{"title":"1933年2月:乌韦·维特施托克的《文学的冬天》(书评)","authors":"","doi":"10.1353/gsr.2023.a910207","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Reviewed by: February 1933: The Winter of Literature by Uwe Wittstock Paul Michael Lützeler February 1933: The Winter of Literature. By Uwe Wittstock. Translated by Daniel Bowles. Hoboken, NJ: Polity Press, 2023. Pp. ix + 278. Cloth $29.95. ISBN 9781509553792. Uwe Wittstock hat mit seinem Buch über die Flucht der Hitlergegner in den ersten Wochen der Naziherrschaft eine Studie veröffentlicht, die bei den zeitgeschichtlich interessierten Mitgliedern der GSA auf großes Interesse stoßen wird. Es geht hier nicht nur um das Schicksal von Autor*innen, die in mehr oder weniger fremde Länder verbannt werden, sondern auch um ein historisches Lehrstück über die unglaublich schnelle Verwandlung einer liberalen Demokratie in ihr politisches Gegenteil: die terroristische Diktatur. Innerhalb von sechs Wochen werden die wirkungsmächtigsten Repräsentant*innen der deutschen Literatur der Weimarer Republik vertrieben—man denke an Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler, Heinrich und Thomas Mann, Erika und Klaus Mann, Erich Maria Remarque, Gabriele Tergit, Ernst Toller, Carl Zuckmayer. Das geschieht, weil ein föderativ organisierter Rechtsstaat durch einen zentralistisch strukturierten Terrorapparat ersetzt wird. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 unterzeichnet Reichspräsident Hindenburg alle vom \"Führer\" der Nationalsozialisten gewünschten sogenannten Notverordnungen. Der Präsident gibt auch dem Drängen des Kanzlers nach, Neuwahlen fünf Wochen später anzusetzen. Von freien Wahlen kann da schon nicht mehr die Rede sein, weil Hitler die gegnerischen Parteien Parteien (Zentrum, SPD, KPD) massiv im Wahlkampf behindert und für seine NSDAP alle nur denkbaren staatlichen Mittel für propagandistische Zwecke missbraucht. Zudem füllen Industrielle die leeren Kassen der Hitlerpartei. Wittstock schildert den rasanten gesellschaftlich-politischen Umbruch von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Das Bemerkenswerte ist, dass er die Gleichzeitigkeit der erfolgreichen Schachzüge Hitlers und der ständig scheiternden Versuche von Opposition und Widerstand in Erinnerung ruft. In Hitlers Partei gilt das Führerprinzip: seine Stör-, Verfolgungs- und Verhaftungsbefehle werden von SA und SS sofort befolgt. In der Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste will ihr Vorsitzender [End Page 503] Heinrich Mann sich nicht zu Loyalitätserklärungen Hitler gegenüber erpressen lassen. Er tritt zurück, überlässt aber dadurch das Schicksal seiner Akademie-Sektion dem Nationalsozialisten Hanns Jost und dem Mitläufer Gottfried Benn. Noch nie ist in der Literaturgeschichte so genau im Zusammenhang beschrieben worden, wie, auf welche Weise, mit welchen Mitteln und bei Berücksichtigung der familiären Verhältnisse fast gleichzeitig Autor*innen oder Verleger, Kritiker*innen und Akademieangehörige die Flucht vor der neuen Diktatur ergreifen. Zuweilen helfen nur rasche Geistesgegenwart oder glückliche Umstände, die Staatsgrenze zu erreichen und ihr Überschreiten zu ermöglichen. Heinrich Mann etwa weiß, dass die deutschen Zollbeamten in Kehl nur lax kontrollieren; Willi Münzenberg erfährt, dass man bei der Reise ins Saarland (damals unter französischer Verwaltung) auf deutscher Seite die Zollschranke quasi ignoriert, weil man die Region als Teil des Deutschen Reiches betrachtet. So entkommen beide Autoren unbehelligt nach Frankreich. Immer wieder ist es—mit seinen Fernverbindungen nach Prag, München, Wien, Zürich und Mailand—der Anhalter Bahnhof in Berlin, von dem aus die Flüchtlinge ihre Reise ins Ungewisse antreten. (So ist es nur richtig, dass man heute—fast achtzig Jahre nach der Zerstörung dieses Verkehrsknotenpunkts—plant, dort ein Exilmuseum zu errichten.) Einige der noch jungen aber bereits bekannten linken Autoren—wie Egon Erwin Kisch und Manès Sperber—sind tschechoslowakische Staatsbürger, werden verhaftet und in die sogenannten \"wilden\" Konzentrationslager gebracht, müssen aber als Ausländer aus der Haft entlassen werden: Man schiebt sie nach Prag ab. Wittstock erwähnt auch die weiteren Exilstationen der Autor*innen, denn schon in wenigen Jahren erweisen sich die Fluchtorte Prag, Salzburg, Wien, Mailand und Paris, Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen und (besonders zur Zeit des Hitler-Stalin-Pakts) auch Moskau als Fallen, denen man sobald wie möglich entkommen will, sei es mit dem Ziel London, New York, Jerusalem oder Shanghai. Fast in jedem Kapitel über die Fluchtumstände einzelner Autor*innen hat Wittstock Informationen über die seit Jahren andauernden bürgerkriegsartigen Kämpfe zwischen Nationalsozialisten...","PeriodicalId":43954,"journal":{"name":"German Studies Review","volume":"150 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.2000,"publicationDate":"2023-10-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"February 1933: The Winter of Literature by Uwe Wittstock (review)\",\"authors\":\"\",\"doi\":\"10.1353/gsr.2023.a910207\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"Reviewed by: February 1933: The Winter of Literature by Uwe Wittstock Paul Michael Lützeler February 1933: The Winter of Literature. By Uwe Wittstock. Translated by Daniel Bowles. Hoboken, NJ: Polity Press, 2023. Pp. ix + 278. Cloth $29.95. ISBN 9781509553792. 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February 1933: The Winter of Literature by Uwe Wittstock (review)
