Ich war kein Genosse, sagte klipp und klar, was ich von den „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ hielt, denen ich auf keinen Fall beitreten wollte und lief damals in einem Parka herum.
Mathias Grote (MG): Woraus bestand eine „Kampfgruppe“ in diesem Zusammenhang?
DH: Na, das waren paramilitärische Einheiten der SED, die aus der Erfahrung des 17. Juni 1953 gegründet, im Notfall mit der Waffe in der Hand die DDR gegen die „Konterrevolution“ hätten verteidigen sollen – am 13. August riegelten sie zum Beispiel die Grenze zum Westen ab und sicherten den Bau der Mauer; in der sich zuspitzenden Krise der DDR, also 1988/89, übten sie auch den Ernstfall und das Auflösen von Demonstrationen. Da wurden alle SED-Genossen hineingepresst und gedrillt, aber auch solche vermeintlich „parteilosen Genossen“ wie ich sollten so diszipliniert werden. Am Akademie-Institut war ich wohl lange Zeit der einzige wissenschaftliche Mitarbeiter, der nicht in der Partei war – sieht man mal von den „Gefallenen“ ab, die wegen Revisionismus oder anderer Häresien aus der Partei geflogen waren. An der Uni war das alles noch schärfer als an der Akademie mit ihrer Nischenfunktion für solche bunten Vögel wie mich. Da wurde im Grunde das genau verlangt, dieses …
AtH: … Bekenntnis.
DH: Ja genau, dieses Bekenntnis, dass es eine Ehre und Pflicht war, sich vier oder fünfmal im Jahr am Wochenende die Kalaschnikow überzuhängen und in Sturmausrüstung durch den Märkischen Wald zu robben. Das alles hatte natürlich auch eine folkloristische Seite, denn am Abend wurde gegrillt, viel getrunken und sich im Witze-Erzählen, aber auch im allgemeinen Meinungsaustausch geübt, was es gestandenen Professoren oder kontemplativ veranlagten Wissenschaftlern wohl erleichtert hat, die Disziplinierungsexerzitien zu ertragen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wie gesagt, man wollte mich nicht an der Uni. Da hätte ich ja anderen mit meiner Kampfgruppen-Phobie ein Vorbild sein und vor allem als Dozent Studenten vom Pfad der sozialistischen Tugend abbringen können. Es gab glücklicherweise an der Akademie noch das „Institut für Theorie und Organisation der Wissenschaft“, ab 1975 dann „Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft“. Hubert Laitko5, der meine Promotion mitbetreut hatte, war zu dieser Zeit mit dem Aufbau einer Gruppe „Wissenschaftsgeschichte“ betraut worden, um die Wissenschaftsforschung gewissermaßen empirisch durch wissenschaftshistorische Untersuchungen zu flankieren. Laitko, der mein wichtigster akademischer Lehrer wurde, stammte ebenfalls aus der „Ley-Schule“ und gehörte zu ihrer ersten Generation; ich war Spross der zweiten, zeitlich wie qualitativ. Interessant ist, dass viele Doktoranden von Hermann Ley später in der Wissenschaftsforschung reüssierten.
Ich wurde nicht ganz zufällig zu einem Kolloquiumsvortrag ins Akademieinstitut eingeladen, um über meine Promotion vorzutragen, zu dem auch Günter Kröber6 als Direktor kam. Alles war damals noch relativ klein und überschaubar sowie in flachen Hierarchien strukturiert – ähnlich wie dann auch in den Anfangsjahren am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG). Der Vortrag schien gefallen zu haben, denn mir wurde unmittelbar danach angeboten, Mitarbeiter des Instituts zu werden; zunächst mit einem Dreijahresvertrag, der dann problemlos in eine Dauerstelle umgewandelt wurde. Damit war ich glücklich in der Akademie gelandet und in der Gruppe Laitko für die Physikgeschichte verantwortlich, später zusammen mit Horst Kant7.
MG: Was war 1975 der Hintergrund der Gründung des Bereichs Wissenschaftsgeschichte am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft an der Akademie der Wissenschaften der DDR?
DH: Man erkannte sehr schnell, dass diese Wissenschaftstheorie – oder Wissenschaftsforschung, von dem Begriff redete man damals aber nicht so viel – nicht bloß Soziologie oder Theorie, also in diesem Sinne Wissenschaftsphilosophie war, sondern eine empirische Basis in Gestalt der Wissenschaftsgeschichte benötigte. Dazu sollten Sie aber besser Laitko fragen, denn er war der theoretische Kopf des Instituts. In seiner Bescheidenheit oder Zurückhaltung sagte er das nie so, aber viele merkten das. Nicht Günter Kröber als Direktor, sondern er war der Ideengeber für vieles am Institut – so sehe ich das jedenfalls.
AtH: Ein Ideengeber für die historische Dimension?
DH: Dies sicher auch, doch war er eigentlich immer Generalist und wissenschaftlich sehr breit aufgestellt. Zum Beispiel geht auf ihn und Martin Guntau8, einen alten Freund aus der Zeit am Ley-Lehrstuhl, das Projekt „Disziplingeschichte“ zurück, das unserer Gruppe einige nationale wie internationale Aufmerksamkeit bescherte und sicher zu ihren bleibenden Leistungen gehört. Guntau war Geologiehistoriker und ein international hochgeachteter Wissenschaftler.
AtH: Mir sind die Veröffentlichungen von Guntau durch das Museum für Naturkunde Berlin ein Begriff, wie ging es mit ihm weiter?
DH: Nach seiner Promotion bei Ley kehrte er an die Bergakademie in Freiberg zurück, wo er studiert hatte und sich zu einem international anerkannten Geologiehistoriker profilierte. Nach der Habilitation baute er ab Mitte der 1970er Jahre an der Universität Rostock einen Bereich Wissenschaftsgeschichte auf, der zu den wichtigen Forschungszentren in der DDR zu zählen ist. Sein Wechsel nach Rostock hatte zudem damit zu tun, dass damals an fast allen Hochschulen der DDR Lehrstühle der Geschichte der Naturwissenschaften für die Lehrerausbildung vorgehalten werden mussten.
MG: Was ebenso wie das Programm an der Universität, in dem Sie promovierten, dazu dienen sollte, den Marxismus in die Naturwissenschaften hineinzubringen …
DH: Nicht ganz, denn in Berlin hatte das noch eine eigenständige Komponente. Hier gab es eine wissenschaftshistorische Tradition, die bis in die 1920er Jahre zurück reicht – ich meine das Institut für die Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften mit dem Medizinhistoriker Paul Diepgen9 als Institutsdirektor und dem Orientalisten Julius Ruska10, der die Naturwissenschaftsgeschichte vertrat. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Tradition dann durch Alexander Mette11, Dietrich Tutzke12 und eben Friedrich Herneck fortgeführt. Das war, glaube ich, eine wirkmächtigere Tradition, auf die dann der wissenschaftspolitische Wunsch bzw. die ideologische Zielstellung aufgesetzt wurde, eine dezidiert marxistische Geschichte der Naturwissenschaften zu betreiben.
Dennoch war das Institut sehr klein. Herneck hatte bestenfalls einen Assistenten, sonst nichts. Und vielfach – das ist die internalistische Tradition, die institutionell mit der Wende fast ganz verlorengegangen ist an der Uni – gab es auch an den einzelnen Fachbereichen Naturwissenschaftler, die sich für Geschichte interessierten. Wogegen andere Universitäten nicht auf einer wissenschaftshistorischen Tradition aufbauen konnten – in Rostock, wohin Guntau ging, vielleicht auf das Wirken des Philosophen Heinrich Vogel, der dort in den frühen 1970er Jahren einen interdisziplinären Arbeitskreis für Philosophische Probleme der Naturwissenschaften aufgebaut hatte. Für Rostock wurde per Dekret des Ministeriums verfügt: „Wir gründen jetzt da was, und der Herr G. sollte es dann in diesem Rahmen leiten.“ Die DDR war ja ein zentralistischer Staat, da konnte der Minister sagen: „Der Herr von da geht dort hin.“ Das musste zwar noch konkret abgesprochen werden, doch wer will nicht Professor oder Dozent werden und etwas Neues aufbauen? Das war – etwas holzschnittartig skizziert – die Gründungsphase der professionellen marxistisch-leninistischen Wissenschaftsgeschichte in der DDR, wobei neben Berlin vor allem Leipzig mit dem traditionsreichen Sudhoff-Institut zu den gesetzten Zentren gehörte.
Ob wir als Akademieinstitut im Vergleich zur Humboldt-Universität die Besseren waren, dazu möchte ich aus Befangenheit nichts sagen. Zumindest waren wir breiter aufgestellt, obwohl es an der Universität auch Forschungsrichtungen gab, die bei uns am Institut weniger – quantitativ wie qualitativ – gepflegt wurden. Ich denke da zum Beispiel an die kybernetischen Arbeiten von Klaus Fuchs-Kittowski13, auch ein Ley-Schüler.
AtH: Wer gehörte denn in der HU zur wissenschaftshistorischen Gruppe?
DH: Hannelore Bernhardt14 machte Mathematikgeschichte, Hartmut Scholz15 Chemiegeschichte, Ulli Sucker16 Biologiegeschichte und um 1980 komplettierte dann Reinhard Siegmund-Schultze17 aus Leipzig bzw. Halle die Gruppe als Mathematikhistoriker; in den späten 1980er Jahren kam noch Ralph-Jürgen Lischke18 dazu, der sich mit Friedrich Althoff beschäftigte und dazu kurz vor der Wende promoviert wurde. Das waren die tragenden Säulen von Wendels Truppe; es gab dann wohl noch zwei, drei Leute, deren Namen ich vergessen habe, die Teil der Marx-Engels-Werkausgabe waren. Auch Universitätsgeschichte wurde betrieben. 1985 stand ja das 175-jährige Universitätsjubiläum vor der Tür, doch das Projekt ist total gescheitert, weil der dafür verantwortliche Kollege unfähig war – der Name ist mir entfallen …
AtH: … wie praktisch …
DH: Na ja, da die gesamte Sektion nach 1990 abgewickelt wurde, standen alle auf der Straße – eigentlich sind nur Hannelore Bernhardt als Vorruheständlerin und Reinhard Siegmund-Schultze, der nach mehrjähriger Durststrecke einen Ruf nach Kristiansand in Norwegen erhielt, im Fach geblieben.
AtH: Wie sah das Verhältnis der beiden Gruppen aus, war es durch Konkurrenz oder Kooperation geprägt?
DH: Persönlich war das Verhältnis einvernehmlich, doch gab es natürlich eine Konkurrenz zwischen uns, und an Kooperationsvorhaben kann ich mich nicht erinnern. Die Situation der Akademie war ganz ähnlich wie die der Mitarbeiter der Max-Planck-Gesellschaft heute: Für uns gab es kaum Möglichkeiten, an der Uni Vorlesungen zu halten. Die dortigen Leute hatten natürlich Vorrang. Heutzutage ist das ja nicht viel anders. Laitko war allerdings umtriebig und hilfreich. Er achtete sehr darauf, dass wir uns auch in dieser Hinsicht entwickeln konnten und setzte dafür seine Beziehungen ein – heute würde man wohl von Netzwerken sprechen. Beispielsweise wurde sein gutes Verhältnis zu Dorothea Goetz19 genutzt, indem wir sie hin und wieder in der Lehre vertreten und so Lehrerfahrungen sammeln konnten. Auch wurde mit Laitkos alten Freunden vom Ley-Lehrstuhl, die inzwischen republikweit Professuren bekleideten, in dieser Weise kooperiert. So habe ich mehrmals an der Verkehrshochschule Dresden Vorlesungen zu physikhistorischen Themen gehalten; dass man sich dabei ein paar Groschen hinzuverdienen konnte, war im Übrigen auch nicht zu verachten. Das waren aber mehr individuelle Sachen. Solche Lehraufträge sind nie formalisiert oder institutionalisiert worden. Das ist uns 1990 dann gehörig auf die Füße gefallen, weil man sagte: „Ihr seid zwar gut, aber Ihr habt keine Lehrerfahrung.“ Für bestimmte Anstellungen wurden wir deshalb absichtsvoll gar nicht berücksichtigt.
