{"title":"科学中的记忆文化--霸权叙事问题?","authors":"Felicitas Söhner","doi":"10.1002/bewi.202300019","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"<p>Erinnerungskulturen sind in den Wissenschaften allgegenwärtig. Ausgehend von Halbwachs‘ Grundüberlegung existieren in differenzierten Gesellschaften verschiedene Erinnerungen (individuell-biographisch, kollektiv-kulturell) an denselben historischen Bezugspunkt (Pluralität kollektiver Gedächtnisse).<sup>1</sup> Oft treten neben eine positivistisch geprägte „Meistererzählung“<sup>2</sup> unterschiedliche interessensbeeinflusste Narrative.<sup>3</sup> Die Praktiken des Erinnerns und der Darstellung von Erfahrungen werden durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und deren hegemoniale Diskurse beeinflusst. Darüber hinaus werden in der Erzählung Vernetzungen in der untersuchten Gruppe deutlich.<sup>4</sup></p><p>Gleichzeitig bildet einheitliche, etablierte und unhinterfragte Vergangenheitswahrnehmung innerhalb einer Gruppe ein Identitätskriterium einer Wir-Gruppe – also einer Gruppe, der sich Personen zugehörig fühlen, mit der sie sich identifizieren, der sie in Loyalität verbunden sind und mit der sie sich von anderen Personen oder Gruppen abgrenzen.<sup>5</sup> Die weitgehend homogene Erinnerung bestimmt die Grenzen des anerkannten Wissens.<sup>6</sup> Unter einer „kulturellen Hegemonie“ versteht man nach Laclau und Mouffe, wenn es gelingt, einen Diskurs als allgemeingültig und alternativlos zu präsentieren und zu instituieren.<sup>7</sup> Wird dieser Konsens gebrochen, werden die Grenzen des Sagbaren neu gesetzt<sup>8</sup> und ein Diskurswechsel kann stattfinden.<sup>9</sup></p><p>Ein Individuum partizipiert stets gleichzeitig an mehreren sich überschneidenden gruppenspezifischen Gedächtnissen.<sup>10</sup> Die kollektiven Bestandteile sind insbesondere dann wirkmächtig im Sinne einer Dekonstruktion tradierter Narrative, wenn das individuelle Erleben mit der kollektiven Erinnerung in Konflikt gerät oder wenn die zurückliegenden Ereignisse nicht zum aktuellen Zugehörigkeitsgefühl bzw. -wunsch passen.<sup>11</sup> Meist zeichnet sich ein Spannungsverhältnis mehrerer zentraler Akteur:innen oder Gruppen ab, die miteinander um die Darstellung und Deutung der Vergangenheit innerhalb des Netzwerkes ringen.<sup>12</sup></p><p>In Bezug auf Ullrich Oevermann lassen sich Deutungsmuster als „Angelpunkt zwischen Diskurs und Erfahrung“ verstehen.<sup>13</sup> Rixta Wundrak beschreibt sie als „kollektive, typisierte Sinngehalte [mit] normativem Charakter und […] nicht ständig dem Bewusstsein zugänglich“.<sup>14</sup> Nach Schetsche strukturieren sie das kollektive Alltagshandeln und dienen als meist implizites und selbstverständliches Orientierungswissen, wie mit Phänomenen umzugehen ist und wie diese einzuordnen sind.<sup>15</sup> Im Unterschied zu temporären Diskursen oder Handlungsorientierungen bedeuten Deutungsmuster kulturell mächtige und langlebige normative Strukturen. Deutungsmuster sind zum einen sozial konstruiert, zum anderen lassen sie sich auf unterschiedlichen sozialen Ebenen zeigen (Individuum, Institution, Gesellschaft), außerdem sind sie historisch tradiert und transformiert. Da sie jedoch latent und implizit erscheinen, werden sie von den Handelnden meist als objektive Gegebenheiten wahrgenommen.<sup>16</sup> Soziale Deutungsmuster begründen sich aus strukturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft und lassen sich verstehen als „eine Art ‚gesellschaftliche Interpretation‘ dieser Gegebenheiten“.<sup>17</sup></p><p>Eine der wesentlichen erinnerungskulturellen Funktionen individueller wie institutioneller Narration liegt in der Sinnstiftung. Bergem zufolge transformiert der Mensch die unübersichtlichen Erfahrungen in der narrativen Ordnung zu „Verständlichkeit, Plausibilität und Zielgerichtetheit“.<sup>18</sup> In der narrativen Bearbeitung wird zuvor scheinbar Zusammenhangloses zu einer zusammenhängenden Geschichte eines Individuums oder einer Gruppe. Narrationen können nicht nur Sinn herstellen, sondern diesen auch verändern bzw. in Frage stellen. So lassen sich Geschichten auch neu erzählen, was wieder die Frage nach der Deutungsmacht und Artikulationschancen aufwirft.<sup>19</sup> Die Deutungsmacht der Narration hängt weniger ab von der Orientierung an objektiv nachvollziehbaren historischen Fakten, sondern mehr von ihrer Wirkmächtigkeit, also ihrem Einfluss auf soziale Entwicklungen.<sup>20</sup></p><p>In der Politik, also auch in der Berufspolitik in den Wissenschaften, werden institutionelle Ordnungen über Narrative legitimiert, stabilisiert oder auch zu dekonstruieren versucht. Melville und Vorländer sprechen hier von „Geltungsgeschichten“,<sup>21</sup> in denen Traditionen und Zukunftsvisionen narrativ konstruiert werden. Narrative stehen im Zentrum institutioneller Transformationen, politischer Projekte und Debatten.<sup>22</sup> Mit ihnen lassen sich Emotionen erzeugen, Machtansprüche artikulieren und Kollektive bestätigen. So haben Erzählungen unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt stets strategischen Charakter. Narrative und Deutungsmuster sind flexibel und dienen der Deutung von ambivalenten Situationen. Über die Analyse von Narrativen lassen sich Informationen über die Prozesse der Bedeutungszuschreibung und auch die Struktur der untersuchten Netzwerke erlangen. Für eine objektive qualitative Analyse ist die Dekonstruktion von Narrativen nötig und sie ist möglich über eine Erzählanalyse, also durch die Analyse der verschiedenen Situationen, in denen Narrative in unterschiedlichen Foren erzählt werden. Über diesen erzählanalytischen Zugang kann deutlich werden, welchen Nutzen die Narrative besitzen und welche Funktionen diese in der Struktur eines Netzwerkes besitzen.<sup>23</sup></p><p>Im Unterschied zu Zeitzeug:innen-Seminaren<sup>24</sup>, in denen die Erinnerungen an historische Ereignisse für sich stehen, geht es in Oral-History-Projekten weitaus stärker darum, die individuellen Schilderungen kritisch einzuordnen und zu analysieren. Jene einer breiteren Öffentlichkeit wohl am vertrautesten Produkte der Oral History, Interviewsequenzen in Ausstellungen oder Filmen, bieten diese kritische Einordnung und Analyse allerdings nicht, illustrieren aber eindrücklich die Konstruktion der Rolle „Zeitzeug:in“, die für Forschende der Oral History höchste Relevanz hat. Meist werden die Zeitzeug:innen in audiovisuellen Medien von Ausstellungs- oder Filmschaffenden inszeniert, um ein vorher formuliertes Narrativ zu illustrieren; dazu werden beispielsweise für Ausstellungen oder Filmbeiträge passende Interviewsequenzen ausgewählt und angeordnet. Forschende wie Befragte erhalten über den lebensgeschichtlichen Bezug die Möglichkeit, die Rolle als „Gestalter der Geschichte“ zu übernehmen. Die mediale Figur der Zeitzeug:innen geriert zur „Beglaubigungsinstanz“<sup>25</sup> und verliert damit ihre kritische Funktion. Damit können Erinnerungen produziert und Deutungsmuster bewusst von einigen der zentralen Akteur:innen gesteuert werden. Im Fokus steht weniger das Rekonstruieren von Geschichte, sondern vielmehr das Erfassen unterschiedlicher Narrative als subjektive Perspektiven historischer Prozesse. Bei Oral-History-Interviews handelt es sich um von Interviewten und Interviewenden koproduzierte Ego-Dokumente. Eine Stärke dieses Zugangs ist die mögliche Vermittlung vielfältiger Erfahrungsgeschichten aus Perspektive der Befragten.<sup>26</sup> Da die in der Oral History Forschenden unmittelbar an der Schaffung und Verstärkung von Geschlechterstereotypen und der Entstehung von Narrativen beteiligt sind – beispielsweise durch Auswahl der Interviewten und Art der Fragen – ist der Umgang mit Geschlecht und die Bedeutung von Gender in der Forschung wie in der Gesellschaft allgemein zu reflektieren.