Reviewed by: February 1933: The Winter of Literature by Uwe Wittstock Paul Michael Lützeler February 1933: The Winter of Literature. By Uwe Wittstock. Translated by Daniel Bowles. Hoboken, NJ: Polity Press, 2023. Pp. ix + 278. Cloth $29.95. ISBN 9781509553792. Uwe Wittstock hat mit seinem Buch über die Flucht der Hitlergegner in den ersten Wochen der Naziherrschaft eine Studie veröffentlicht, die bei den zeitgeschichtlich interessierten Mitgliedern der GSA auf großes Interesse stoßen wird. Es geht hier nicht nur um das Schicksal von Autor*innen, die in mehr oder weniger fremde Länder verbannt werden, sondern auch um ein historisches Lehrstück über die unglaublich schnelle Verwandlung einer liberalen Demokratie in ihr politisches Gegenteil: die terroristische Diktatur. Innerhalb von sechs Wochen werden die wirkungsmächtigsten Repräsentant*innen der deutschen Literatur der Weimarer Republik vertrieben—man denke an Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler, Heinrich und Thomas Mann, Erika und Klaus Mann, Erich Maria Remarque, Gabriele Tergit, Ernst Toller, Carl Zuckmayer. Das geschieht, weil ein föderativ organisierter Rechtsstaat durch einen zentralistisch strukturierten Terrorapparat ersetzt wird. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 unterzeichnet Reichspräsident Hindenburg alle vom "Führer" der Nationalsozialisten gewünschten sogenannten Notverordnungen. Der Präsident gibt auch dem Drängen des Kanzlers nach, Neuwahlen fünf Wochen später anzusetzen. Von freien Wahlen kann da schon nicht mehr die Rede sein, weil Hitler die gegnerischen Parteien Parteien (Zentrum, SPD, KPD) massiv im Wahlkampf behindert und für seine NSDAP alle nur denkbaren staatlichen Mittel für propagandistische Zwecke missbraucht. Zudem füllen Industrielle die leeren Kassen der Hitlerpartei. Wittstock schildert den rasanten gesellschaftlich-politischen Umbruch von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Das Bemerkenswerte ist, dass er die Gleichzeitigkeit der erfolgreichen Schachzüge Hitlers und der ständig scheiternden Versuche von Opposition und Widerstand in Erinnerung ruft. In Hitlers Partei gilt das Führerprinzip: seine Stör-, Verfolgungs- und Verhaftungsbefehle werden von SA und SS sofort befolgt. In der Sektion Dichtung der Preußischen Akademie der Künste will ihr Vorsitzender [End Page 503] Heinrich Mann sich nicht zu Loyalitätserklärungen Hitler gegenüber erpressen lassen. Er tritt zurück, überlässt aber dadurch das Schicksal seiner Akademie-Sektion dem Nationalsozialisten Hanns Jost und dem Mitläufer Gottfried Benn. Noch nie ist in der Literaturgeschichte so genau im Zusammenhang beschrieben worden, wie, auf welche Weise, mit welchen Mitteln und bei Berücksichtigung der familiären Verhältnisse fast gleichzeitig Autor*innen oder Verleger, Kritiker*innen und Akademieangehörige die Flucht vor der neuen Diktatur ergreifen. Zuweilen helfen nur rasche Geistesgegenwart oder glückliche Umstände, die Staatsgrenze zu erreichen und ihr Überschreiten zu ermöglichen. Heinrich Mann etwa weiß, dass die deutschen Zollbeamten in Kehl nur lax kontrollieren; Willi Münzenberg erfährt, dass man bei der Reise ins Saarland (damals unter französischer Verwaltung) auf deutscher Seite die Zollschranke quasi ignoriert, weil man die Region als Teil des Deutschen Reiches betrachtet. So entkommen beide Autoren unbehelligt nach Frankreich. Immer wieder ist es—mit seinen Fernverbindungen nach Prag, München, Wien, Zürich und Mailand—der Anhalter Bahnhof in Berlin, von dem aus die Flüchtlinge ihre Reise ins Ungewisse antreten. (So ist es nur richtig, dass man heute—fast achtzig Jahre nach der Zerstörung dieses Verkehrsknotenpunkts—plant, dort ein Exilmuseum zu errichten.) Einige der noch jungen aber bereits bekannten linken Autoren—wie Egon Erwin Kisch und Manès Sperber—sind tschechoslowakische Staatsbürger, werden verhaftet und in die sogenannten "wilden" Konzentrationslager gebracht, müssen aber als Ausländer aus der Haft entlassen werden: Man schiebt sie nach Prag ab. Wittstock erwähnt auch die weiteren Exilstationen der Autor*innen, denn schon in wenigen Jahren erweisen sich die Fluchtorte Prag, Salzburg, Wien, Mailand und Paris, Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen und (besonders zur Zeit des Hitler-Stalin-Pakts) auch Moskau als Fallen, denen man sobald wie möglich entkommen will, sei es mit dem Ziel London, New York, Jerusalem oder Shanghai. Fast in jedem Kapitel über die Fluchtumstände einzelner Autor*innen hat Wittstock Informationen über die seit Jahren andauernden bürgerkriegsartigen Kämpfe zwischen Nationalsozialisten...