MG: Ich würde gerne nochmal auf den Organisationsbegriff zu sprechen kommen, der im Namen beider Institute steckt. Was verbarg sich für eine Agenda oder für ein Ziel hinter diesem Begriff und wie ging man in der Praxis mit dem Thema „Wissenschaftsorganisation“ um?
DH: Das kann ich nicht so richtig sagen, in meiner Wahrnehmung war die „Wissenschaftsorganisation“ ein Kind der Ulbricht-Ära. Ulbricht war zwar ein eiskalter Machtpolitiker, doch waren Wissenschaft und Technik und deren Vertreter bei ihm positiv konnotiert, war er doch im Milieu der Arbeiterbildungsvereine groß geworden und zeigte so für Wissenschaft und Gelehrte einen gewissen Respekt, zuweilen sogar Hochachtung. Bei Honecker war das ganz anders, er und sein Parteiapparat waren in hohem Maße intellektuellenfeindlich eingestellt, das waren für ihn eigentlich alles „Eierköppe“, denen man prinzipiell misstraute. In den späten 1960er Jahren wollte man mittels heuristischer Ansätze und Methoden alle Mängel und Probleme, die es in der DDR-Gesellschaft und nicht zuletzt bei der Organisation von Wissenschaft und Technik gab, optimieren oder gar lösen. Das ist meiner Ansicht nach einer der Pfade, die zur Institutionalisierung der Wissenschaftswissenschaft in der DDR führen. Vielleicht kann man hier vom praktischen oder angewandten Zweig der Wissenschaftsforschung sprechen. Und hinzu kam sowas wie der Studiengang „Wissenschaftsorganisation“; das waren Leute, die in Institutionen die rechte Hand des Direktors wurden … Aber ich kenne mich mit all dem nicht so aus, da müsst Ihr andere fragen.
Und ehrlich gesagt, mich hat das alles kaum interessiert und tangiert. Die Wissenschaftsforschung, die ich erlebte, fand ich viel zu politisch und von Ideologie getrieben. Auch fühlte ich mich in den am Institut geführten Diskussionen unwohl und blieb weitgehend – eigentlich bis heute – in einer ganz „stinknormalen“ oder als etwas altmodisch zu charakterisierenden Wissenschaftsgeschichte, die nicht mal dezidiert internalistisch war. Mich interessierten Institutionen, Personen, Entdeckungsgeschichten in ihrer Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Zeit, aber nicht unbedingt als Helden des Sozialismus. Damit fühlte ich mich in der Tradition von Friedrich Herneck. Im Westen zählten anfangs zu meinen Vorbildern Armin Hermann20 oder Robert Jungk21 mit seinem Buch Heller als Tausend Sonnen.22 Auch Fritz Kraffts23 Arbeiten zur Entdeckungsgeschichte der Kernspaltung und der Rolle Fritz Strassmanns oder zur Entwicklung des Selbstverständnisses der Physik24 habe ich gelesen; natürlich habe ich damals – und ich spreche von den 1970er und frühen 1980er Jahren auch Bernals Wissenschaft in der Geschichte oder Kuhn studiert, wobei mir bei letzterem weniger die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen wichtig war, sondern sein Buch Black Body Theory and the Quantum Discontinuity 1894–1912.25 Das Buch hat mich so beeindruckt, dass ich es mir bald über private Kanäle beschafft habe – das war eine wirkliche Anschaffung, nicht nur intellektuell gesehen, sondern nicht zuletzt pekuniär, denn der (illegale) Umtauschkurs der Westmark lag bei 1 : 5, das heißt bei über 100 Mark (Ost), das heißt fast 20 % meines Monatslohns waren zu investieren und gegenüber meiner Frau (und meinem Geiz) zu rechtfertigen.
Physikhistorisch fand ich im Übrigen die zweibändige Weltgeschichte des russischen Physikers Jakob G. Dorfmann anregend, weil sie einen interessanten und komprimierten Überblick zur Entwicklung der Physik von der Antike bis zum 20. Jahrhundert liefert.26 Interessant war das Buch insofern, als dass es eine gute Synthese von internalistischer und externalistischer Wissenschaftsgeschichte bot – dies wohlgemerkt aus der Sicht eines „Postdocs“ in den späten 1970er Jahren. Große Teile des Buches habe ich sogar ins Deutsche übersetzt, nicht um deutsch-sowjetische Freundschaft zu zelebrieren, sondern ich wollte auf diese Weise vor allem systematisches Wissen und einen Überblick zu meinem Fachgebiet erwerben, was an einem außeruniversitären Forschungsinstitut nicht trivial ist – bis heute übrigens! Meine Übersetzungstätigkeit war natürlich auch mit der Hoffnung verbunden, vielleicht einen Verlag zu finden, was aber leider nicht in Erfüllung ging – c'est la vie …
In Euren aufgelisteten Fragen habt Ihr geschrieben, dass ich in meinen Arbeiten vor 1990 nicht oder nur verhalten ideologisch argumentiere, was einen im Nachhinein freut. Es war im Übrigen damals schon von anderen bemerkt worden, denn ein inzwischen verstorbener Kollege aus dem Westen sagte mir mal: „Wenn man Sie gelesen hat, dann wusste man, Sie sind kein Bekennender.“ Obwohl ich den Mut und die Zivilcourage zum Dissidenten nicht hatte, mich weitgehend loyal verhielt und wie so viele allzu oft die Schnauze gehalten habe, wurde ich von der Stasi in die Tüte „Freigeist“ gesteckt. Es gab eben bestimmte Grenzen, die ich nicht unterschreiten wollte; grundsätzlich hatte und habe ich nichts gegen den Sozialismus, sympathisiere damals wie heute eher mit sozialistischen Idealen wie Gerechtigkeit, Solidarität und Emanzipation (Freiheit und Demokratie sowieso), nur eben nicht in der stalinistischen Form, wie er im realen Sozialismus der DDR und den anderen sozialistischen Ländern doktriniert wurde.
MG: Vielleicht noch einen Nachtrag zum Organisationsbegriff: Passt der in die Richtung des Konzepts der „Wissenschaftswissenschaft“, das, soweit ich das weiß, aus der sowjetischen Forschung stammt und eine theoretische Durchdringung des Funktionierens und der Organisation von Wissenschaft bezeichnet, oder ist das eine andere Debatte?
DH: Wahrscheinlich wird das so gewesen sein. Doch was heißt Debatte, es war die Gründungs-DNA unseres Instituts, dessen intellektuelle und ideologische Wurzeln in ihren Grundsätzen wohl mehr oder weniger sakrosankt waren und das in seinem theoretischen Konstrukt von der Wissenschaftswissenschaft wohl in erster Linie den sowjetischen Diskussionen zur naukovedenye [Wissenschaftswissenschaft] entlehnt war. Über diese war man „aus erster Hand“ informiert, denn die Beziehungen zur Sowjetunion waren eng und dominant. Kröber zum Beispiel hatte Philosophie in der Sowjetunion studiert. In der Gründungsphase des Instituts gab es auch vielerlei und regelmäßigen Besuch von Kollegen aus dem Land des „Großen Bruders“. Ich selbst, der dort erst ab 1976 Mitarbeiter war, erinnere mich beispielsweise an mehrere Besuche von Bonifaz M. Kedrow27 am Institut. Der, damals schon um die 80, war eine Art „Guru“ der sowjetischen Wissenschaftsgeschichte und -philosophie, nicht zuletzt ein alter „Bolschewik“.
Die Wissenschaftsorganisation war besonders präsent an der Uni, das hängt sicher mit der Ausbildungsfunktion der dortigen Sektion Wissenschaftstheorie und -organisation zusammen.
AtH: Dieses Institut gibt es – in veränderter Form – nach wie vor und wurde kürzlich in ein interdisziplinäres Zentrum für Wissenschaftsforschung transferiert.28 Interessant ist, dass in Gesprächen mit ehemaligen Absolventen dieses Studiengangs John D. Bernal und die Lektüre seiner Bücher in den Vordergrund gestellt wird.
DH: Eigentlich ist die Sektion keine Vorgängerin des Zentrums, denn sie ist ja 1990 komplett abgewickelt worden, doch Bernal war so eine Art Gottvater … Ich hatte ihn schon als Physikstudent gelesen; nicht sein für die marxistische Wissenschaftstheorie so grundlegendes Buch The Social Function of Science, das in der DDR übrigens erst 1986 erschienen ist,29 aber die voluminöse Studie Die Wissenschaft in der Geschichte, die seit den 1960er Jahren auch in einer DDR-Ausgabe vorlag,30 das heißt problemlos zugänglich war. Allerdings habe ich ihn zunächst nicht als Antithese zur bürgerlichen Wissenschaftsgeschichte oder als Grundlage einer neuen, marxistisch verstandenen Wissenschaftsgeschichte gelesen; vielmehr als eine generalisierende Zusammenschau der Wissenschaftsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart – ähnlich wie die oben erwähnte Physikgeschichte von Dorfmann. Ich fand Bernals Buch interessant, aber nicht aufregend, und hatte als Physikstudent auch nicht den Wissensstand, um das Revolutionäre daran zu erfassen. Wann ich das begriffen habe, kann ich nicht einmal mehr sagen; ich glaube, erst nach meiner Promotion und in der Atmosphäre unseres Instituts. Hier war Bernal natürlich en vogue, doch ob er Gegenstand tiefgründiger und exzessiver Diskussionen war, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ich glaube auch, dass viele im Parteiapparat und auch unter meinen angepassten Kollegen lieber auf die sowjetische Literatur zurückgriffen. Das war ähnlich wie mit dem berühmten Aufsatz von Boris Hessen, den man erst spät in den stalinistischen Giftschränken „wiederentdeckt“ hatte, weil Hessens tragisches Schicksal als Opfer des stalinistischen Terrors orthogonal zum epistemisch revolutionären Gehalt seines Aufsatzes stand und damit schwierig umzugehen war. Es ist sicherlich ein Armutszeugnis der marxistisch-leninistischen Wissenschaftsforschung und -geschichte, dass der Nachdruck von Hessens berühmtem Vortrag „The Socio-Economic Roots of Newton's Principia“ in einem Studienband des westdeutschen Fischer Verlages publiziert wurde31 und danach im Westen ein Revival erlebte;32 im Osten dagegen und bei uns am Institut wurde dieses Thema nach wie vor eher unter der Hand und mehr in privaten Diskussionsgruppen diskutiert. Meines Wissens erschien erst 1990 in der (untergehenden) DDR eine umfassende Würdigung von Hessen und seinen Thesen zur wissenschaftlichen Revolution.
MG: War Bernals Positionierung vis-à-vis Trofim D. Lyssenko33 und Nikolai Vavilov34 damals auch ein Thema?
DH: Das waren zu meiner Zeit alles keine Tabuthemen mehr, doch es war kein mainstream, eher die Sache von kritischen und unangepassten Geistern, ja Außenseitern. Offiziell wollte man sich damit nicht wirklich beschäftigen, und dies aus gutem Grund, denn die Erfahrungen des 17. Juni 1953 und der kurzen „Tauwetter-Periode“ der späten 1950er Jahre, aber auch die blutige Niederschlagung der polnischen Arbeiteraufstände (1956, 1968, 1980) sowie des mit sowjetischen Panzern niedergewalzten ungarischen Volksaufstandes von 1956 und insbesondere des „Prager Frühlings“ 1968 waren im kollektiven Gedächtnis der DDR-Gesellschaft genauso fest verankert wie die rigiden Eingriffe in den Kulturbetrieb – Stichwort 11. Plenum (1965) – oder die restaurativen Tendenzen unter Honecker. Man wusste, es kann sehr schnell wieder anders, repressiver und intoleranter werden; andererseits war der „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten“ klar, dass die Beschäftigung mit solchen Themen sehr schnell die „Leichen im Keller“ des Sozialismus und die unter der Decke gehaltenen gesellschaftlichen Widersprüche offenbaren würde.