<sup>27</sup></p><p>Dieser Beitrag beinhaltet eine Sekundäranalyse des Projekts „Psychiatrie und Neugestaltung. Impulse und Rahmenbedingungen für den Reformdiskurs zur ‚Psychiatrie-Enquete‘ (1958–1975)“<sup>28</sup> und befasst sich mit der Frage, inwiefern hegemoniale Narrative historiographische Prozesse beeinflussen (können) und welche Implikationen sich aus konkurrierenden Erinnerungsgemeinschaften und einer gegebenenfalls umkämpften Erinnerung in einem Fachgebiet speziell für die mündliche Wissenschaftsgeschichtsschreibung ergeben. Die im Folgenden genannten Muster oder spezifischen Erfahrungen dazu fanden sich in drei Oral-History-Projekten der Verfasserin mit Wissenschaftler:innen<sup>29</sup>, die im Beitrag genannten Beispiele beziehen sich allerdings vorwiegend auf das genannte Psychiatrie-Projekt.</p><p>In traditionellen Gesellschaften existieren mündliche Überlieferungsformen als Wissensbestand, der über mehrere Generationen mündlich weitergegeben und als Teil des kollektiven Gedächtnisses ihrer Mitglieder verstanden wird. Vor Erfindung der Schriftsprache war die mündliche Überlieferung die wichtigste Methode zur intergenerationellen Weitergabe von Fähigkeiten und Wissen. Der häufigste Weg der Weitergabe ist das Erzählen von Geschichten oder epischer Gedichte zu historischen Begebenheiten und überlieferten Moralvorstellungen.<sup>30</sup></p><p>Mit Leopold von Ranke (1795–1886) wurden Geschichtsschreibung als Wissenschaft professionalisiert und wissenschaftliche Standards des Faches formuliert.<sup>31</sup> Zu diesen gehörten unter anderem Objektivität und Unparteilichkeit der Forschenden, Faktenbezogenheit und quellenbasiertes Forschen/Quellenkritik. Dabei wurden schriftliche Quellen den als unzuverlässig geltenden mündlichen Belegen vorgezogen. Die Konzentration auf Objektivität im Gefolge Rankes führte zur Tendenz der Geschichtsschreibung, sich auf dasjenige Quellenmaterial mit der höchsten Glaubwürdigkeit zu verlassen.<sup>32</sup> Dies spiegelt sich im Fokus auf staatliche und behördliche Quellen und der Konzentration auf politische Prozesse und „Erfolgsgeschichten“ wider. Auch in einzelnen Zeitzeug:innen-Projekten ist erkennbar, dass sich diese bevorzugt auf prominente, angesehene Personen konzentrieren.</p><p>Die Geschichtsschreibung im Allgemeinen – und Wissenschaftsgeschichte im Speziellen – konzentrierte sich seit dem 19. Jahrhundert auf schriftliche und amtliche Quellen, die sie in Archiven und Bibliotheken vorfand. Es wurden vor allem politische Ereignisse und „große Männer“ bzw. „ruhmreiche“ Gruppen oder Gesellschaften erinnert – als eine „Geschichte von oben“. Die Geschichte unterdrückter oder marginalisierter Gruppen erhielt darin nur wenig Raum.<sup>33</sup> Zugang zum Geschichtsstudium an Universitäten wurde in der Regel nur „weißen“ Männern gewährt; Frauen und People of Color war lange Zeit der Ausbildungsweg bzw. die Publikationsmöglichkeit in den großen Fachzeitschriften versperrt.<sup>34</sup> Dies wirkte sich auch auf die thematische Ausrichtung und auf Argumentationsmuster in der Geschichtsschreibung aus.<sup>35</sup></p><p>Die Demokratisierung des Zugangs zur Profession (Frauen, Menschen mit Migrationserfahrung, bäuerlicher oder Arbeiterherkunft) sowie die Erweiterung technologischer Möglichkeiten ab Mitte des 20. Jahrhunderts (Mikrofon, Tonbandgerät, Kassettenrekorder, Smartphone) ermöglichten die Erweiterung historischer Untersuchungsgegenstände (soziale Bewegungen, marginalisierte und vernachlässigte Gruppen, Durchschnittsmenschen, Familien, ländlicher Raum). Ziel vieler „Oral Historians“ war es, bislang ungehörte Geschichten als eine „Geschichte von unten“<sup>36</sup> zu erforschen und eine subalterne, antihegemoniale Geschichte zu schreiben.<sup>37</sup></p><p>Oral History geht über die mündliche Tradition von Geschichte hinaus. Forschende verstehen Oral History als mündliche Erzählung aus erster Hand: „Oral History is the tape-recording of reminiscences about which the narrator can speak from first-hand knowledge.“<sup>38</sup> Es werden lebensgeschichtliche oder themenzentrierte Interviews mit Personen geführt, die die zu untersuchenden Ereignisse oder Prozesse erlebt oder beobachtet haben. Oral History bietet die Möglichkeit, Erinnerungen über individuelle Erfahrungen systematisch zu sammeln, zu kontextualisieren, zu analysieren und die Aufzeichnungen, Transkriptionen und Dokumentationen für zukünftig Forschende aufzubewahren.</p><p>Interviewprojekten lässt sich neben einer wissenschaftlichen, therapeutischen oder pädagogischen allerdings auch eine eigenständige erinnerungskulturelle Funktion zuweisen. Allein die Tatsache, in einem Projekt befragt worden zu sein, scheint einer Person oder ihrer Gruppe gesellschaftliche Anerkennung zu verleihen.<sup>39</sup> Aus den interviewten Personen werden Zeitzeug:innen, deren Erinnerung eine besondere gesellschaftliche oder wissenschaftliche Relevanz zugeschrieben wird.</p><p>In die Analyse muss die Oral History biographische und historische Rahmendaten wie auch soziologische Aspekte einbeziehen. Zu den Stärken dieses Zugangs gehört die Möglichkeit, Werte, Narrative und Deutungsmuster einer Gruppe zu transportieren, die bislang nicht in schriftlichen Aufzeichnungen greifbar waren. Der Schwäche der subjektiven Perspektive in individuellen Erzählungen kann durch historische Kontextualisierung über schriftliche Quellen, dem systematischen Vergleich in einem ausgewogenen Aufzeichnungssample und einer quellenkritischen Analyse der Aufzeichnungen begegnet werden.<sup>40</sup></p><p>Die mündliche Geschichtsforschung ist zugleich durch die Involviertheit der Forschenden im Feld geprägt; daher geht es in der analytischen Arbeit auch um „das [Sich−]Hineinbegeben in die Lebenswelt, das interaktive Teilnehmen an der Kultur der Beforschten und das Reflektieren des eigenen Erlebten“.<sup>41</sup> Das Forschen in der Oral History lässt sich als Kommunikationsprozess verstehen, in dem versucht wird, die Bedeutung sozialer Handlungen für die Akteur:innen herauszuarbeiten. Die aktive Teilhabe kann einer fortwährenden Prüfung dienen, inwiefern die Bedeutung der Handlungen und deren Regeln verstanden worden sind.<sup>42</sup> Dies bedeutet, die lebensgeschichtliche Darstellung ist hinsichtlich ihrer kulturellen Strukturiertheit zu analysieren. Auch die Gesprächssituation ist bereits prästrukturiert (körperliche Präsenz, geregelter Ablauf, Sprechordnung, Machtungleichheiten) – all dies ist in die Analyse einzubeziehen.<sup>43</sup></p><p>In der Wissenschaftsgeschichte lässt sich über den Zugang lebensgeschichtlicher Interviews die tiefere Bedeutung historischer Prozesse oder Ereignisse für die Akteur:innen betrachten. Dies ermöglicht ein verbessertes Verständnis, wie Kultur, Erinnerung oder Subjektivität Deutung und Darstellung von Vergangenheit prägen.<sup>44</sup> Ein Beitrag der Oral History für die Wissenschaftsgeschichte können Interviews sein mit Expert:innen, die die historischen Prozesse erinnern können. Diese lassen sich als selektive, lebensgeschichtlich verarbeitete und auf einen thematischen Aspekt bezogene Narrative verstehen.<sup>45</sup> Als Expert:innen werden Angehörige organisatorischer Funktionseliten verstanden, die ein privilegiertes Wissen besitzen und innerhalb ihres Verantwortungsbereichs über Autonomie, Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten verfügen.<sup>46</sup></p><p>Die qualitative Analyse befasst sich damit, wie die Erfahrungen der Akteur:innen die Gegenwartsperspektive und Darstellung der Ereignisse prägen.<sup>47</sup> Der daraus resultierende Erkenntnisgewinn liegt darin, dass nicht nur die zum Zeitpunkt der Interviewerhebung wirkmächtigen Diskurse innerhalb einer wissenschaftlichen Fachgemeinschaft oder aktuellen hegemonialen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurse erfasst, sondern auch die weniger gehörten Perspektiven, die fehlenden (vergessenen oder verschwiegenen) Anteile einer Kollektivgeschichte rekonstruiert werden.</p><p>Die folgenden Ausführungen möchten den Mehrwert der Oral History für die Wissenschaftsgeschichte verdeutlichen, die über die individuellen Perspektiven der Interviewten hinausgeht und gezielt institutions- und gesellschaftshistorische Daten einbezieht und dabei die Perspektiven von Führungskreisen, anerkannten Mitgliedern und den Außenseiter:innen einer Fachgesellschaft kontrastiv vergleicht.</p><p>Im wissenschaftlichen Diskurs drücken sich hegemoniale Narrative in vorgegebenen Erinnerungen meist als geteiltes Gedächtnis aus, dessen Funktion vor allem darin liegt, die Kontinuität der Gruppe zu sichern.<sup>48</sup> Zu klassischen Narrativen in der Wissenschaftsgeschichte gehören beispielsweise: Aufstieg durch Bildung, Erfolg durch eigene Leistung, Rationalität der westlichen Moderne, Forschungsvorsprung des Westens gegenüber dem Osten bzw. des reichen Nordens gegenüber dem armen Süden, eine „bahnbrechende“ Entdeckung als Basis einer Forschungsrichtung.</p><p>Die im sozialen Gedächtnis formulierte Vergangenheit kann als geteilte Realität angenommen und auch als solche untersucht werden. Der Versuch, der Nachwelt eine Erinnerung zu hinterlassen und sich in das Gedächtnis einzuschreiben, äußert sich in der Psychiatriegeschichte beispielsweise über Nachrufe, Biographien oder biographische Lexika.<sup>49</sup></p><p>In der Wissenschaftsgeschichte sind es zumeist zentrale Akteur:innen eines Fachgebiets, die aktiv an der Gestaltung von solchen Erzählungen mitwirken und sie mit dem Argument des exklusiven Wissens um bestimmte Vorgänge, Hintergründe und Motivlagen zu bestimmen versuchen.<sup>50</sup> Wissenschaftler:innen sind professionell dahingehend sozialisiert worden, ihren eigenen Anteil an Entwicklungen, Fortschritten und Leistungen besonders herauszustellen. Das Hervorheben der eigenen Leistung im Kontext ist zwar nicht exklusiv für die Kommunikation dieser Gruppe (siehe auch: Politik, Management), war jedoch in einigen Interviews des betrachteten Projekts erkennbar.</p><p>Nach Schetsche lassen sich unterschiedliche Typen „kollektiver Akteure“<sup>51</sup> hinsichtlich ihrer Motive, sozialen Herkunft und politischen Bedeutung unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Ressourcen (Macht, Geld, Aufmerksamkeit) einsetzen, um bestimmte Narrative in öffentlichen oder politischen Foren (wie Think Tanks, Ausschüsse, Fraktionen) zu platzieren.<sup>52</sup> Der hegemoniale Diskurs bzw. die damit verbundene Ambivalenz bestimmt nicht nur die als „richtig“ vermittelte Einordnung einer Situation, sondern auch die Bewertung von Dringlichkeit, Perspektiven, Interessen, Zuständigkeiten und Lösungsansätzen.<sup>53</sup> Über politische Entscheidungen wird eine Thematik offiziell anerkannt (durch Ressourcenverteilung oder Agendasetting), erhalten bestimmte Formen der Kategorisierung Deutungsmacht und gewinnen dadurch den hegemonialen Anspruch auf Legitimität und Richtigkeit des Diskurses.<sup>54</sup></p><p>Die psychiatrische Versorgung in Deutschland erfuhr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen massiven Wandel. Als zentraler Bezugspunkt des westdeutschen Diskurses zur Psychiatrie gilt 1971 die Einberufung einer Sachverständigenkommission aus rund 200 Expert:innen zur umfassenden Erhebung der psychiatrischen Versorgung durch die Bundesregierung. Diese legte im Oktober 1973 einen Zwischenbericht und im September 1975 einen umfassenden Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland vor. Bereits im Zwischenbericht stellte das Expert:innengremium schwerwiegende Mängel in der psychiatrischen Versorgung fest und forderte Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse.<sup>55</sup> Der vom Deutschen Bundestag herausgegebene Enquete-Bericht öffnete letztendlich der politischen Debatte um die Psychiatriereform in der Bundesrepublik die Türen.<sup>56</sup> In diesem kritisierte die Sachverständigenkommission unter anderem die als unzureichend beschriebene ambulante Versorgung, Defizite in komplementären Versorgungsangeboten, zu große und veraltete Kliniken, Personalmangel in der psychiatrischen Versorgung und die Benachteiligung und Ausgrenzung psychisch Erkrankter.<sup>57</sup> Im politischen Prozess spielte die Psychiatrie-Enquete eine Vorreiter-Rolle als überhaupt allererste vom Deutschen Bundestag in Auftrag gegebene Enquete. Zugleich war die Psychiatriereform kein ganz geradliniger Prozess, sondern vielmehr eingebunden in einen komplexen, langwidrigen Modernisierungsprozess der Psychiatrie in der Bundesrepublik. Bis zu diesem Zusammenfinden von Psychiatrie und Politik lag ein längerer Weg und es bedurfte unterschiedlicher medialer und politischer Impulse.<sup>58</sup></p><p>Die Annahme vielfältiger Kontext- und Einflussfaktoren wurde im hier betrachteten Projekt zur Geschichte der Psychiatriereform vor allem für den bundesdeutschen Kontext aus der Perspektive von Zeitzeug:innen überprüft. Im Mittelpunkt dieses Oral-History-Projekts stand die Frage, welche Prozesse und Impulse die reformorientierte Psychiatrie im Vorfeld der Psychiatrie-Enquete beeinflusst haben.<sup>59</sup> Untersucht wurde der Einfluss gesellschaftspolitischer Debatten und Zäsuren auf die Entwicklung des Fachs.</p><p>Das Projekt umfasste 28 Interviews mit Akteur:innen der deutschsprachigen Nachkriegspsychiatrie.<sup>60</sup> Unter ihnen waren Vertreter:innen der Psychiatrie, der Psychotherapie, der Psychoanalyse, der Ergotherapie und der psychiatrischen Pflege. Das Interviewsample spiegelt das Geschlechterverhältnis der betrachteten Gruppe während des Erhebungszeitraums.<sup>61</sup> Ziel war es, Vertreter:innen, Unterstützer:innen und Kritiker:innen der bundesdeutschen reformorientierten Psychiatrie zu erfassen. Um der Perspektive seinerzeit involvierter Fachkräfte Raum zu geben, wurden reformorientierte Diskurse und Entwicklungen in der Psychiatrie der Nachkriegszeit über einen lebensgeschichtlichen Ansatz betrachtet. Die Leitfragen im Projekt konzentrierten sich auf die äußeren Rahmenbedingungen im Vorfeld der Psychiatrie-Enquete, persönliche Hintergründe sowie Motive der Reformbeteiligung.<sup>62</sup></p><p>Im Folgenden werden markante Narrative der Metaebene betrachtet, die in der Sekundäranalyse der Interviews erkennbar wurden:</p><p>Die Oral History als historischer Zugang über lebensgeschichtliche oder themenzentrierte Erzählungen betont für sich den Anspruch, anstatt einer „Geschichte von oben“ eine „Geschichte von unten“ zu erzählen. Für die Oral History in der Wissenschaftsgeschichte bedeutet dies eine weitergehende Herausforderung oder besser, den Anspruch, eine „Geschichte von innen heraus“ zu erzählen. Im hier betrachteten Projekt stand die Frage im Raum, ob es Faktoren gibt, die Wissenschaftler:innen zu „besonderen“ Interviewpartner:innen machen und ob die Erinnerung in dieser Gruppe stärker oder anders umkämpft ist als in anderen Kontexten.</p><p>Wissenschaftler:innen sind professionell dahingehend sozialisiert worden, ihren eigenen Anteil an Entwicklungen, Fortschritten und Leistungen besonders herauszustellen.<sup>90</sup> Die Sekundäranalyse der Befunde des Oral-History-Projekts zur Psychiatriereform in der Bundesrepublik wie auch andere Oral-History-Projekte in der Medizingeschichte verdeutlichen eindrucksvoll die vielfältigen Versuche der Verdrängung unerwünschter Narrative durch Marginalisierung von als marginal oder oppositionell verstandenen Kollegen und insbesondere von Kolleginnen und deren Leistungen im jeweiligen Fachgebiet. Beispielsweise wurde während des Rechercheprozesses von beteiligten Personen die Befragung von Interviewpartner:innen der „zweiten Reihe“ oder als Vertreter:innen fachlicher Spezialthemen hinterfragt und empfohlen, doch stattdessen Personen aus dem eigenen Netzwerk als Gesprächspartner:innen einzubeziehen.</p><p>Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Aspekt der mündlichen Geschichtsschreibung in der Wissenschaftsgeschichte ist, dass sich aus der Vortrags- und Lehrtätigkeit von Wissenschaftler:innen tendenziell ausgeprägtere rhetorische Kompetenzen ergeben. So ist beispielsweise in einem Oral-History-Projekt zur Medizingeschichte in der Analyse auch dahingehend zu reflektieren, ob das Gespräch mit Forschenden, Fachkräften oder Klienten des Gesundheitssektors geführt wird.</p><p>Die Unterrepräsentierung von Frauen in den betrachteten Berufszweigen sowie in höheren Hierarchieebenen beeinflusst den Forschungsprozess der Oral History in der Wissenschaftsgeschichte in mehreren Aspekten. Für die Auswahl der Gesprächspartner:innen bedeutet dies, dass das Interviewsample in hohem Grad die strukturelle Geschlechtsverteilung und -hierarchien abbildet. Diese Frage ist nicht unbedeutsam im Hinblick auf die Objektivität und Validität der Daten.