Die Lebensgeschichte meines akademischen Lehrers Friedrich Herneck ist dafür im Übrigen ein gutes Beispiel. In den späten 1950er Jahren war er im Zusammenhang mit seinen Forschungen zu „fortschrittlichen und atheistischen Wissenschaftlern“ auf ein autobiographisches Manuskript des österreichischen Physikers und Wissenschaftsphilosophen Ernst Mach gestoßen und hatte dieses in einer kommentierten Fassung publiziert. In der Wahrnehmung dogmatischer Kollegen und des stalinistisch geprägten Parteiapparats hatte er dabei aber die nötige „revolutionäre Wachsamkeit“ vermissen lassen, war doch Mach durch Lenins Streitschrift Materialismus und Empiriokritizismus als Revisionist entlarvt und quasi unter Bann. Herneck geriet so als überzeugter Kommunist, der am Ethos wissenschaftlicher Forschung festhielt, in die Mühlen der SED-Inquisition. Er wurde als Angehöriger einer „parteifeindlichen Gruppe“ denunziert, bekam ein Parteiverfahren, das seine Entlassung aus dem Hochschuldienst forderte. Allerdings wurde er am Ende nur seiner Stellung als Dozent im Marxismus-Leninismus-Grundlagenstudium enthoben, was ihm letztendlich zum Vorteil geriet, denn er wurde mit der Vorbereitung des 150-jährigen Universitätsjubiläums der HU 1960 betraut. Von da an stieg sein Stern als Wissenschaftshistoriker, doch war er ein „Gefallener“, dem man fortan nach wie vor wegen seiner „undurchsichtigen Haltung“ misstraute und der wegen seiner ausführlichen Korrespondenz mit westlichen Gelehrten für sein Buch Bahnbrecher des Atomzeitalters35 wohl auch von den Organen der Staatssicherheit überwacht wurde. Es war nicht nur die Stasi, die einem unabhängigen Geist wie Herneck auf den Leib rückte. Es waren auch Kollegen, die indoktrinierten – so kann ich mich noch lebhaft an eine Dienstversammlung erinnern, das muss Mitte der 1970er Jahre gewesen sein, wo über Herneck hergezogen wurde, weil er in der westdeutschen Zeitschrift Die Naturwissenschaften eine kleine Notiz publiziert hatte.36 Es könne doch nicht sein, „dass ein Professor in West-Zeitschriften publiziert!“ Solch ein Verdikt zielte natürlich nicht nur auf die vermeintliche feindliche Tätigkeit des Professor Herneck, sondern war vor allem an potentielle Nachahmer gerichtet. Beispielsweise hatte man in unserem Bereich und wohl auch im ganzen Institut bis zur Wende nicht in Westzeitschriften zu publizieren – die Ausnahmen bestimmte der Direktor. Solche Praxis war von Fachgebiet zu Fachgebiet und von Institut zu Institut unterschiedlich. So hatte ich Anfang der 1980er Jahre einmal die Idee, einen Aufsatz über Max Born und Pjotr Kapitza in einer Westzeitschrift zu platzieren und argumentierte dabei mit dem Beispiel meines Kollegen Siegmund-Schultze von der HU, der gerade einen Aufsatz in der renommierten Zeitschrift Archive for History of Exact Sciences37 publizierte hatte. Von meinem Institutsdirektor Günter Kröber oder seinem Sekretär bekam ich jedoch die freundlich formulierte, aber bestimmte Anweisung: „Nee, machst du nicht.“
Das war die Atmosphäre in einem gesellschaftswissenschaftlichen Institut; in den Natur- und Technikwissenschaften wurde sowas natürlich nicht so rigide behandelt, wenn es überhaupt jemals solche Auswüchse gegeben hat. Das Englische war dort seit jeher deutlich mehr verbreitet und akzeptiert als in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern, wo es auch aus ideologischen Gründen diskreditiert war. Als ich in meiner Dissertation (1975) englischsprachige Zitate verwenden und nicht ins Deutsche übersetzen wollte, wurde mir von einem wohlmeinenden und treuen Genossen gesagt: „Also Hoffi, man schreibt in einer philosophischen bzw. wissenschaftshistorischen Qualifikationsschrift nicht in der Sprache des Klassenfeindes.“ Ich habe es bei den englischen Zitaten belassen und es ist nichts passiert – doch wie die Sache zehn oder zwanzig Jahre früher ausgegangen wäre, das weiß ich nicht.
AtH: Wie fand überhaupt wissenschaftlicher Austausch oder generell die Kommunikation mit westlichen Kollegen statt?
DH: Das hatte alles nach strikten und festgefügten Regeln zu erfolgen, bei Wahrung des Primats der Politik. Auf diesem Gebiet gab es eine Art von Kastenwesen, denn die Mitarbeiter waren getrennt, in die sogenannten Reisekader, die ins Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet (NSW) reisen durften – eine Minorität, die streng nach politischen und sicherheitspolitischen Kriterien selektiert worden war –, und in die Majorität der Institutsangehörigen, die von diesem Privileg ausgeschlossen war. In unserem Bereich waren von 15 Wissenschaftlern vier oder fünf Kollegen NSW-Reisekader, ein wohl repräsentatives Verhältnis, und um ein gängiges westliches Vorurteil klar zu stellen: Reisekader waren nicht per se IMs der Staatssicherheit, denn oft waren gerade sie – aus nachvollziehbaren sicherheitspolitischen Gründen – der Stasi-Observation ausgesetzt.
Ich war kein Reisekader, und ein entsprechender Antrag wurde wohl erst in der Endzeit der DDR, als die Agonie der Macht schon groß war, in den jeweiligen Gremien des Instituts vorbereitet bzw. diskutiert. Allerdings war es mir seit Aufnahme meiner Tätigkeit an der Akademie erlaubt, in die „sozialistischen Bruderländer“ zu Tagungen oder Forschungsaufenthalten zu reisen – so war ich relativ häufig in der Tschechoslowakei, wo es mit der Tschechischen Akademie und deren Forschungsgruppe Wissenschaftsgeschichte enge Kooperationsbeziehungen gab, mehrmals in Ungarn und zweimal in Moskau, im Herbst 1983 sogar zu einem viermonatigen Aufenthalt an unserem Partnerinstitut, dem Akademieinstitut für die Geschichte der Naturwissenschaft und Technik.
Da ich nicht gen Westen reisen durfte, aber privat wie auch wissenschaftlich immer intensiv ins „Gelobte Land“ geschielt habe, versuchte ich dieses Defizit dadurch zu minimieren, dass ich mit vielen Westleuten, die ich zum Beispiel auf Tagungen in Ungarn oder der Tschechoslowakei, aber auch in Moskau, kennengelernt hatte, eine intensive Korrespondenz pflegte. Meine Briefe mussten allerdings sämtlich dem Sekretariat des Institutsdirektors vorgelegt werden; die Postordnung des Instituts (wahrscheinlich auch die der ganzen Akademie) sah vor, dass die eingehende Post aus dem NSW vom Sekretariat des Direktors geöffnet und kontrolliert wurde.
AtH: Und die Sekretärin las die dann …?
DH: Es war nicht die Sekretärin, es war schon jemand von dem Rang eines diplomierten oder promovierten Wissenschaftsorganisators oder ähnlicher Qualifikation; wichtig war, revolutionäre Wachsamkeit zu zeigen. Wenn der Brief etwas Erklärungsbedürftiges oder Anstößiges enthielt, wurde ich hin und wieder zum Direktor zwecks Aufklärung des Sachverhalts zitiert. Auch die ausgehende Post wurde so behandelt, wobei man einen Briefentwurf dem Direktor vorzulegen hatte, der dem Westkollegen dann schrieb: „Sehr geehrte[r] Herr/Frau! Mein Mitarbeiter Dr. Dieter Hoffmann beschäftigt sich im Rahmen seiner wissenschaftshistorischen Forschungsarbeit mit dem Problem X und würde gern Y wissen.“ Einmal wollte ich Friedrich Hund38 in Göttingen zur Geschichte der Quantentheorie befragen, doch bekam ich den Briefentwurf umgehend mit der handschriftlichen Bemerkung zurück: „Dem Hund schreibe ich nicht!“ Leider habe ich diesen Brief nicht aufgehoben. Hintergrund der brüsken Ablehnung war, dass Kröber als revolutionärer FDJler oder was auch immer Hund in Jena erlebt und ihm wohl insbesondere nicht verziehen hatte, dass er 1951 der DDR den Rücken gekehrt und in den Westen gewechselt war. Republikflucht war damals eine strafbare Handlung und ein großes Sakrileg, das insbesondere bei doktrinären Kommunisten in der Zeit des Kalten Krieges über den Tod hinaus registriert und sanktioniert wurde.
AtH: Mit anderen Worten: Du unterhieltest keine Korrespondenz mit Hund.
DH: Doch. Ich ließ den Brief einfach von einem Freund schreiben. Dieser war Physiker und dort gab es solche strengen und unsinnigen Vorschriften nicht – sie wären dort auch nicht praktisch umsetzbar gewesen. Man konnte sich also mit etwas Phantasie und kleinen Tricks über solchen Unsinn hinwegsetzen und durchlavieren.
Die Geschichte ist im Übrigen in die zweite Hälfte der 1970er Jahre zu datieren – in den 1980er Jahren verhielt man sich auch bei uns etwas „liberaler“, aber das Kontrollsystem blieb in seinem Wesen genauso demütigend. Man durfte nun seine West-Briefe selbst adressieren und diese wurden nun nur noch von der Leiterin der Stabsstelle „Internationale Beziehungen“ und zuweilen sicher auch vom Direktor persönlich gegengelesen. Die berüchtigte Schere im Kopf verhinderte, dass es übermäßig viele Beanstandungen gab, die Einschränkungen oder Verbote zur Folge haben konnten.
MG: Noch einmal zurück zu Kuhn. Wie habt Ihr ihn und die Debatten um die Structure wahrgenommen?
DH: Kuhn wurde in der DDR relativ früh wahrgenommen. Gerhard Harig39 hatte sich 1966, also noch vor der deutschen Ausgabe des Buches im Suhrkamp Verlag, in der NTM mit dem Kuhn'schen Paradigma-Konzept auseinandergesetzt.40 Dieser Aufsatz ist – wie so manches aus dem Osten – bisher nicht in seiner Bedeutung angemessen gewürdigt worden, obwohl Wolfgang Krohn412010 in der NTM-Jubiläumsschrift eine kluge Exegese von Harigs Aufsatz vorgelegt hat.42 Kuhn war natürlich auch für uns eine Größe, mit der man sich am Institut auseinandersetzte – für meine Begriffe allerdings etwas einseitig und stark ideologisch durchtränkt im Rahmen einer „Kritik der bürgerlichen Philosophie“, so der Name einer Forschungsgruppe am Institut. Dort setzte man sich ebenfalls mit den Theorien von Popper, Lakatos und anderen sogenannten spätbürgerlichen Wissenschaftstheoretikern auseinander – aber immer mit dem Fokus des ideologischen Verdikts und der Besserwisserei. Bei Popper und Lakatos hatte man zudem Abstand zu halten, denn man konnte sie auf keinen Fall als „reine Gelehrte“ behandeln, galt Popper doch als Ideologe und Theoretiker der Sozialdemokratie, und Lakatos hatte im kommunistischen Ungarn als Revisionist im Gefängnis gesessen und war dann nach 1956 in den Westen emigriert. Vorsicht war angesagt. Die Analysen meiner Kollegen fanden allein schon aus diesem Grunde nicht mein besonderes Interesse, weil man am Anfang der Analyse meist erahnen konnte, was am Ende herauskommen würde – da unterhielt ich mich dann schon lieber mit Laitko oder auch mit Hans-Peter Krüger43, der mir Habermas nahe brachte, und die zu diesen Fragen deutlich profundere und differenziertere Ansichten hatten.