<sup>91</sup> In der Analyse ist zu reflektieren, inwiefern geschlechtsspezifische Deutungsmuster abgebildet werden und diese quellenkritisch analysiert werden müssen. Auch in der Durchführung der Interviews treten durchaus Gendereffekte auf (soziale Konstruktion von Geschlecht und Hierarchisierung der Interviewsituation, unterschiedliches Antwortverhalten). Diese müssen in die Analyse quellenkritisch einbezogen werden.<sup>92</sup> Die Einordnung von Geschlechtereffekten kann durch Überlagerungen durch andere Kategorisierungen nach Klasse, Status, Ethnie oder Alter erschwert sein, ist aber so weit wie möglich davon abzugrenzen. Inwieweit geschlechtstypische Interaktion im Oral-History-Interview in die Analyse einbezogen wird, hängt letztlich von den Rahmenbedingungen und dem Forschungsinteresse ab.</p><p>Um vorherrschende Narrative – oder gar Mythen – nicht zu reproduzieren, „die legitimationsbedürftige Bestandteile der Kollektivgeschichte […] verdecken […] und andere Bestandteile besonders betonen [sollen]“,<sup>93</sup> und um die vielfältigen Aspekte historischer Realitäten möglichst adäquat abzubilden, sind auch Quellen – wie autobiographische Literatur und Ego-Dokumente, relevante Archivalien, Primär- und Sekundärliteratur zu Aspekten des Untersuchungsgegenstandes – zu recherchieren, die Informationen zu fehlenden Bestandteilen oder marginalisierten Perspektiven einer Kollektivgeschichte bieten. Auch bietet sich an, das Interviewsample gezielt um Personen zu erweitern, deren Positionen vom dominanten Diskurs abweichen und Zugang zu abweichenden Perspektiven und Daten ermöglichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein „gut“ funktionierender hegemonialer Diskurs es erschweren kann, entsprechende Hinweise zu alternativen Perspektiven zu erhalten. Die Auswertung von bislang nicht zugänglichen Informationen wie Erinnerungen marginalisierter Gruppen kann bei der Bildung von Hypothesen und bei der Analyse der gesamten Daten dienlich sein. Das Einbeziehen vielseitiger Quellen (Perspektiven von Führungskreisen, anerkannten Mitgliedern und den Außenseiter:innen eines Forschungsbereiches) führt zwar nicht zwangsläufig zu einer authentischeren Rekonstruktion, jedoch kann es gelingen, hegemoniale Narrative herauszuarbeiten, zu hinterfragen und damit deren Wirkmächtigkeit zu limitieren.</p><p>Übertragen auf die Wissenschaftsgeschichte allgemein geht es hier um die „diskurskonstituierenden Regeln und deren Wirkmächtigkeit“, die als „Ordnungsstrukturen“ gelten, die die vorherrschenden Bilder einer Thematik ausmachen.<sup>94</sup> Die Oral History ermöglicht es hier, rezente Geschichte zu dokumentieren und individuelle Perspektiven und subjektive Wahrnehmungen einzubeziehen.</p><p>Zu dem hier betrachteten Projekt zur Geschichte der Psychiatriereform konnten Aspekte einer bislang ungeschriebenen Wissenschaftsgeschichte erhoben und einer weiteren kritischen Analyse und Erweiterung des bisherigen Geschichtsbildes zugänglich gemacht werden. Dadurch konnte das Verständnis um Grundvoraussetzungen und relevante Impulse – gesellschaftspolitischer Zeitgeist, Einfluss der medialen Öffentlichkeit, internationaler Austausch, interdisziplinäre Öffnung (Soziologie, Anthropologie, Philosophie) – im Vorfeld der Enquete-Kommission zu dem betrachteten reformorientierten Prozess erweitert und vertieft werden. In Bezug auf die wirkmächtigen Netzwerke ließen die neben den hegemonialen Perspektiven stehenden marginalisierten Wahrnehmungen deutlich werden, dass der Reformprozess nicht ausschließlich durch einzelne als federführend tradierte Akteure bzw. Gruppen initiiert und getragen wurde. Vielmehr haben auch scheinbar marginal beteiligte Akteur:innen als Gatekeeper<sup>95</sup> und Boundary-Spanner<sup>96</sup> den Reformprozess durch Übermittlung von Informationen, Initiierung von Prozessen und Strukturen und inhaltliche Arbeit stark beeinflusst. Auch traten über diesen Zugang neue Aspekte (wie individuelle oder institutionelle Konkurrenzen, persönliche Interessen oder Ängste) zutage, die in der bisherigen Forschung kaum Raum fanden und die bislang opak gebliebene Prozesse oder teilweise irritierende Verhaltensweisen (wie Reaktion in der öffentlichen Diskussion, Positionierung gegenüber vormaligen NS-Tätern) erkennbar werden ließen. So wurde im Analyseprozess erkennbar, dass dessen Verlauf und die Rolle einzelner Akteur:innen und Gruppen deutlich komplexer als bisher tradiert gesehen werden muss.</p><p>Über den Zugang der Oral History wurde klarer, inwieweit ehemalige Akteure die bisherige Forschungslage zur Psychiatrie-Enquete geprägt und ein Stück weit gesteuert haben. Einzelne ehemals Beteiligte haben das offizielle Geschichtsbild stark beeinflusst durch Erinnerungstexte wie Autobiographien, Memoiren und Zeitzeug:inneninterviews. Aber auch Nachrufe, Tagebücher und Ego-Dokumente geben die Ereignisse rund um die Psychiatriereform nachträglich gedeutet und interpretiert wieder. Sie sagen weniger aus über historische Prozesse als vielmehr über das Welt- und Selbstbild ihrer Verfasser:innen.</p><p>Zusammenfassend zeigt sich, dass das Herausarbeiten, Erkennen und kritische Hinterfragen hegemonialer Deutungsmuster und Narrative weitergehende Erkenntnisse ermöglicht haben und dadurch das bisher tradierte Geschichtsbild wenn nicht umgeschrieben, so doch erweitert werden konnte.<sup>97</sup> Der hier geschilderte quellenkritische historische Zugang und dessen Diskussion bieten weitere Reflexionsmöglichkeiten für Forschende, die auf schriftliche Egodokumente angewiesen sind und aus verschiedensten Gründen keine Oral-History-Interviews nutzen können.<sup>98</sup></p><p>Der Deutungsanspruch von Interviewten als Zeitzeug:innen, die „Deutungskonkurrenz und Interdependenz von Zeitgeschichte und Erinnerung“<sup>99</sup> und die zahlreichen Fragen, die sich aus den Überschneidungen von Primärerfahrung, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft ergeben, gehören zu den intensiv diskutierten Fragestellungen der historischen Forschung.<sup>100</sup> Zwischen dem moralisierenden Duktus persönlicher bzw. kollektiver Erinnerung und dem rationalen Erklärungsanspruch der Geschichtsschreibung existieren Unterschiede nicht allein wegen unterschiedlicher methodischer Zugänge; gleichzeitig ist eine Erfahrungsgeschichte auf individuelle Erinnerungen angewiesen, ebenso wie ein reflektierter, kritischer Umgang mit den mündlichen Quellen nötig ist.<sup>101</sup></p>","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":"47 1-2","pages":"128-150"},"PeriodicalIF":0.6000,"publicationDate":"2024-04-04","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300019","citationCount":"0","resultStr":"{\"title\":\"Erinnerungskulturen in den Wissenschaften – eine Frage hegemonialer Narrative?\",\"authors\":\"Felicitas Söhner\",\"doi\":\"10.1002/bewi.202300019\",\"DOIUrl\":null,\"url\":null,\"abstract\":\"<p>Erinnerungskulturen sind in den Wissenschaften allgegenwärtig. 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Darüber hinaus werden in der Erzählung Vernetzungen in der untersuchten Gruppe deutlich.<sup>4</sup></p><p>Gleichzeitig bildet einheitliche, etablierte und unhinterfragte Vergangenheitswahrnehmung innerhalb einer Gruppe ein Identitätskriterium einer Wir-Gruppe – also einer Gruppe, der sich Personen zugehörig fühlen, mit der sie sich identifizieren, der sie in Loyalität verbunden sind und mit der sie sich von anderen Personen oder Gruppen abgrenzen.<sup>5</sup> Die weitgehend homogene Erinnerung bestimmt die Grenzen des anerkannten Wissens.<sup>6</sup> Unter einer „kulturellen Hegemonie“ versteht man nach Laclau und Mouffe, wenn es gelingt, einen Diskurs als allgemeingültig und alternativlos zu präsentieren und zu instituieren.<sup>7</sup> Wird dieser Konsens gebrochen, werden die Grenzen des Sagbaren neu gesetzt<sup>8</sup> und ein Diskurswechsel kann stattfinden.