In den späten 1980er Jahren vollzog sich in der Beschäftigung mit diesen Fragen ein Wandel – zumindest empfand ich das so. Die Orthodoxie wurde durch Bücher wie Reinhard Moceks44Neugier und Nutzen oder Ulrich Rösebergs45Szenarium einer Revolution aufgebrochen.46 Dass Moceks Neugier nicht nur von mir als interessant empfunden wurde, zeigt, dass in unserem Bereich in einer Art „Lesezirkel“ unter der Leitung Laitkos und der gelegentlichen Beteiligung Moceks – beide verband eine alte Freundschaft – das Buch intensiv diskutiert wurde. In diesen Büchern, mehr noch bei Röseberg, findet man auch, wenn auch etwas versteckt, Ansätze, das angelsächsische Konzept der History and Philosophy of Science für die eigene Forschung nutzbar zu machen. Die Ironie, um nicht von Tragik zu sprechen, ist dabei, dass diese fachlich guten und inspirierenden Kollegen mit dem politischen System und wie im Fall von Röseberg zudem eng mit der Staatssicherheit verbandelt waren. Dies hatte ihnen im Übrigen als Reisekader überhaupt erst die Möglichkeit gegeben, sich in der Welt umzutun und solche innovativen Konzepte wahrzunehmen.
MG: Wäre das ein positives Beispiel für eine Verzahnung von Geschichte und Theorie?
DH: In der Physikgeschichte würde ich das, wie eben erwähnt, bei Röseberg sehen; das Projekt von Guntau und Laitko zum Disziplinbegriff gehört ebenfalls hierher. Das daraus hervorgegangene Buch Der Ursprung der modernen Wissenschaften wurde auch im Westen gelesen.47 Im Buch findet man beispielsweise einen Beitrag von Wolfgang Girnus48, der auf seine Dissertation zurückgeht, der von einem „theoretischen Überbau“ ausgehend – was ist wissenschaftstheoretisch und soziologisch unter einer Disziplin zu verstehen – die Kärrnerarbeit der Disziplinwerdung beschrieb: Welche Lehrstühle, welche Zeitschriften, welche Forschungsthemen etc. es gab. Auch von mir findet man im Sammelband einen Beitrag – eine in ihrem Ansatz ganz traditionelle Studie „Zur Etablierung der ‚technischen Physik‘ in Deutschland“ –, der zu meinen meist zitierten Aufsätzen gehört und immer noch nachgefragt wird. Das sind solche Sachen zur Verzahnung von Theorie und Geschichte, die bei uns in der Gruppe gemacht wurden.
MG: Man könnte sich auch eine internalistische Form von Wissenschaftsgeschichtsschreibung als dialektische Begriffsgeschichte vorstellen, die in der DDR ganz gut funktioniert haben dürfte.
DH: So etwas wurde auch gemacht. Aber das entartete sehr schnell in eine Art scholastische Debatte. Für mich jedenfalls. Solche Begriffsdialektik wurde von Laitko betrieben und von Kollegen, die durch Peter Ruben49 beeinflusst waren, zum Beispiel Peter Beurton50, Bruno Hartmann51 oder Renate Wahsner52, um ein paar Namen zu nennen. Meine Sache war das nicht, doch zur Kenntnis nahm man diese Dinge wohl, weil sie nicht dem marxistisch-leninistischen Kanon folgten.
AtH: Noch einmal zurück zu den Büchern und wie Ihr an diese gekommen seid. Stimmt es, dass das in der Akademie leichter war als an der Universität?
DH: Ja, die Beschränkungen waren an der Uni wohl etwas ausgeprägter, in der Akademie nicht so stark, zumal uns sicher auch mehr Mittel (Devisen!) zur Verfügung standen. Ich denke, dass die Literatur, die wir für unsere konkreten Forschungen brauchten, im Großen und Ganzen angeschafft oder über andere Bibliotheken beschafft werden konnte; sehr viel prekärer war die Reiseproblematik. Was die Literaturbeschaffung angeht, ließen sich mit etwas Bauernschläue und der Pflege persönlicher Kontakte sogar private belletristische Lesewünsche erfüllen. Im Haus gab es z. B. das Zentralinstitut für Literaturwissenschaften mit einer gut sortierten Bibliothek. Und da lieh ich mir zuweilen die neusten (West-)Bücher aus, faktisch kurz nachdem sie erschienen waren, zum Beispiel die Jahrestage von Uwe Johnson, den ich schon damals bewunderte und der in der DDR auf dem Index stand. Die Literaturbeschaffung war eigentlich institutionell geregelt, doch gab es auch private Kanäle, die toleriert wurden. Schriftsteller und Künstler, die ja meist freischaffend waren, konnten eine sogenannte Postzoll-Nummer beantragen, die verhinderte, dass der DDR-Zoll oder die Staatssicherheit Buchsendungen aus dem Westen – wie sonst üblich – beschlagnahmte, und diese dann den Adressaten nicht erreichten. Dafür brauchte man Westgeld oder eine betuchte Verwandtschaft im Westen – über beides verfügte ich nicht. Allerdings konnte man mit Westkollegen Literatur tauschen: „Ich schicke dir das Buch, Du schickst mir das.“ Für solchen Naturalienhandel musste erstmal ein geeigneter Partner gefunden werden. Da die Westpost ja kontrolliert bzw. mitgelesen wurde, durfte man auch nicht als Bittsteller auftreten, da dies den Tugenden eines sozialistischen Menschen und erst recht dem Verhaltenskodex eines Akademiemitarbeiters widersprach. Insofern war es auch in diesem Falle von Vorteil, wenn man Reisekader war, denn so war es einfacher, kollegiale Freundschaften zu schließen und Buch-Deals anzubahnen. Da ich nicht dieser Kaste angehörte, pflegte ich einen recht intensiven Briefverkehr, zum Beispiel mit Andreas Kleinert53 in Hamburg. Diesen hatte ich auf dem Wissenschaftshistoriker-Kongress in Bukarest im Sommer 1981 getroffen, und wir sind bis heute in engem Kontakt.
Ich habe ihm damals auch bei Archivrecherchen geholfen, was bei einem Westler nicht trivial war, denn man agierte da in einem Graubereich (illegale Nachrichtenbeschaffung!), der sehr schnell kriminalisiert werden konnte. Denn die Weitergabe von Informationen an West-Kollegen, wozu auch Archivmaterial gehörte, war allein schon durch die Nutzungsordnung untersagt.
MG: Gab es da institutionalisierte Foren wie regelmäßige Tagungen oder Treffen, wo man wusste, dass sich dort vielleicht Begegnungen mit Forschern aus dem westlichen Ausland ergeben?
DH: Ja sicher, eben die schon erwähnten internationalen Konferenzen. Darüber hinaus gab es im Osten wie im Westen spezielle Foren oder Arbeitskreise, die jedoch meist nicht öffentlich bzw. deren Teilnehmer streng selektiert waren. Es gab zum Beispiel die sogenannten Jours Fixes am Institut für Gesellschaft und Wissenschaft (IWG) der Uni Erlangen, oder auch regelmäßige Treffen im österreichischen Deutschlandsberg. Da kamen aber nur die geprüften Reisekader hin. Mir (und natürlich auch anderen) blieb es vorbehalten, auf Tagungen nach Budapest oder Prag zu fahren. Die Beziehungen mit Prag waren besonders eng, und dort erinnerte vieles an die DDR – nach 1968 war alles streng „durchherrscht“ und auf Parteilinie gebracht worden. Wohingegen in Ungarn der reale Sozialismus deutlich „liberaler“ daherkam und man sehr viel mehr Westleute treffen konnte; in Polen sowieso. Die Polen schauten aber immer über uns hinweg, gleich bis nach Westberlin oder bis nach …
AtH: … Frankreich.
DH: Frankreich, oder auch nach Westdeutschland. Obwohl ich ein relativ romantisches Verhältnis zu Polen habe (dorthin ging als junger Oberschüler meine erste Auslandsreise, wo ich nicht nur ein aufmüpfiges Volk, sondern den Jazz und die moderne Kunst in Gestalt von „Nägeln in Brettern“ entdeckte), gelang es mir nie, wissenschaftliche Beziehungen zu dortigen Kollegen aufzubauen. In meiner Wahrnehmung gab es dort auch nicht so eine breite Wissenschaftsgeschichte wie bei uns oder in der Tschechoslowakei; natürlich forschte man sehr viel über Copernicus oder zur polnischen Wissenschaftsgeschichte.
MG: Ich hake hier nochmal nach. In den Naturwissenschaften fanden ja durchaus zum Beispiel Jahrestagungen von Fachgesellschaften, Biochemie oder so etwas, in Prag statt, da gab es also einigen Austausch. Offensichtlich funktionierten diese teilweise über die International Unions of Science organisierten Gesellschaften über den Eisernen Vorhang hinweg. Gab es Vergleichbares im Bereich Wissenschaftsgeschichte oder Wissenschaftsforschung?
DH: Das wüsste ich jetzt nicht, in den Naturwissenschaften natürlich. Es hängt immer von den Leuten ab. Du sagtest gerade „Prag“ und „Biochemie“. In Prag war Soňa Štrbáňová.54 Das ist eine Biochemikerin, die sehr anerkannt ist – sie lebt ja noch, ist inzwischen fast 90 und immer noch aktiv –, die viele internationale Beziehungen hatte. Die Leute aus dem Westen kamen ja nicht aus Freundlichkeit ins vermeintliche „Sibirien“, die wollten ja neben Gulasch und Pilsner Urquell insbesondere intellektuell etwas geboten bekommen bzw. lernen. Das heißt, wenn es Leute gab, die interessant waren – dies aus persönlicher Sicht, aber vor allem natürlich fachlich – dann konnte schon so etwas entstehen. In der DDR konnte ich als „Schütze Arsch“ nicht vorschlagen, bestenfalls über Bande anregen, dass dieser oder jener mal eingeladen werden sollte. Das geschah ein oder zwei Ebenen über mir, denn damit waren nicht zuletzt Fragen der politischen Großwetterlage, der Finanzierung oder inner-institutionelle Machtfragen verbunden – abgesehen von den ideologischen Prämissen. Außerdem darf man sich diese sozialistische Gesellschaft und deren Möglichkeiten nicht so vorstellen, wie wir es aus den letzten zwanzig, dreißig West-Jahren kennen.
AtH: Ich würde gern vom Reisen und den Kontakten weg hin zu den wissenschaftshistorischen Fragen, die für euch in den 1970er Jahren wichtig wurden und für die Ihr – wenn ich Dich richtig verstanden habe – eigene Arbeitsgruppen gründetet?
DH: Ja, und Du meinst sicherlich die „Arbeitsgruppe Physikgeschichte“. Es gab die Physikalische Gesellschaft der DDR und dort – wie überhaupt bei Physikern – war das Interesse für physikhistorische Fragen sehr groß. Diesem grenz- und systemüberschreitenden Faktum hatte man Anfang der 1970er Jahre in der Deutschen Physikalischen Gesellschaft – also im Westen – Rechnung getragen und unter der Federführung des Stuttgarter Physikhistorikers Armin Hermann einen Fachverband Geschichte der Physik gegründet. Auch wenn es keine direkten institutionellen Kontakte zwischen den beiden deutschen Physikalischen Gesellschaften oder den Physikhistorikern in Ost und West gab, konnte man darüber in den Physikalischen Blättern lesen, die in den Fachbibliotheken auslagen (in manchen allerdings unter Verschluss). Ich sagte mir, das sollten wir eigentlich auch bei uns haben. Parallel und unabhängig von meinen Überlegungen hatte Horst Kant, der damals an der Humboldt-Universität war, eine solche Idee aus ganz anderen Kontexten heraus entwickelt und als er in den späten 1970er Jahren zu uns ans Institut kam, haben wir uns zusammengetan und nun gemeinsam das „Projekt AG Physikgeschichte“ vorangetrieben, dessen offizielle Gründung 1980 erfolgte. Wenn ich mich recht erinnere, schrieben wir einen entsprechenden Brief an den Vorstand der Gesellschaft bzw. seinen Sekretär. Zuvor hatten wir natürlich unseren Chef, Hubert Laitko, über unsere Initiative informiert, der dagegen nichts einzuwenden hatte und uns gewähren ließ. Wer weiß, wozu eine solche Kooperation nützlich sein könnte, wird er vielleicht gedacht haben, denn die Physiker stellten auch in der DDR eine mächtige Gruppe dar, die nicht nur über symbolisches Kapital verfügte. Ich und wohl auch Horst Kant dachten uns, obwohl solche Aspekte nie offen zwischen uns diskutiert oder gar in die Öffentlichkeit getragen wurden, im Windschatten der mächtigen und pragmatischen Physiker würden wir vielleicht Dinge diskutieren und möglich machen können, die bei uns am Institut nicht, oder nur schwer bzw. in von uns nicht gewünschten Koalitionen zu realisieren waren. Darüber hinaus ging es uns darum – wir waren ja beide ausgebildete Physiker –, eine Brücke zwischen der Fachphysik und ihrer Geschichte zu schlagen, was an unserem Institut natürlich nicht im Fokus des Interesses stand, aber für mein/unser Verständnis von Wissenschaftsgeschichte immer und bis heute zentral war und ist. Dabei war es für mich (wahrscheinlich auch für Horst) wichtig, die Philosophen ein bisschen auf Distanz zu halten – wir wollten sie nicht ausschalten, doch wir wollten „den Hut“ aufhaben, denn sonst hätte die Sache sehr schnell einen philosophischen „Spin“ bekommen und damit in eine prägende ideologische bzw. politische Orientierung gedrängt werden können. Das war sicher keine Form von politischem Widerstand oder Dissidenz, aber es war das Bemühen, uns intellektuelle Freiräume und auch eine gewisse Unabhängigkeit zu verschaffen.
AtH: Und wie wurde dieses Interesse dann institutionalisiert?
DH: Wir organisierten zunächst physikhistorische Vorträge; so drei-, viermal im Jahr. Ab 1985 wurden von uns im zweijährigen Rhythmus und wegen des gesuchten Kontakts zu den Fachphysikern parallel zu deren Jahreshaupttagungen größere „Physikhistorische Tagungen“ unter internationaler Beteiligung organisiert, wo wir Gäste aus der Sowjetunion, Ungarn, der Tschechoslowakei und auch aus den USA und der Bundesrepublik begrüßen konnten;55 im Frühjahr 1991 fand schließlich in Dresden die erste gesamtdeutsche Tagung statt, zu der erfreulich viele Kollegen aus dem Westen angereist kamen; man war damals neugierig. Die Physikhistorischen Tagungen haben im Übrigen die Wiedervereinigung überlebt, was angesichts des allgemeinen Kahlschlags nicht selbstverständlich war; heute sind wir bei der 20. oder so angelangt.
Diese Aktivitäten wurden zu einem Forum, wo wir versuchten, auf die Wahrnehmung der Physikgeschichte und ihre Bedeutung für die Physik Einfluss zu nehmen; ebenfalls wollten wir die Fachphysiker mit aktuellem, physikhistorischem Fachwissen bekannt und nicht zuletzt die methodische Spezifik wissenschaftshistorischer Forschungen deutlich machen – Physikgeschichte ist eben nicht Physik, sondern Geschichte! Wir konnten in unserem missionarischen Ehrgeiz zumindest auf die verbale Unterstützung von einflussreichen, ja mächtigen Physikern zählen. So auf Robert Rompe56, „Oberphysiker der DDR“, der sich auf seine alten Tage dafür interessierte, wie Physikzentren wie Berlin entstanden waren, oder Hans-Jürgen Treder57, von dem es anregende wissenschaftshistorische sowie wissenschaftsphilosophische Studien gibt, und der gemeinsam mit Rompe den Terminus der „Großen Berliner Physik“ geprägt und propagiert hat. Damit ist gemeint, dass beginnend mit der Berufung von Helmholtz als Physikordinarius der Berliner Universität, also seit 1871 und bis 1933, vor allem aber in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende, in Berlin nicht lokale Physik, sondern Weltphysik getrieben wurde. Intensive physikhistorische Interessen pflegte ebenfalls der Thermodynamiker Werner Ebeling58, mit dem ich seit Mitte der 1970er Jahre – damals wirkte er noch in Rostock – persönlich bekannt bin und mit dem ich auch gemeinsam publiziert habe.59 Wenn man solche Leute im Hintergrund hat und sie für die einen bewegenden Themen interessieren kann, hilft es, diese in der Fachcommunity durchzusetzen. Es ist so, als wenn Sie heute einen Nobelpreisträger als persönlichen Förderer haben. Dann ist man zwar nicht so sakrosankt wie der Nobelpreisträger selbst, aber man kann doch mehr Sachen machen und durchsetzen, ähnlich einem akademischen Patronage-Verhältnis.
Die Beschäftigung mit der „Großen Berliner Physik“ und deren berühmten Protagonisten bediente nicht nur physikhistorische Forschungsinteressen, sondern besaß darüber hinaus auch noch einen handfesten wissenschaftspolitischen und ideologischen Impetus. Es sollte eine Tradition sichtbar machen, die ins Hier und Heute führte. Solches war im Marxismus und speziell für das marxistische Geschichtsbild immer wichtig: die Tradition, die hier bei uns auf fruchtbaren Boden fiel. In der DDR, die unter hohem Legitimationsdruck stand, spielte diese Bezugnahme noch eine besondere Rolle, sollte dadurch doch die Misere der Gegenwart verdeckt und verschleiert werden – man redete über die große Zeit der Berliner Physik, doch wollte man mit der Propagierung dieser wirkmächtigen Tradition an deren Abglanz partizipieren und die Durchschnittlichkeit der aktuellen Forschungsergebnisse kaschieren.
In der Physikalischen Gesellschaft haben wir in den 1980er Jahren zum Beispiel Tagungen zum 100. Geburtstag von Niels Bohr oder Erwin Schrödinger veranstaltet oder eben im Jahr des Berlin-Jubiläums 1987 zur „Großen Tradition der Berliner Physik“.
Bestimmte Ideen oder gar Projekte, die man in unserem Institut oder an anderen gesellschaftswissenschaftlichen Institutionen nicht hätte realisieren können oder die auf kein Interesse stießen, machten wir dann eben unter dem Patronat der Fachwissenschaften und speziell mit unserer Fachgruppe „Geschichte der Physik“. Da ließ sich auch in bescheidenem Maße Geld zur Finanzierung solcher Veranstaltungen akquirieren und man konnte damit ebenfalls seine wissenschaftliche Reputation und Akzeptanz verbessern. Als ich mich Mitte der 1980er Jahre für Ernst Mach zu interessieren begann, ließ sich Letzteres gut nutzen. Ich hatte ja schon erwähnt, dass Mach durch Lenin zum „Beelzebub“ der marxistisch-leninistischen Philosophie gemacht worden war und mein akademischer Lehrer Friedrich Herneck darüber gefallen ist. Damit war mir natürlich bewusst, dass meine Beschäftigung mit Mach in einem (ideologischen) Minenfeld erfolgen würde. Deshalb wollte ich mich nicht mit den Philosophen oder gar der „Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten“ darüber auseinandersetzen, ob Mach als Philosoph nun gut oder schlecht war. Da hätte ich leicht zum Verlierer werden können, zumal angesichts meiner philosophischen Defizite. Zur Rehabilitation von Mach wollte ich deshalb einen Umweg gehen, der auch meinen Fähigkeiten und Interessen entsprach, und den Physiker in den Fokus rücken: Ich wollte zeigen, dass er zumindest ein sehr guter Physiker gewesen war, was im Lichte der leninistischen Diffamierungen allzu leicht und geflissentlich vergessen wurde. Daneben wollte ich noch ein anderes Forschungsdesiderat aufarbeiten: Machs Prager Schaffensperiode, die fast drei Jahrzehnte von 1867 bis 1895 währte und damit seine längste und wohl produktivste war. Zudem erfolgte in diesen Jahren die Teilung der Prager Universität in eine Deutsche und Tschechische Universität, bei der Mach als Rektor besonders gefordert war. In diesem Nationalitätenkonflikt zeigte er sich im Übrigen nicht als Chauvinist und Nationalist wie viele seiner Zeitgenossen. Dieser thematische Rahmen wurde dann zur Grundlage meiner „Dissertation B“ (Habilitation), bei der ich von Hubert Laitko sowohl intellektuell als auch institutionell großzügig unterstützt wurde – so konnte ich 1985 im Rahmen des Akademie-Austauschprogramms für vier Monate nach Prag gehen, um in den dortigen Archiven meine Forschungen voranzutreiben. In der Zeit der politischen Wende im September 1989 habe ich meine Arbeit erfolgreich an der Humboldt-Universität verteidigen können. Bereits im Jahr zuvor, anlässlich des 150. Geburtstages von Ernst Mach, hatten wir sozusagen als Joint Venture von Physikalischer Gesellschaft, Kulturbund, dem Potsdamer Einstein-Laboratorium und natürlich unserem Institut, eine Mach-Tagung organisiert, die eine neue marxistische Mach-Rezeption auf den Weg bringen sollte. Sie erregte damals einige Aufmerksamkeit, doch sind die Intentionen sehr schnell von den politischen Ereignissen und den Folgen der deutschen Wiedervereinigung in den Schatten gestellt und zur Marginalie geworden. Neben Mach habe ich mich in meinen Forschungen generell immer wieder mit wissenschaftlichen „Außenseitern“ und marginalisierten Wissenschaftlern beschäftigt – so in der Zeit der Friedlichen Revolution in der DDR mit Robert Havemann, dem Physikochemiker und wohl wichtigsten Dissidenten der DDR.60 Seine öffentliche Rehabilitierung Ende November 1989 wurde für mich Anlass, umgehend an das Archiv der SED den Antrag auf Einsichtnahme in die „Akte Havemann“ zu stellen, womit ich wohl der erste Forscher war, der dazu im Parteiarchiv und anderen Archiven damals gearbeitet hat und woraus in den folgenden Jahren mehrere Publikationen entstanden sind.
Noch ein anderer Anknüpfungspunkt meiner Beschäftigung mit Havemann sei erwähnt. Havemann war ein Thema, das in der DDR bis 1989 eigentlich mit einem absoluten Tabu belegt war, aber gelegentlich doch gebrochen werden konnte. So in unserem Berlin-Buch61, in dem wir Wert darauf legten, dass Havemanns antifaschistische Widerstandtätigkeit und das gegen ihn verhängte Todesurteil gewürdigt wurden. Das erscheint heute vielleicht als selbstverständlich und belanglos, war aber damals ein gewaltiges Problem, das nicht nur unter uns diskutiert wurde. Auch Laitko, sonst ein sehr vorsichtiger und irenischer Mann, sagte, Havemann müsse (in gebotener Kürze) gewürdigt werden – was dann auch nach einigen Diskussionen mit den Lektoren des Dietz-Verlags, dem Verlag der SED, und vielleicht auch nach Absprache mit höherrangigen Funktionären, von denen vielleicht Laitko weiß, geschah.
MG: Kommen wir endlich zu Eurem Buch Wissenschaft in Berlin: Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945, das anlässlich des 750-jährigen Stadtjubiläums 1987 erschien.
DH: Ich denke, es war das wichtigste Projekt unseres Bereichs und ist der Ausweis unserer allgemeinen wissenschaftshistorischen Kompetenz und namentlich der unseres Chefs Hubert Laitko. Es ist auch ein Zeugnis des vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs geführten wissenschaftlichen Konkurrenzkampfes zwischen Ost und West. Unser Buch sollte vor dem Hintergrund der Systemauseinandersetzung der beiden deutschen Staaten das Thema „Wissenschaft in Berlin“ auf hohem wissenschaftlichem Niveau zusammenfassen. So wie es in Berlin zwei (eigentlich sogar drei) Opernhäuser gab, gab es auch für die Wissenschaft zwei komplementäre Wahrnehmungen der Stadt. Das Buch war Teil des Kampfes um die wissenschaftshistorische Deutungshoheit über die Frontstadt des Kalten Kriegs Berlin.