<sup>9</sup></p><p>Ein Individuum partizipiert stets gleichzeitig an mehreren sich überschneidenden gruppenspezifischen Gedächtnissen.<sup>10</sup> Die kollektiven Bestandteile sind insbesondere dann wirkmächtig im Sinne einer Dekonstruktion tradierter Narrative, wenn das individuelle Erleben mit der kollektiven Erinnerung in Konflikt gerät oder wenn die zurückliegenden Ereignisse nicht zum aktuellen Zugehörigkeitsgefühl bzw. -wunsch passen.<sup>11</sup> Meist zeichnet sich ein Spannungsverhältnis mehrerer zentraler Akteur:innen oder Gruppen ab, die miteinander um die Darstellung und Deutung der Vergangenheit innerhalb des Netzwerkes ringen.<sup>12</sup></p><p>In Bezug auf Ullrich Oevermann lassen sich Deutungsmuster als „Angelpunkt zwischen Diskurs und Erfahrung“ verstehen.<sup>13</sup> Rixta Wundrak beschreibt sie als „kollektive, typisierte Sinngehalte [mit] normativem Charakter und […] nicht ständig dem Bewusstsein zugänglich“.<sup>14</sup> Nach Schetsche strukturieren sie das kollektive Alltagshandeln und dienen als meist implizites und selbstverständliches Orientierungswissen, wie mit Phänomenen umzugehen ist und wie diese einzuordnen sind.<sup>15</sup> Im Unterschied zu temporären Diskursen oder Handlungsorientierungen bedeuten Deutungsmuster kulturell mächtige und langlebige normative Strukturen. Deutungsmuster sind zum einen sozial konstruiert, zum anderen lassen sie sich auf unterschiedlichen sozialen Ebenen zeigen (Individuum, Institution, Gesellschaft), außerdem sind sie historisch tradiert und transformiert. Da sie jedoch latent und implizit erscheinen, werden sie von den Handelnden meist als objektive Gegebenheiten wahrgenommen.<sup>16</sup> Soziale Deutungsmuster begründen sich aus strukturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft und lassen sich verstehen als „eine Art ‚gesellschaftliche Interpretation‘ dieser Gegebenheiten“.<sup>17</sup></p><p>Eine der wesentlichen erinnerungskulturellen Funktionen individueller wie institutioneller Narration liegt in der Sinnstiftung. Bergem zufolge transformiert der Mensch die unübersichtlichen Erfahrungen in der narrativen Ordnung zu „Verständlichkeit, Plausibilität und Zielgerichtetheit“.<sup>18</sup> In der narrativen Bearbeitung wird zuvor scheinbar Zusammenhangloses zu einer zusammenhängenden Geschichte eines Individuums oder einer Gruppe. Narrationen können nicht nur Sinn herstellen, sondern diesen auch verändern bzw. in Frage stellen. So lassen sich Geschichten auch neu erzählen, was wieder die Frage nach der Deutungsmacht und Artikulationschancen aufwirft.<sup>19</sup> Die Deutungsmacht der Narration hängt weniger ab von der Orientierung an objektiv nachvollziehbaren historischen Fakten, sondern mehr von ihrer Wirkmächtigkeit, also ihrem Einfluss auf soziale Entwicklungen.<sup>20</sup></p><p>In der Politik, also auch in der Berufspolitik in den Wissenschaften, werden institutionelle Ordnungen über Narrative legitimiert, stabilisiert oder auch zu dekonstruieren versucht. Melville und Vorländer sprechen hier von „Geltungsgeschichten“,<sup>21</sup> in denen Traditionen und Zukunftsvisionen narrativ konstruiert werden. Narrative stehen im Zentrum institutioneller Transformationen, politischer Projekte und Debatten.<sup>22</sup> Mit ihnen lassen sich Emotionen erzeugen, Machtansprüche artikulieren und Kollektive bestätigen. So haben Erzählungen unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt stets strategischen Charakter. Narrative und Deutungsmuster sind flexibel und dienen der Deutung von ambivalenten Situationen. Über die Analyse von Narrativen lassen sich Informationen über die Prozesse der Bedeutungszuschreibung und auch die Struktur der untersuchten Netzwerke erlangen. Für eine objektive qualitative Analyse ist die Dekonstruktion von Narrativen nötig und sie ist möglich über eine Erzählanalyse, also durch die Analyse der verschiedenen Situationen, in denen Narrative in unterschiedlichen Foren erzählt werden. Über diesen erzählanalytischen Zugang kann deutlich werden, welchen Nutzen die Narrative besitzen und welche Funktionen diese in der Struktur eines Netzwerkes besitzen.<sup>23</sup></p><p>Im Unterschied zu Zeitzeug:innen-Seminaren<sup>24</sup>, in denen die Erinnerungen an historische Ereignisse für sich stehen, geht es in Oral-History-Projekten weitaus stärker darum, die individuellen Schilderungen kritisch einzuordnen und zu analysieren. Jene einer breiteren Öffentlichkeit wohl am vertrautesten Produkte der Oral History, Interviewsequenzen in Ausstellungen oder Filmen, bieten diese kritische Einordnung und Analyse allerdings nicht, illustrieren aber eindrücklich die Konstruktion der Rolle „Zeitzeug:in“, die für Forschende der Oral History höchste Relevanz hat. Meist werden die Zeitzeug:innen in audiovisuellen Medien von Ausstellungs- oder Filmschaffenden inszeniert, um ein vorher formuliertes Narrativ zu illustrieren; dazu werden beispielsweise für Ausstellungen oder Filmbeiträge passende Interviewsequenzen ausgewählt und angeordnet. Forschende wie Befragte erhalten über den lebensgeschichtlichen Bezug die Möglichkeit, die Rolle als „Gestalter der Geschichte“ zu übernehmen. Die mediale Figur der Zeitzeug:innen geriert zur „Beglaubigungsinstanz“<sup>25</sup> und verliert damit ihre kritische Funktion. Damit können Erinnerungen produziert und Deutungsmuster bewusst von einigen der zentralen Akteur:innen gesteuert werden. Im Fokus steht weniger das Rekonstruieren von Geschichte, sondern vielmehr das Erfassen unterschiedlicher Narrative als subjektive Perspektiven historischer Prozesse. Bei Oral-History-Interviews handelt es sich um von Interviewten und Interviewenden koproduzierte Ego-Dokumente. Eine Stärke dieses Zugangs ist die mögliche Vermittlung vielfältiger Erfahrungsgeschichten aus Perspektive der Befragten.<sup>26</sup> Da die in der Oral History Forschenden unmittelbar an der Schaffung und Verstärkung von Geschlechterstereotypen und der Entstehung von Narrativen beteiligt sind – beispielsweise durch Auswahl der Interviewten und Art der Fragen – ist der Umgang mit Geschlecht und die Bedeutung von Gender in der Forschung wie in der Gesellschaft allgemein zu reflektieren.<sup>27</sup></p><p>Dieser Beitrag beinhaltet eine Sekundäranalyse des Projekts „Psychiatrie und Neugestaltung. Impulse und Rahmenbedingungen für den Reformdiskurs zur ‚Psychiatrie-Enquete‘ (1958–1975)“<sup>28</sup> und befasst sich mit der Frage, inwiefern hegemoniale Narrative historiographische Prozesse beeinflussen (können) und welche Implikationen sich aus konkurrierenden Erinnerungsgemeinschaften und einer gegebenenfalls umkämpften Erinnerung in einem Fachgebiet speziell für die mündliche Wissenschaftsgeschichtsschreibung ergeben. Die im Folgenden genannten Muster oder spezifischen Erfahrungen dazu fanden sich in drei Oral-History-Projekten der Verfasserin mit Wissenschaftler:innen<sup>29</sup>, die im Beitrag genannten Beispiele beziehen sich allerdings vorwiegend auf das genannte Psychiatrie-Projekt.</p><p>In traditionellen Gesellschaften existieren mündliche Überlieferungsformen als Wissensbestand, der über mehrere Generationen mündlich weitergegeben und als Teil des kollektiven Gedächtnisses ihrer Mitglieder verstanden wird. Vor Erfindung der Schriftsprache war die mündliche Überlieferung die wichtigste Methode zur intergenerationellen Weitergabe von Fähigkeiten und Wissen. Der häufigste Weg der Weitergabe ist das Erzählen von Geschichten oder epischer Gedichte zu historischen Begebenheiten und überlieferten Moralvorstellungen.<sup>30</sup></p><p>Mit Leopold von Ranke (1795–1886) wurden Geschichtsschreibung als Wissenschaft professionalisiert und wissenschaftliche Standards des Faches formuliert.<sup>31</sup> Zu diesen gehörten unter anderem Objektivität und Unparteilichkeit der Forschenden, Faktenbezogenheit und quellenbasiertes Forschen/Quellenkritik. Dabei wurden schriftliche Quellen den als unzuverlässig geltenden mündlichen Belegen vorgezogen. Die Konzentration auf Objektivität im Gefolge Rankes führte zur Tendenz der Geschichtsschreibung, sich auf dasjenige Quellenmaterial mit der höchsten Glaubwürdigkeit zu verlassen.<sup>32</sup> Dies spiegelt sich im Fokus auf staatliche und behördliche Quellen und der Konzentration auf politische Prozesse und „Erfolgsgeschichten“ wider. Auch in einzelnen Zeitzeug:innen-Projekten ist erkennbar, dass sich diese bevorzugt auf prominente, angesehene Personen konzentrieren.</p><p>Die Geschichtsschreibung im Allgemeinen – und Wissenschaftsgeschichte im Speziellen – konzentrierte sich seit dem 19. Jahrhundert auf schriftliche und amtliche Quellen, die sie in Archiven und Bibliotheken vorfand. Es wurden vor allem politische Ereignisse und „große Männer“ bzw. „ruhmreiche“ Gruppen oder Gesellschaften erinnert – als eine „Geschichte von oben“. Die Geschichte unterdrückter oder marginalisierter Gruppen erhielt darin nur wenig Raum.<sup>33</sup> Zugang zum Geschichtsstudium an Universitäten wurde in der Regel nur „weißen“ Männern gewährt; Frauen und People of Color war lange Zeit der Ausbildungsweg bzw. die Publikationsmöglichkeit in den großen Fachzeitschriften versperrt.<sup>34</sup> Dies wirkte sich auch auf die thematische Ausrichtung und auf Argumentationsmuster in der Geschichtsschreibung aus.<sup>35</sup></p><p>Die Demokratisierung des Zugangs zur Profession (Frauen, Menschen mit Migrationserfahrung, bäuerlicher oder Arbeiterherkunft) sowie die Erweiterung technologischer Möglichkeiten ab Mitte des 20. Jahrhunderts (Mikrofon, Tonbandgerät, Kassettenrekorder, Smartphone) ermöglichten die Erweiterung historischer Untersuchungsgegenstände (soziale Bewegungen, marginalisierte und vernachlässigte Gruppen, Durchschnittsmenschen, Familien, ländlicher Raum). Ziel vieler „Oral Historians“ war es, bislang ungehörte Geschichten als eine „Geschichte von unten“<sup>36</sup> zu erforschen und eine subalterne, antihegemoniale Geschichte zu schreiben.<sup>37</sup></p><p>Oral History geht über die mündliche Tradition von Geschichte hinaus. Forschende verstehen Oral History als mündliche Erzählung aus erster Hand: „Oral History is the tape-recording of reminiscences about which the narrator can speak from first-hand knowledge.“<sup>38</sup> Es werden lebensgeschichtliche oder themenzentrierte Interviews mit Personen geführt, die die zu untersuchenden Ereignisse oder Prozesse erlebt oder beobachtet haben. Oral History bietet die Möglichkeit, Erinnerungen über individuelle Erfahrungen systematisch zu sammeln, zu kontextualisieren, zu analysieren und die Aufzeichnungen, Transkriptionen und Dokumentationen für zukünftig Forschende aufzubewahren.</p><p>Interviewprojekten lässt sich neben einer wissenschaftlichen, therapeutischen oder pädagogischen allerdings auch eine eigenständige erinnerungskulturelle Funktion zuweisen. Allein die Tatsache, in einem Projekt befragt worden zu sein, scheint einer Person oder ihrer Gruppe gesellschaftliche Anerkennung zu verleihen.<sup>39</sup> Aus den interviewten Personen werden Zeitzeug:innen, deren Erinnerung eine besondere gesellschaftliche oder wissenschaftliche Relevanz zugeschrieben wird.</p><p>In die Analyse muss die Oral History biographische und historische Rahmendaten wie auch soziologische Aspekte einbeziehen. Zu den Stärken dieses Zugangs gehört die Möglichkeit, Werte, Narrative und Deutungsmuster einer Gruppe zu transportieren, die bislang nicht in schriftlichen Aufzeichnungen greifbar waren. Der Schwäche der subjektiven Perspektive in individuellen Erzählungen kann durch historische Kontextualisierung über schriftliche Quellen, dem systematischen Vergleich in einem ausgewogenen Aufzeichnungssample und einer quellenkritischen Analyse der Aufzeichnungen begegnet werden.<sup>40</sup></p><p>Die mündliche Geschichtsforschung ist zugleich durch die Involviertheit der Forschenden im Feld geprägt; daher geht es in der analytischen Arbeit auch um „das [Sich−]Hineinbegeben in die Lebenswelt, das interaktive Teilnehmen an der Kultur der Beforschten und das Reflektieren des eigenen Erlebten“.<sup>41</sup> Das Forschen in der Oral History lässt sich als Kommunikationsprozess verstehen, in dem versucht wird, die Bedeutung sozialer Handlungen für die Akteur:innen herauszuarbeiten. Die aktive Teilhabe kann einer fortwährenden Prüfung dienen, inwiefern die Bedeutung der Handlungen und deren Regeln verstanden worden sind.<sup>42</sup> Dies bedeutet, die lebensgeschichtliche Darstellung ist hinsichtlich ihrer kulturellen Strukturiertheit zu analysieren. Auch die Gesprächssituation ist bereits prästrukturiert (körperliche Präsenz, geregelter Ablauf, Sprechordnung, Machtungleichheiten) – all dies ist in die Analyse einzubeziehen.<sup>43</sup></p><p>In der Wissenschaftsgeschichte lässt sich über den Zugang lebensgeschichtlicher Interviews die tiefere Bedeutung historischer Prozesse oder Ereignisse für die Akteur:innen betrachten. Dies ermöglicht ein verbessertes Verständnis, wie Kultur, Erinnerung oder Subjektivität Deutung und Darstellung von Vergangenheit prägen.<sup>44</sup> Ein Beitrag der Oral History für die Wissenschaftsgeschichte können Interviews sein mit Expert:innen, die die historischen Prozesse erinnern können. Diese lassen sich als selektive, lebensgeschichtlich verarbeitete und auf einen thematischen Aspekt bezogene Narrative verstehen.<sup>45</sup> Als Expert:innen werden Angehörige organisatorischer Funktionseliten verstanden, die ein privilegiertes Wissen besitzen und innerhalb ihres Verantwortungsbereichs über Autonomie, Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten verfügen.<sup>46</sup></p><p>Die qualitative Analyse befasst sich damit, wie die Erfahrungen der Akteur:innen die Gegenwartsperspektive und Darstellung der Ereignisse prägen.<sup>47</sup> Der daraus resultierende Erkenntnisgewinn liegt darin, dass nicht nur die zum Zeitpunkt der Interviewerhebung wirkmächtigen Diskurse innerhalb einer wissenschaftlichen Fachgemeinschaft oder aktuellen hegemonialen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurse erfasst, sondern auch die weniger gehörten Perspektiven, die fehlenden (vergessenen oder verschwiegenen) Anteile einer Kollektivgeschichte rekonstruiert werden.</p><p>Die folgenden Ausführungen möchten den Mehrwert der Oral History für die Wissenschaftsgeschichte verdeutlichen, die über die individuellen Perspektiven der Interviewten hinausgeht und gezielt institutions- und gesellschaftshistorische Daten einbezieht und dabei die Perspektiven von Führungskreisen, anerkannten Mitgliedern und den Außenseiter:innen einer Fachgesellschaft kontrastiv vergleicht.</p><p>Im wissenschaftlichen Diskurs drücken sich hegemoniale Narrative in vorgegebenen Erinnerungen meist als geteiltes Gedächtnis aus, dessen Funktion vor allem darin liegt, die Kontinuität der Gruppe zu sichern.<sup>48</sup> Zu klassischen Narrativen in der Wissenschaftsgeschichte gehören beispielsweise: Aufstieg durch Bildung, Erfolg durch eigene Leistung, Rationalität der westlichen Moderne, Forschungsvorsprung des Westens gegenüber dem Osten bzw. des reichen Nordens gegenüber dem armen Süden, eine „bahnbrechende“ Entdeckung als Basis einer Forschungsrichtung.</p><p>Die im sozialen Gedächtnis formulierte Vergangenheit kann als geteilte Realität angenommen und auch als solche untersucht werden. Der Versuch, der Nachwelt eine Erinnerung zu hinterlassen und sich in das Gedächtnis einzuschreiben, äußert sich in der Psychiatriegeschichte beispielsweise über Nachrufe, Biographien oder biographische Lexika.<sup>49</sup></p><p>In der Wissenschaftsgeschichte sind es zumeist zentrale Akteur:innen eines Fachgebiets, die aktiv an der Gestaltung von solchen Erzählungen mitwirken und sie mit dem Argument des exklusiven Wissens um bestimmte Vorgänge, Hintergründe und Motivlagen zu bestimmen versuchen.<sup>50</sup> Wissenschaftler:innen sind professionell dahingehend sozialisiert worden, ihren eigenen Anteil an Entwicklungen, Fortschritten und Leistungen besonders herauszustellen. Das Hervorheben der eigenen Leistung im Kontext ist zwar nicht exklusiv für die Kommunikation dieser Gruppe (siehe auch: Politik, Management), war jedoch in einigen Interviews des betrachteten Projekts erkennbar.