MG: So wie es in West-Berlin zur 750-Jahr-Feier einen starken Fokus auf Berlin als „Wissenschaftsstadt“ gab …
DH: … ja, aber was dort entstanden ist, war doch mehr atomisiert. Da gab es keine wirkliche Zusammenschau …
MG: Das leuchtet ein. Spielte dabei in der DDR auch das Thema „Innovation durch Wissenschaft“ eine Rolle, das in Westdeutschland in den 1980er Jahren eindeutig als Reaktion auf die wirtschaftliche Krise zu verstehen ist und in dieser Form bis heute so verwendet wird?
DH: Wir sollten ebenfalls zeigen, wie wissenschaftliche Innovation passiert, aber offiziell nahmen wir uns wechselseitig nicht wahr. Das ist ja ohnehin die besondere Situation von West-Berlin. Ich sage mal, es war bis Mitte der 1980er Jahre, und konkret bis zur Unterzeichnung des Wissenschaftsabkommens zwischen der DDR und der BRD im Jahre 1988, viel leichter, nach Ost-Berlin einen beliebigen internationalen Gast zum Vortrag einzuladen als einen Kollegen aus West-Berlin. Die besondere politische Einheit West-Berlin war eine ganz heikle und problematische Geschichte. Es gab da keinerlei offizielle Beziehungen. Die Leute, die – [lacht] das ist ja auch das Schizophrene – Reisekader waren, bekamen, wenn sie es begründen konnten, ein Visum, im Jahr zehn Tage oder so, um Bibliotheken und Archive in West-Berlin zu besuchen. Dabei besuchten sie natürlich auch Herrn Schütt an der TU, aber das war inoffiziell.62 Das durften sie eigentlich nicht, mit einer Westberliner Institution und deren Repräsentanten Kontakte zu pflegen.
AtH: Ich würde gern noch einmal zurück zu dem, was Du geschrieben hast. Du sagtest ja selbst, dass Du auch viel in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hattest. Es war Dir ein Anliegen, Physikgeschichte zu popularisieren oder allgemeinverständlich darzustellen. Und es fällt auf, wenn man durch Deine Publikationen geht – wir haben sie ausgeliehen, gelesen, quergelesen – dass Biographien Dir immer ein Anliegen waren.
DH: Ja. Das war meiner allgemeinen Neugier geschuldet [lacht]. Mein Einstieg in die Wissenschaftsgeschichte ging über Einstein – über sein Leben.
AtH: Genau. Und Biographien lassen sich natürlich gut darstellen. Das heißt, da kann man jemandem das, was die Physik ausmacht, faszinierend und spannend verständlich machen. Waren Biographien auch etwas, mit dem man – vielleicht ist das jetzt auch noch einmal so eine „Westsicht“ – etwas relativ unideologisch darstellen konnte? War das eine bewusste Entscheidung für dieses Genre „Biographie“ oder würdest Du sagen: Ach, das war einfach ein Interesse, und ich habe das so gemacht.
DH: Es war zunächst einmal und vor allem ein Interesse. Aber richtig, wie Du sagst, konnte man sich unter der Fülle der Biographien Leute aussuchen, wo man meinte, deren Lebensgeschichte oder deren Haltung vermitteln etwas, das Dir privat wichtig ist und das man gerne in die Mitte gerückt sähe.
AtH: Biographie auch als eine wirklich gute Verbindung von wissenschaftlichen Inhalten und Persönlichkeit …
DH: Ja, sozusagen soziale Strukturen und so eine Sozialgeschichte, ohne von internalistischen Sachen absehen zu können. Das hängt damit zusammen, dass ich viele Dinge in der Physik, auch wenn ich sie verstand, doch nicht so richtig verstanden habe [allgemeines Lachen]. Ja, ist ja so. Also kann man zwar darüber schreiben, wie das ist, aber diese Feinheiten, das ist dann doch noch ein nächster Schritt. Auch das Interesse an Schicksalen und an Haltungen passt zu Biographien, dass man zum Beispiel, wenn man über Einstein schreibt, seinen Pazifismus thematisiert. Pazifismus oder Antimilitarismus und Einsteins Haltung zur Sowjetunion waren in der DDR eher Tabuthemen.
AtH: Hast Du das von Herneck gelernt?
DH: Ich glaube, ja. Hernecks Spruch war immer: „Frag die Leute und entwickele daraus ein wahrhaftiges Bild“. Was Dir ja auch nahe ist. Sein Stil war aber nicht unwidersprochen. Der war ein Stück zu populär und lag quer zu dieser internalistischen Richtung in der DDR, insofern war er ebenfalls Außenseiter.
AtH: In einem Nachruf hast Du geschrieben, dass sich diese Herneck'sche Wissenschaftsauffassung nicht durchgesetzt hat.63 Wie würdest Du sie charakterisieren?
DH: Die war recht narrativ. Das heutige Verständnis ist doch ein ganz anderes. Viel komplexer. Nicht auf dieses „Heldengedenken“ ausgerichtet, was bei Herneck immer durchscheint. Er schreibt „für Helden“, war ein Kommunist und marxistischer Denker bis zum Ende. Bei seiner narrativen Darstellungsweise sieht er zwar nicht von politischen Dingen ab, aber explizit marxistische Elemente kommen nicht viel bei ihm vor. Er schreibt nicht in einen marxistischen Ideologierahmen hinein und nimmt sich auch die Freiheit, gegen solche Sachen anzuschreiben. Ich muss jetzt auch sagen, ich wurde natürlich aufgefangen von Laitko, der einen anderen Stil hat und mehr von allgemeinen Prämissen und Theorien ausgeht.
AtH: Um noch mal auf das Berlin-Buch zurückzukommen …
DH: Also, wenn unser Bereich an der Akademie nach außen hin wahrgenommen wird, dann meist über das Disziplin-Projekt von Guntau und Laitko, über das wir bereits sprachen sowie das Berlin-Buch; alles andere scheint weitgehend vergessen. Beides waren Projekte, die auch konzeptionell für die Forschungsrichtung unserer Gruppe typisch sind. Schlägt das Interesse für die Disziplingenese die Brücke zur Wissenschaftsforschung, so geht das Berlin-Buch in Richtung der Sozial- und Kulturgeschichte und natürlich der politischen Geschichte, wie das Buch ja auch – wie vorhin kurz angedeutet – eine nicht zu vernachlässigende politische Funktion hatte. Dies nicht nur in dem Sinne, als dass es die Anfänge moderner Wissenschaftspolitik und der aktiven Steuerung wissenschaftspolitischer Prozesse darstellt – als Stichwort sei in diesem Zusammenhang das „System Althoff“ erwähnt. Politisch war das Projekt eben „ein Auftragswerk“ für das 1987 anstehende 750-jährige Berlin-Jubiläum. Das Jubiläum hatte die höchsten politischen Weihen, und wer von Rang und Namen in der DDR war, insbesondere an den Berliner Wissenschaftsinstitutionen, wurde dringlichst aufgefordert, sich an der wissenschaftlichen und publizistischen Aufarbeitung zu beteiligen. In der Planungshierarchie war es auf der obersten Stufe als Staatsplan-Projekt ausgewiesen, verknüpft mit überdurchschnittlichen Forschungsmitteln und Prestige.
Wegen der herausragenden Bedeutung des Jubiläums – nicht zuletzt war Berlin eine Art Schaufenster des Ostens – wurde so um 1980 ein hochkarätiges Berlin-Komitee eingerichtet, dem nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Journalisten als Teil des Propaganda-Apparats sowie höhere Funktionäre von Staat und Partei angehörten – nicht so unähnlich der Organisation des Einstein-Centenariums 2005 …
An uns – an die Akademie, nicht an die Universität – erging so der Auftrag, ein wissenschaftshistorisches Konzept für das Jubiläum zu schreiben. Das wurde natürlich von Laitko als Chef gemacht, der auch Mitglied im zentralen Komitee war, das aber nur einmal getagt haben soll. Davon einmal abgesehen, hat er solche Sachen wie zum Beispiel Konzepte verfassen, geradezu perfekt beherrscht.
Als vorbereitende Maßnahme wurde zunächst eine Kolloquium-Reihe eingerichtet, die 1980 begann und systematisch spezielle Themenfelder der Berliner Wissenschaftsgeschichte beleuchtete, wobei auch auswärtige Kollegen zu Vorträgen eingeladen wurden. Unsere „Berliner Wissenschaftshistorische Kolloquien“ – so der offizielle Titel der Reihe, in der die Vorträge später auch publiziert wurden – waren also keine interne Angelegenheit und hatten einen regen Zulauf und viel Interesse; ich glaube, mich an Veranstaltungen von bis zu hundert Zuhörern zu erinnern.
AtH: Da habt Ihr die einzelnen Kapitel abgearbeitet.
DH: Ja, dort wurden mehr oder weniger systematisch Schwerpunkte bzw. Grundprobleme abgearbeitet, zum Beispiel die „Große Berliner Physik“, das „System Althoff“ etc. Die Erkenntnisse aus diesen Kolloquien gingen dann in das Konzept für das geplante Buch ein, wobei dieses von den Mitgliedern unseres Forschungsbereichs und unter Federführung von Laitko verfasst wurde – in diesem Fall waren die einzigen Kooperationspartner Conrad Grau64 und Wolfgang Schlicker65 von der Arbeitsstelle „Akademiegeschichte“ der Akademie, also nähere Kollegen.
Allerdings muss man im Rückblick doch selbstkritisch feststellen, dass wir beim Schreiben der einzelnen Kapitel unseren Chef schmählich im Stich gelassen haben und wir am Ende in der Synthese, aber auch in der hohen Qualität, die nötig war, aus meiner Sicht nichts Adäquates lieferten. Hinsichtlich der Autorenschaft hätte es durchaus heißen können: „Von Hubert Laitko unter Mitwirkung von etc.“ und nicht wie im Impressum des Buches festgehalten ist: „Autorenkollektiv: Hubert Laitko, Leitung, etc.“ Dass Laitko mehr als der Kopf des Buchprojektes war und die Kärrnerarbeit geleistet hat, wurde allgemein durchaus wahrgenommen. Laitko wurde dann auch dafür mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Ich glaube, er war der erste (genuine) Wissenschaftshistoriker, der mit dieser höchsten Wissenschaftsauszeichnung der DDR geehrt wurde; allerdings gehörte er zur letzten Runde der DDR-Nationalpreisträger, denn mit der Wiedervereinigung war der Nationalpreis perdu.
Die konzeptionelle Leistung von Laitko wurde – nicht zuletzt im Vergleich zu dem, was im Westen zum Jubiläum erschien – auch im Westen gewürdigt. Nicht so sehr von Vertretern einer internalistischen Wissenschaftsgeschichte, die vieles unter Ideologieverdacht stellten und Laitko vor allen Dingen das von ihm verfasste letzte Kapitel über die Aufbaujahre nach 1945 übelnahmen. Die positive Reaktion kam von Leuten wie dem Historiker und Mitherausgeber der KWG-Geschichte Bernhard vom Brocke, deren Forschungsfokus ja die Institutionengeschichte und speziell das „System Althoff“ sowie die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft war.
AtH: Und Rüdiger vom Bruch66 …
DH: Ja, diese Richtung (wissenschafts-)historischer Forschung, wobei vom Bruchs Lob schon etwas verhaltener ausfiel. Unser Buch und das Forschungskonzept von Laitko waren natürlich eine ganz andere Geschichte als die von Hans Wußing67 am traditionsreichen Sudhoff-Institut in Leipzig, wo es ebenfalls ein hochkarätiges Buchprojekt gab, die Geschichte der Naturwissenschaften.68 Dieses war im Übrigen explizit für den Westmarkt geschrieben worden, und nur wenige Exemplare der Auflage wurden in der DDR vertrieben.
MG: Ein anderes Thema dieser Zeit ist das Hervortreten eines veränderten historischen Bewusstseins insgesamt: Das Denkmal Friedrichs des Großen wurde Unter den Linden wieder aufgestellt, das Nikolaiviertel in historischem Stadtgrundriss rekonstruiert … Wie diskutierte man dieses veränderte historische Bewusstsein jenseits des Jubiläums?