</p><p>Nach Schetsche lassen sich unterschiedliche Typen „kollektiver Akteure“<sup>51</sup> hinsichtlich ihrer Motive, sozialen Herkunft und politischen Bedeutung unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Ressourcen (Macht, Geld, Aufmerksamkeit) einsetzen, um bestimmte Narrative in öffentlichen oder politischen Foren (wie Think Tanks, Ausschüsse, Fraktionen) zu platzieren.<sup>52</sup> Der hegemoniale Diskurs bzw. die damit verbundene Ambivalenz bestimmt nicht nur die als „richtig“ vermittelte Einordnung einer Situation, sondern auch die Bewertung von Dringlichkeit, Perspektiven, Interessen, Zuständigkeiten und Lösungsansätzen.<sup>53</sup> Über politische Entscheidungen wird eine Thematik offiziell anerkannt (durch Ressourcenverteilung oder Agendasetting), erhalten bestimmte Formen der Kategorisierung Deutungsmacht und gewinnen dadurch den hegemonialen Anspruch auf Legitimität und Richtigkeit des Diskurses.<sup>54</sup></p><p>Die psychiatrische Versorgung in Deutschland erfuhr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen massiven Wandel. Als zentraler Bezugspunkt des westdeutschen Diskurses zur Psychiatrie gilt 1971 die Einberufung einer Sachverständigenkommission aus rund 200 Expert:innen zur umfassenden Erhebung der psychiatrischen Versorgung durch die Bundesregierung. Diese legte im Oktober 1973 einen Zwischenbericht und im September 1975 einen umfassenden Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland vor. Bereits im Zwischenbericht stellte das Expert:innengremium schwerwiegende Mängel in der psychiatrischen Versorgung fest und forderte Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse.<sup>55</sup> Der vom Deutschen Bundestag herausgegebene Enquete-Bericht öffnete letztendlich der politischen Debatte um die Psychiatriereform in der Bundesrepublik die Türen.<sup>56</sup> In diesem kritisierte die Sachverständigenkommission unter anderem die als unzureichend beschriebene ambulante Versorgung, Defizite in komplementären Versorgungsangeboten, zu große und veraltete Kliniken, Personalmangel in der psychiatrischen Versorgung und die Benachteiligung und Ausgrenzung psychisch Erkrankter.<sup>57</sup> Im politischen Prozess spielte die Psychiatrie-Enquete eine Vorreiter-Rolle als überhaupt allererste vom Deutschen Bundestag in Auftrag gegebene Enquete. Zugleich war die Psychiatriereform kein ganz geradliniger Prozess, sondern vielmehr eingebunden in einen komplexen, langwidrigen Modernisierungsprozess der Psychiatrie in der Bundesrepublik. Bis zu diesem Zusammenfinden von Psychiatrie und Politik lag ein längerer Weg und es bedurfte unterschiedlicher medialer und politischer Impulse.<sup>58</sup></p><p>Die Annahme vielfältiger Kontext- und Einflussfaktoren wurde im hier betrachteten Projekt zur Geschichte der Psychiatriereform vor allem für den bundesdeutschen Kontext aus der Perspektive von Zeitzeug:innen überprüft. Im Mittelpunkt dieses Oral-History-Projekts stand die Frage, welche Prozesse und Impulse die reformorientierte Psychiatrie im Vorfeld der Psychiatrie-Enquete beeinflusst haben.<sup>59</sup> Untersucht wurde der Einfluss gesellschaftspolitischer Debatten und Zäsuren auf die Entwicklung des Fachs.</p><p>Das Projekt umfasste 28 Interviews mit Akteur:innen der deutschsprachigen Nachkriegspsychiatrie.<sup>60</sup> Unter ihnen waren Vertreter:innen der Psychiatrie, der Psychotherapie, der Psychoanalyse, der Ergotherapie und der psychiatrischen Pflege. Das Interviewsample spiegelt das Geschlechterverhältnis der betrachteten Gruppe während des Erhebungszeitraums.<sup>61</sup> Ziel war es, Vertreter:innen, Unterstützer:innen und Kritiker:innen der bundesdeutschen reformorientierten Psychiatrie zu erfassen. Um der Perspektive seinerzeit involvierter Fachkräfte Raum zu geben, wurden reformorientierte Diskurse und Entwicklungen in der Psychiatrie der Nachkriegszeit über einen lebensgeschichtlichen Ansatz betrachtet. Die Leitfragen im Projekt konzentrierten sich auf die äußeren Rahmenbedingungen im Vorfeld der Psychiatrie-Enquete, persönliche Hintergründe sowie Motive der Reformbeteiligung.<sup>62</sup></p><p>Im Folgenden werden markante Narrative der Metaebene betrachtet, die in der Sekundäranalyse der Interviews erkennbar wurden:</p><p>Die Oral History als historischer Zugang über lebensgeschichtliche oder themenzentrierte Erzählungen betont für sich den Anspruch, anstatt einer „Geschichte von oben“ eine „Geschichte von unten“ zu erzählen. Für die Oral History in der Wissenschaftsgeschichte bedeutet dies eine weitergehende Herausforderung oder besser, den Anspruch, eine „Geschichte von innen heraus“ zu erzählen. Im hier betrachteten Projekt stand die Frage im Raum, ob es Faktoren gibt, die Wissenschaftler:innen zu „besonderen“ Interviewpartner:innen machen und ob die Erinnerung in dieser Gruppe stärker oder anders umkämpft ist als in anderen Kontexten.</p><p>Wissenschaftler:innen sind professionell dahingehend sozialisiert worden, ihren eigenen Anteil an Entwicklungen, Fortschritten und Leistungen besonders herauszustellen.<sup>90</sup> Die Sekundäranalyse der Befunde des Oral-History-Projekts zur Psychiatriereform in der Bundesrepublik wie auch andere Oral-History-Projekte in der Medizingeschichte verdeutlichen eindrucksvoll die vielfältigen Versuche der Verdrängung unerwünschter Narrative durch Marginalisierung von als marginal oder oppositionell verstandenen Kollegen und insbesondere von Kolleginnen und deren Leistungen im jeweiligen Fachgebiet. Beispielsweise wurde während des Rechercheprozesses von beteiligten Personen die Befragung von Interviewpartner:innen der „zweiten Reihe“ oder als Vertreter:innen fachlicher Spezialthemen hinterfragt und empfohlen, doch stattdessen Personen aus dem eigenen Netzwerk als Gesprächspartner:innen einzubeziehen.</p><p>Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Aspekt der mündlichen Geschichtsschreibung in der Wissenschaftsgeschichte ist, dass sich aus der Vortrags- und Lehrtätigkeit von Wissenschaftler:innen tendenziell ausgeprägtere rhetorische Kompetenzen ergeben. So ist beispielsweise in einem Oral-History-Projekt zur Medizingeschichte in der Analyse auch dahingehend zu reflektieren, ob das Gespräch mit Forschenden, Fachkräften oder Klienten des Gesundheitssektors geführt wird.</p><p>Die Unterrepräsentierung von Frauen in den betrachteten Berufszweigen sowie in höheren Hierarchieebenen beeinflusst den Forschungsprozess der Oral History in der Wissenschaftsgeschichte in mehreren Aspekten. Für die Auswahl der Gesprächspartner:innen bedeutet dies, dass das Interviewsample in hohem Grad die strukturelle Geschlechtsverteilung und -hierarchien abbildet. Diese Frage ist nicht unbedeutsam im Hinblick auf die Objektivität und Validität der Daten.<sup>91</sup> In der Analyse ist zu reflektieren, inwiefern geschlechtsspezifische Deutungsmuster abgebildet werden und diese quellenkritisch analysiert werden müssen. Auch in der Durchführung der Interviews treten durchaus Gendereffekte auf (soziale Konstruktion von Geschlecht und Hierarchisierung der Interviewsituation, unterschiedliches Antwortverhalten). Diese müssen in die Analyse quellenkritisch einbezogen werden.<sup>92</sup> Die Einordnung von Geschlechtereffekten kann durch Überlagerungen durch andere Kategorisierungen nach Klasse, Status, Ethnie oder Alter erschwert sein, ist aber so weit wie möglich davon abzugrenzen. Inwieweit geschlechtstypische Interaktion im Oral-History-Interview in die Analyse einbezogen wird, hängt letztlich von den Rahmenbedingungen und dem Forschungsinteresse ab.