DH: Was das Nikolaiviertel angeht, fällt mein Urteil doch sehr verhalten aus – ich bin dort, in den Ruinen des alten Viertels, groß geworden und empfand die vermeintliche Rekonstruktion doch eher als Disneyland denn als historische Replik.
Dass Traditionspflege seit den späten 1970er Jahren wieder wichtig wurde, stimmt natürlich und spiegelt sich auch in unserem Berlin-Buch, wie in unserer und meiner Beschäftigung mit den großen Traditionen der Wissenschaft bzw. Physik in Berlin. Das wurde auch bei naturwissenschaftlichen Fachkollegen so wahrgenommen, die diese Traditionslinien für das eigene Selbstverständnis sowie für die eigene Motivation aufnahmen. Gelehrte von Max Planck und Albert Einstein über Fritz Haber, Otto Hahn oder Lise Meitner bis hin zu Gelehrten der zweiten Kategorie wie Wilhelm Foerster, Walter Friedrich oder Oskar Vogt sollte man sich zum Vorbild nehmen.
MG: Was man durchaus auch sehr kritisch hätte sehen können.
DH: Sicherlich, doch sollte man hier nicht allzu selbstgerecht urteilen, denn der kritische Blick auf Wissenschaftsbiographien und -institutionen wurde im Westen auch nicht umstandslos von den etablierten Fachvertretern gepflegt, sondern zunächst von alternativen Projekten auf studentischer oder Assistentenebene. Eine solche Ebene gab es aus politischen Gründen in der DDR nicht, aber es gab durchaus auch staats- und ideologieferne Diskussionsrunden (von der Stasi oft argwöhnisch ins Visier genommen), in denen alternative Sichtweisen gepflegt wurden. So erinnere ich mich an Diskussionen im Umfeld des Einstein-Jahres 1979, in denen es um dessen Judentum und seine Haltung zum Zionismus und zum Staat Israel ging, sowie seine nicht nur positive Haltung zur Sowjetunion. Hoffähig oder gar publizierbar war das in der DDR aber nicht!
Dass in der DDR das „Würdigungswesen“ – hier darf ich ein Copyright reklamieren, denn dieser ironisierende Begriff unseres Tuns ist wohl von mir kreiert worden – so extensiv betrieben wurde, zumindest deutlich stärker als im Westen, hat sicher zum Teil damit zu tun, dass die Beschäftigung mit einer heroischen Vergangenheit und einer wissenschaftlichen Hochkultur gut dafür genutzt werden konnte, die aktuelle Misere etwas vergessen zu lassen und eine eigene, an der glorreichen Vergangenheit partizipierende Identität zu konstruieren, was staatlicherseits propagandistisch gut ausgeschlachtet werden konnte. Überhaupt lässt sich feststellen, dass sich das Traditionsverständnis in der DDR in der Honecker-Ära weitete und weniger dogmatisch war als in den Jahrzehnten zuvor. Ähnliches wie mit Friedrich dem Großen passierte im Lutherjahr mit Martin Luther oder auch mit Siemens sowie nicht zuletzt mit Preußen oder dem sächsischen Königshaus: Alle wurden in den 1980er Jahren enttabuisiert und dem progressiven Erbe der DDR zugeschlagen. Unsere Forschungen waren Teil dieser neuen Erbpflege.
AtH: Vielleicht noch eine Frage, die zwar privat ist, aber auch eine politische Dimension hat: Da Du und Deine Frau voll berufstätig wart, wie bekamt Ihr das mit den beiden Kindern hin?
DH: Dazu zwei Dinge vorab: Erst einmal war das Betreuungssystem ein anderes. Heutzutage bin ich immer erstaunt bei meinen Kindern, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre Kinder aus beruflichen Gründen in die Kita oder den Hort bringen. Hort war für uns immer eine no go area. Unsere eine Tochter wollte aber unbedingt dahin, und so schickten wir sie in diese Kinder-Verwahranstalt. Nach zwei Monaten hatte sie aber die Nase voll und wurde wieder zu der Art „Schlüsselkind“, wie es in unserem Freundes- und Bekanntenkreis sehr verbreitet war. Hinzu kam, zweitens, dass wir auch eine ganz andere Arbeitswirklichkeit hatten: Unser Forschungsbereich von etwa 15 Leuten verfügte über drei Büroräume – in dem einen saß die Sekretärin, im zweiten arbeiteten unsere wissenschaftlich-technischen Assistent:innen, die tägliche Präsenzpflicht hatten, und der dritte, etwas größere Raum war den Wissenschaftlern zugedacht, in dem unsere wöchentlichen Dienstbesprechungen und andere Zusammenkünfte abgehalten wurden; ansonsten musste von uns Wissenschaftlern immer jemand zu den üblichen Dienstzeiten anwesend und auskunftsfähig sein, was kollegial aufgeteilt wurde. Alles andere lief zu Hause ab bzw. man arbeitete in der Bibliothek oder in den Archiven – „nebenher“ konnte man also noch ganz gut unsere „Schlüsselkinder“ betreuen. So sah mein Arbeitsalltag aus, und diese Sozialisation habe ich bis heute – zum Kummer meiner Frau – weitgehend beibehalten, denn irritierenderweise lade ich ja heute noch die Leute zu mir nach Hause ein. Allerdings waren und sind wir vergleichsweise gut mit Wohnraum ausgestattet. Insgesamt konnten wir so die Betreuung relativ gut abfangen, zumal meine Frau als Lehrerin oft um drei oder vier Uhr nachmittags zu Hause war. Das klappte natürlich nicht immer, doch war es meist irgendwie regelbar. Zudem entließ man die Kinder frühzeitiger in die Selbstständigkeit.
Obwohl seit Gründung der DDR die Gleichberechtigung der Frau Verfassungsrecht und durch eine Vielzahl von Gesetzen geregelt war, war die Erziehung in der DDR deutlich frauenfokussiert und die Frauen leisteten trotz aller Emanzipation in der Regel den größten Teil der Hausarbeit. Hinzu kam, dass die Organisation des täglichen Lebens deutlich schwieriger und zeitaufwändiger war – man konnte beispielsweise nicht, wie heute, abends um halb sieben in die Kaufhalle (das Ost-Pendant zum Supermarkt) rennen und bekam dann alles, was auf dem Einkaufszettel stand. Bestimmte Sachen waren mit Anstehen und zeitfressender Organisation verbunden. Das Leben, zumal die Technisierung des Haushaltes, war natürlich auch weit unter den heutigen Standards. Die Frauen hatten so durchaus eine Art doppelte Berufstätigkeit zu leisten. Grundsätzlich wurde darüber nicht oder nur wenig gesprochen – man sprach nur darüber, wie man sie bewältigt. Die Situation war vielleicht vergleichbar mit der in Frankreich und oder den USA. Da ist es ja auch normal, dass beide Elternteile arbeiten; nicht zuletzt baute in der DDR der Lebensstandard auf zwei Gehältern auf, denn mit einem Gehalt ließ sich nur mit starken Einschränkungen eine Familie versorgen. Beispielsweise hatte sich die Frau einer befreundeten Familie ganz bewusst dafür entschieden, die ersten drei Jahre das Kind zu betreuen und nicht in die Kinderkrippe zu geben. Das war eine absolute Ausnahme und sie merkten die finanziellen Konsequenzen sehr schnell, und da waren dann Einschränkungen nötig. Unsere Gehälter waren ja nicht so doll. Meine Frau bekam als Lehrerin mehr als ich, etwa tausend DDR-Mark, ich um die achthundert. Ein Trabant kostete ungefähr zehntausend Mark, die Wohnungsmiete neunzig Mark. So war das, und es unterscheidet sich doch ganz grundsätzlich von dem, was dann nach der politischen Wende über uns Ostler kam, wobei man durchaus generalisierend feststellen kann, dass zu den Verlierern der deutschen Einheiten gewiss die Frauen gehören, nicht zuletzt die Akademikerinnen, die oft die ersten waren, die auf der Straße standen oder aus ihren Positionen herausgedrängt wurden.
AtH: Damit wären wir bei der politischen Wende in der DDR angekommen – wie hast Du den politischen Umbruch erlebt, und welche wissenschaftlichen und beruflichen Konsequenzen hatte dieser für Dich?
DH: Das Jahr 1989 war ohne Zweifel für mich das emotional bewegendste und zusammen mit den Folgejahren das dynamischste meines Lebens. Auch ohne Friedliche Revolution und Mauerfall hätte es wohl einen Wendepunkt in meinem Leben markiert. Im Sommer 1989 konnte ich erfolgreich mit Studien zu Ernst Mach meine Habilitation abschließen und gehörte auch zur DDR-Delegation zum Weltkongress für Wissenschaftsgeschichte in Hamburg und München (übrigens auf Kosten des Bundesministeriums für Innerdeutsche Fragen, was noch Mitte der 1980er Jahre ein Unding gewesen wäre!), war damit faktisch zum Reisekader-West aufgestiegen. Beide Qualifikationen hätten mir unter DDR-Bedingungen wohl ebenfalls neue berufliche Horizonte eröffnet; sicherlich deutlich bescheidenere, als die Imponderabilien der Weltgeschichte sie mir dann eröffnet haben.
Was 1989 geschah, war natürlich nicht vorhersehbar gewesen – schon gar nicht die Implosion des realen Sozialismus und der Untergang der DDR. Allerdings war Leuten wie mir, die kritisch zur DDR standen und pro-westlich dachten, klar, dass es so wie gehabt in der DDR nicht weitergehen konnte. Mein Kollege Mark Walker, der heute zu meinem engeren Freundeskreis gehört und in dieser kritischen Zeit in West-Berlin als Humboldt-Stipendiat forschte, erinnerte sich nach vielen Jahren daran, dass ich ihm auf seine Frage, wie die politische Lage in der DDR zu bewerten sei, im Spätsommer 1989 die für ihn sybillinische Antwort gab: „Ich weiß nicht, was konkret geschehen wird, doch klar ist, dass demnächst irgendetwas geschieht.“ Das „irgendetwas“ war die Friedliche Revolution mit dem Mauerfall vom Herbst 1989. Von der deutschen (Wieder)Vereinigung habe ich damals nicht einmal zu träumen gewagt, und als nüchternem und realistisch denkendem Historiker und Kind des Kalten Kriegs sowie im Angesicht von 500.000 Rotarmisten im Land erschien mir die deutsche Wiedervereinigung noch Weihnachten 1989 bestenfalls als Sache der Zukunft. Diese Meinung teilte ich damals mit vielen, u. a. einem heute hochangesehenen westdeutschen Politologen, mit dem ich zu Silvester die deutsche Frage ausführlich diskutierte. Ich habe die deutsche Wiedervereinigung damals emphatisch begrüßt und stehe auch heute noch dafür. Bauchschmerzen habe ich lediglich mit der Art und Weise, wie sie ausgeführt wurde, denn das geschah doch zu sehr und allzu einseitig auf dem Rücken von uns Ostlern und zugunsten westdeutscher Interessen, nicht zuletzt im akademischen Bereich. Dort wurde tüchtig ausgekehrt, und die Stellen in der Regel von (meist durchaus verdienstvollen und exzellenten) Kollegen aus dem Westen wieder besetzt.
Das System „West“ wurde dem Ost-System sozusagen übergestülpt und alles, was dem nicht angepasst werden konnte, ob nun sinnvoll oder nicht, wurde wie bei einem Baum, der gestutzt werden muss, radikal weggeschnitten – vermeintliche „Nicht-Finanzierbarkeit“ war hierbei eine gängige Begründung. Wenn ich mir so meine Gedanken über die deutsche Wiedervereinigung mache, was mit einiger Regelmäßigkeit geschieht, dann muss ich oft an Wolf Biermanns Deutschland. Ein Wintermärchen denken, wo er zur Entnazifizierung in der SBZ/DDR dichtet: „So gründlich haben wir/geschrubbt/mit Stalins hartem Besen/Das rot verschrammt der/Hintern ist/Der vorher braun gewesen …“ Nun kann man natürlich nicht die Entnazifizierung im Nachkriegsdeutschland eins zu eins in Beziehung zu dem setzen, was dann vier Jahrzehnte später im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung geschah – und dies ist auch keineswegs meine Intention beim Zitieren des Biermann-Poems –, doch wurden in absichtsvoller Rigorosität und überbordender Selbstgerechtigkeit nicht nur die Nomenklaturkader in den Orkus gewischt, sondern manche und manches, was durchaus bewahrenswert gewesen wäre, verschwand auf Nimmerwiedersehen – warum wurde beispielsweise der Biochemiker Tom Rapoport aus Berlin-Buch weggegrault, so dass er Deutschland in Richtung Harvard verließ? Die Art und Weise, wie tabula rasa gemacht wurde, ging auch zu Lasten unserer Gruppe, deren Leistungspotential ich hier in keiner Weise schönreden will, doch sie wäre vielleicht ein möglicher Nukleus für Forschungen zum so erfolgreichen Wissenschaftssystem im Wilhelminischen Deutschland und der Weimarer Republik gewesen. Dafür gab es keine einflussreichen westdeutschen Fürsprecher oder gar eine Lobby. Im Ergebnis wurde unsere Gruppe, wie die Majorität der Akademieforschung, atomisiert und in alle Winde zerstreut – etwa ein Drittel konnte im Forschungssystem der Bundesrepublik verbleiben, meist in subalternen Positionen oder durch Drittmittel finanziert, ein Drittel wurde mehr oder weniger unfreiwillig Vor-Ruheständler und ein weiteres Drittel musste sich seinen Lebensunterhalt nun im nichtakademischen Bereich verdienen. Dabei folgte diese Drittel-Parität eher statistischen Regeln als dem Leistungsprinzip. Dass heute, wo alle Messen gelesen, die Kommandoposten verteilt sind und sich tatkräftige westdeutsche Netzwerke etabliert haben, unaufrichtige Krokodilstränen darüber vergossen werden, befremdet mich eigentlich mehr, als es einen erfreut – wo waren die Stimmen der kollegialen Solidarität vor dreißig Jahren!?
Ich selbst, der ich weder Bürgerrechtler noch Dissident war, habe im Herbst 1989 versucht, mich in den Reformprozess meines Instituts wie auch der gesamten Akademie einzubringen. Im Sommer 1990 war das aber alles „Makulatur“ geworden, denn im vereinigten Deutschland würde es zum 1. 1. 1992 keine Akademie der Wissenschaften mehr geben. Es war also privat wie beruflich eine grundlegende Neuorientierung angesagt, und bei dieser spielten Zufall und Glück eine große Rolle.
Ich selbst hatte Glück – vielleicht auch das Glück des Tüchtigen. Mir kam dabei zu Gute, dass ich dem Westen gegenüber offen und neugierig war, einige Westkollegen auch persönlich kannte. So wurde ich zunächst von der Physikalisch-Technischen Bundeanstalt (PTB) eingeladen, mit einem Stipendium den Vereinigungsprozess zwischen der PTB und dem entsprechenden metrologischen Institut der DDR zu dokumentieren. In dieser Zeit wurde ich auf ein spezielles Integrationsprogramm der Alexander von Humboldt-Stiftung aufmerksam, das jüngeren Wissenschaftlern aus dem Osten – ich gehörte gerade noch zu dieser anvisierten Alterskohorte – die Möglichkeit bot, für ein halbes Jahr an ein westdeutsches Institut ihrer Wahl zu gehen, um dort den Westen „zu lernen“. Ich gehörte zu den ersten Stipendiaten dieses Programms und ging 1991 für ein reichliches halbes Jahr zu Armin Hermann69 an die Universität Stuttgart. Dass die Wahl auf Hermann fiel, hing damit zusammen, dass Hermann für mich eine Art „Fernlehrer“ gewesen war und ich ihm beim Wissenschaftshistoriker-Kongress in Hamburg und München im Sommer 1989 persönlich begegnet bin. Manche Leute schüttelten über meine Entscheidung etwas den Kopf, doch stand mir Hermann in seiner etwas altbacken betriebenen Wissenschaftsgeschichte damals wissenschaftlich sehr nahe, und er war mir gegenüber sehr hilfsbereit. Seine Bücher wurden auch im Osten gelesen, nicht zuletzt von Physikern.
AtH: Und er schrieb auch Biographien …
DH: Ja, viele und meist populäre. Vor allem aber war er in der westdeutschen community sehr gut und effektiv vernetzt, was mir einige Vortragseinladungen einbrachte; auch sonst verfügte er über gute Verbindungen, die mir etwa halfen, im folgenden Jahr (1992) in die USA zu gehen. Zunächst aber ging es erstmal nach Stuttgart, wo ich den Westen in jeder Hinsicht kennenlernte – auch die innovativen Ansätze der aktuellen Wissenschaftsgeschichte durch Hermanns Assistenten Helmuth Albrecht. Mit ihm und seiner Frau Monika Renneberg habe ich damals viel diskutiert, und wir sind bis heute befreundet.
AtH: Du warst 1992 in Harvard …
DH: Ich glaube, Harvard war für meine Entwicklung und meine Akzeptanz im Westen am entscheidendsten. Dabei war es nicht trivial, dorthin zu kommen. Erwin Hiebert70 und Gerald Holton71 – Hiebert hatte ich schon in den 1980er Jahren durch die vorhin erwähnte tschechische Kollegin Soňa Štrbáňová persönlich kennengelernt und Holton 1990 auf einer Tagung zum Wiener Kreis in Wien – hatten mich nach Harvard eingeladen. Dass dies allein schon eine hohe Ehre war, wusste ich damals nicht, musste ich doch das Geld für die Reise und den dortigen Aufenthalt selbst aufbringen. Dafür kam wieder die Humboldt-Stiftung auf, denn das Integrationsstipendium sah, wie bei Humboldt-Stipendiaten üblich, eine Wiederaufnahme vor – allerdings sollte man in Deutschland bleiben. In meinem Wiederholungsantrag schrieb ich, dass einer meiner großen Träume Amerika sei und mir mit der Einladung die einmalige Möglichkeit dafür geboten würde; auch würde ich nur das Geld beanspruchen, das ich für die Verlängerung in Deutschland bekäme. Solchem Pragmatismus hat man sich nicht entziehen können und man genehmigte mir eigentlich regelwidrig das Stipendium. Nicht nur in meinem Fall ist die Humboldt-Stiftung eine sehr unbürokratisch handelnde und ungewöhnlich kooperative Institution. Ich ging dann also Ostern 1992 nach Harvard, wo ich mich vor allem durch die Einstein Papers wühlte – leider konnte aus diesen Archiv-Studien keine Edition von Briefen Einsteins an Berliner Physiker realisiert werden, da Princeton University Press damals eifersüchtig das Copyright für solche geschlossenen Briefeditionen für sich reklamierte. Allerdings gab es einen vollwertigen Ersatz, denn während meines Amerika-Aufenthalts waren die Farm-Hall-Protokolle freigegeben worden. Darauf hatten mich Mark Walker72 und Roger Stuewer73 aufmerksam gemacht, und ich nutzte die Gunst der Stunde, fuhr nach Washington in die National Archives und brachte die Kopien der Protokolle mit nach Deutschland. Im folgenden Jahr erschienen sie dann bei Rowohlt Berlin, was einiges Aufsehen erregte und mein größter Bucherfolg wurde – bis heute. Das Buch hat sicherlich meine Akzeptanz in der community gestärkt und wohl auch dazu beigetragen, dass ich im harten Selektionsprozess nach der deutschen Einheit nicht auf der Strecke blieb. Über mehrere Zwischenstationen erhielt ich schließlich eine unbefristete Stelle am neugegründeten MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin in der Abteilung von Jürgen Renn und war damit im „Paradies der Forschung“ gelandet. In der Lotterie der deutschen Einheit war mir sozusagen ein Fünfer im Lotto zuteilgeworden, wobei mir aber in Demut und Bescheidenheit die Anmerkung erlaubt sei, dass ich sehr wohl weiß, dass es auch noch Sechser gibt, doch will man ja nicht unbescheiden sein …
AtH: Du warst danach noch 1994 in New York, 1995/96 dann zweimal in England.
DH: Ja, in Cambridge bei Simon Schaffer, den ich hier in Berlin getroffen hatte und dessen Buch mit Steven Shapin mir wegen seines für mich neuartigen Blicks auf die Wissenschaftsgeschichte sehr imponierte.74
AtH: Ich erinnere, dass innerhalb des Verbundes für Wissenschaftsgeschichte, der 1988 oder 1989 im Westen gegründet wurde …
DH: … die letzte Gründung des Kalten Krieges, sage ich immer … [lacht]
AtH: … und bei dem Du auch immer bei den Sommerakademien dabei warst.
DH: Als Zuhörer. Ob immer, weiß ich nicht …
AtH: Und ich erinnere mich gut an Annette Vogt75, die – glaube ich – Lorenz Krüger76 unterstützt hat?
DH: Ja, sie war eine Art Geschäftsführerin des befristeten und von der MPG finanzierten Forschungsschwerpunktes „Wissenschaftsgeschichte und -theorie“, der vom Göttinger Wissenschaftsphilosophen Lorenz Krüger geleitet wurde – ein feiner, leider allzu früh verstorbener West-Chef.
AtH: Und inwiefern spielten diese Sommerakademien für Dich eine Rolle?
DH: Sie waren eigentlich nicht so präsent, was auch damit zusammenhängt, dass ich in dieser Zeit, wie beschrieben, viel unterwegs und nicht in Berlin war – das waren sozusagen meine verspäteten Lehr- und Wanderjahre. Hinzu kam, dass ich mich neben meinen beruflichen Verpflichtungen auch sehr in der Physikalischen Gesellschaft engagierte. 1991 hatte mir Hermann die Leitung des Fachverbandes „Geschichte der Physik“ der Deutschen Physikalischen Gesellschaft übertragen. Das war für mich und nicht zuletzt meine Karriere ungemein wichtig, weil diese Aktivitäten ganz wesentlich zu meiner Reputation beitrugen.
AtH: Dieses Amt hast Du zwanzig Jahre bekleidet – eine lange Zeit.
DH: Ja, eine ungewöhnlich lange Amtsperiode und für ein Amt in der DPG sogar rekordverdächtig. Aber es hat mir Spaß gemacht und mir auch viele Gestaltungsmöglichkeiten gegeben – mehr als mir am MPI eingeräumt wurden. Die dort betriebene Wissenschaftsgeschichte war mir in Teilen auch manchmal zu avanciert und abgehoben, zuweilen wurde man dort auch absichtsvoll übersehen … Ich denke da zum Beispiel an das Projekt zur Geschichte der Kaiser Wilhelm Gesellschaft (KWG) im Nationalsozialismus oder auch jüngst das zur Geschichte der MPG, bei denen eben nur Platz für die aller-aller-besten war. Da habe ich dann eben zusammen mit Mark Walker das Projekt zur Geschichte der DPG im Dritten Reich initiiert und in einem sehr viel bescheideneren Rahmen realisiert.
AtH: Aber trotzdem hast Du vor drei Jahren einen renommierten Preis bekommen, den Abraham Pais Prize für Geschichte der Physik.
DH: Der wird aber von der American Physical Society verliehen und steht genau für das, was ich mit meinen Forschungen anstrebe: den Brückenschlag zwischen Physikgeschichte und Physik. Aber auch der Preis war großes und völlig unerwartetes Glück, lassen sich doch sofort ein Dutzend oder mehr Kollegen aufzählen, die den Preis mindestens genauso verdient hätten wie ich – doch Auszeichnungen sind eben nicht-lineare Phänomene!
期刊介绍:
Die Geschichte der Wissenschaften ist in erster Linie eine Geschichte der Ideen und Entdeckungen, oft genug aber auch der Moden, Irrtümer und Missverständnisse. Sie hängt eng mit der Entwicklung kultureller und zivilisatorischer Leistungen zusammen und bleibt von der politischen Geschichte keineswegs unberührt.