</p><p>Um vorherrschende Narrative – oder gar Mythen – nicht zu reproduzieren, „die legitimationsbedürftige Bestandteile der Kollektivgeschichte […] verdecken […] und andere Bestandteile besonders betonen [sollen]“,<sup>93</sup> und um die vielfältigen Aspekte historischer Realitäten möglichst adäquat abzubilden, sind auch Quellen – wie autobiographische Literatur und Ego-Dokumente, relevante Archivalien, Primär- und Sekundärliteratur zu Aspekten des Untersuchungsgegenstandes – zu recherchieren, die Informationen zu fehlenden Bestandteilen oder marginalisierten Perspektiven einer Kollektivgeschichte bieten. Auch bietet sich an, das Interviewsample gezielt um Personen zu erweitern, deren Positionen vom dominanten Diskurs abweichen und Zugang zu abweichenden Perspektiven und Daten ermöglichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein „gut“ funktionierender hegemonialer Diskurs es erschweren kann, entsprechende Hinweise zu alternativen Perspektiven zu erhalten. Die Auswertung von bislang nicht zugänglichen Informationen wie Erinnerungen marginalisierter Gruppen kann bei der Bildung von Hypothesen und bei der Analyse der gesamten Daten dienlich sein. Das Einbeziehen vielseitiger Quellen (Perspektiven von Führungskreisen, anerkannten Mitgliedern und den Außenseiter:innen eines Forschungsbereiches) führt zwar nicht zwangsläufig zu einer authentischeren Rekonstruktion, jedoch kann es gelingen, hegemoniale Narrative herauszuarbeiten, zu hinterfragen und damit deren Wirkmächtigkeit zu limitieren.</p><p>Übertragen auf die Wissenschaftsgeschichte allgemein geht es hier um die „diskurskonstituierenden Regeln und deren Wirkmächtigkeit“, die als „Ordnungsstrukturen“ gelten, die die vorherrschenden Bilder einer Thematik ausmachen.<sup>94</sup> Die Oral History ermöglicht es hier, rezente Geschichte zu dokumentieren und individuelle Perspektiven und subjektive Wahrnehmungen einzubeziehen.</p><p>Zu dem hier betrachteten Projekt zur Geschichte der Psychiatriereform konnten Aspekte einer bislang ungeschriebenen Wissenschaftsgeschichte erhoben und einer weiteren kritischen Analyse und Erweiterung des bisherigen Geschichtsbildes zugänglich gemacht werden. Dadurch konnte das Verständnis um Grundvoraussetzungen und relevante Impulse – gesellschaftspolitischer Zeitgeist, Einfluss der medialen Öffentlichkeit, internationaler Austausch, interdisziplinäre Öffnung (Soziologie, Anthropologie, Philosophie) – im Vorfeld der Enquete-Kommission zu dem betrachteten reformorientierten Prozess erweitert und vertieft werden. In Bezug auf die wirkmächtigen Netzwerke ließen die neben den hegemonialen Perspektiven stehenden marginalisierten Wahrnehmungen deutlich werden, dass der Reformprozess nicht ausschließlich durch einzelne als federführend tradierte Akteure bzw. Gruppen initiiert und getragen wurde. Vielmehr haben auch scheinbar marginal beteiligte Akteur:innen als Gatekeeper<sup>95</sup> und Boundary-Spanner<sup>96</sup> den Reformprozess durch Übermittlung von Informationen, Initiierung von Prozessen und Strukturen und inhaltliche Arbeit stark beeinflusst. Auch traten über diesen Zugang neue Aspekte (wie individuelle oder institutionelle Konkurrenzen, persönliche Interessen oder Ängste) zutage, die in der bisherigen Forschung kaum Raum fanden und die bislang opak gebliebene Prozesse oder teilweise irritierende Verhaltensweisen (wie Reaktion in der öffentlichen Diskussion, Positionierung gegenüber vormaligen NS-Tätern) erkennbar werden ließen. So wurde im Analyseprozess erkennbar, dass dessen Verlauf und die Rolle einzelner Akteur:innen und Gruppen deutlich komplexer als bisher tradiert gesehen werden muss.</p><p>Über den Zugang der Oral History wurde klarer, inwieweit ehemalige Akteure die bisherige Forschungslage zur Psychiatrie-Enquete geprägt und ein Stück weit gesteuert haben. Einzelne ehemals Beteiligte haben das offizielle Geschichtsbild stark beeinflusst durch Erinnerungstexte wie Autobiographien, Memoiren und Zeitzeug:inneninterviews. Aber auch Nachrufe, Tagebücher und Ego-Dokumente geben die Ereignisse rund um die Psychiatriereform nachträglich gedeutet und interpretiert wieder. Sie sagen weniger aus über historische Prozesse als vielmehr über das Welt- und Selbstbild ihrer Verfasser:innen.</p><p>Zusammenfassend zeigt sich, dass das Herausarbeiten, Erkennen und kritische Hinterfragen hegemonialer Deutungsmuster und Narrative weitergehende Erkenntnisse ermöglicht haben und dadurch das bisher tradierte Geschichtsbild wenn nicht umgeschrieben, so doch erweitert werden konnte.<sup>97</sup> Der hier geschilderte quellenkritische historische Zugang und dessen Diskussion bieten weitere Reflexionsmöglichkeiten für Forschende, die auf schriftliche Egodokumente angewiesen sind und aus verschiedensten Gründen keine Oral-History-Interviews nutzen können.<sup>98</sup></p><p>Der Deutungsanspruch von Interviewten als Zeitzeug:innen, die „Deutungskonkurrenz und Interdependenz von Zeitgeschichte und Erinnerung“<sup>99</sup> und die zahlreichen Fragen, die sich aus den Überschneidungen von Primärerfahrung, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft ergeben, gehören zu den intensiv diskutierten Fragestellungen der historischen Forschung.<sup>100</sup> Zwischen dem moralisierenden Duktus persönlicher bzw. kollektiver Erinnerung und dem rationalen Erklärungsanspruch der Geschichtsschreibung existieren Unterschiede nicht allein wegen unterschiedlicher methodischer Zugänge; gleichzeitig ist eine Erfahrungsgeschichte auf individuelle Erinnerungen angewiesen, ebenso wie ein reflektierter, kritischer Umgang mit den mündlichen Quellen nötig ist.<sup>101</sup></p>\",\"PeriodicalId\":55388,\"journal\":{\"name\":\"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte\",\"volume\":\"47 1-2\",\"pages\":\"128-150\"},\"PeriodicalIF\":0.6000,\"publicationDate\":\"2024-04-04\",\"publicationTypes\":\"Journal Article\",\"fieldsOfStudy\":null,\"isOpenAccess\":false,\"openAccessPdf\":\"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300019\",\"citationCount\":\"0\",\"resultStr\":null,\"platform\":\"Semanticscholar\",\"paperid\":null,\"PeriodicalName\":\"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte\",\"FirstCategoryId\":\"98\",\"ListUrlMain\":\"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300019\",\"RegionNum\":2,\"RegionCategory\":\"哲学\",\"ArticlePicture\":[],\"TitleCN\":null,\"AbstractTextCN\":null,\"PMCID\":null,\"EPubDate\":\"\",\"PubModel\":\"\",\"JCR\":\"Q2\",\"JCRName\":\"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE\",\"Score\":null,\"Total\":0}","platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","FirstCategoryId":"98","ListUrlMain":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi.202300019","RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q2","JCRName":"HISTORY & PHILOSOPHY OF SCIENCE","Score":null,"Total":0}
Erinnerungskulturen in den Wissenschaften – eine Frage hegemonialer Narrative?
Erinnerungskulturen sind in den Wissenschaften allgegenwärtig. Ausgehend von Halbwachs‘ Grundüberlegung existieren in differenzierten Gesellschaften verschiedene Erinnerungen (individuell-biographisch, kollektiv-kulturell) an denselben historischen Bezugspunkt (Pluralität kollektiver Gedächtnisse).1 Oft treten neben eine positivistisch geprägte „Meistererzählung“2 unterschiedliche interessensbeeinflusste Narrative.3 Die Praktiken des Erinnerns und der Darstellung von Erfahrungen werden durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und deren hegemoniale Diskurse beeinflusst. Darüber hinaus werden in der Erzählung Vernetzungen in der untersuchten Gruppe deutlich.4
Gleichzeitig bildet einheitliche, etablierte und unhinterfragte Vergangenheitswahrnehmung innerhalb einer Gruppe ein Identitätskriterium einer Wir-Gruppe – also einer Gruppe, der sich Personen zugehörig fühlen, mit der sie sich identifizieren, der sie in Loyalität verbunden sind und mit der sie sich von anderen Personen oder Gruppen abgrenzen.5 Die weitgehend homogene Erinnerung bestimmt die Grenzen des anerkannten Wissens.6 Unter einer „kulturellen Hegemonie“ versteht man nach Laclau und Mouffe, wenn es gelingt, einen Diskurs als allgemeingültig und alternativlos zu präsentieren und zu instituieren.7 Wird dieser Konsens gebrochen, werden die Grenzen des Sagbaren neu gesetzt8 und ein Diskurswechsel kann stattfinden.9
Ein Individuum partizipiert stets gleichzeitig an mehreren sich überschneidenden gruppenspezifischen Gedächtnissen.10 Die kollektiven Bestandteile sind insbesondere dann wirkmächtig im Sinne einer Dekonstruktion tradierter Narrative, wenn das individuelle Erleben mit der kollektiven Erinnerung in Konflikt gerät oder wenn die zurückliegenden Ereignisse nicht zum aktuellen Zugehörigkeitsgefühl bzw. -wunsch passen.11 Meist zeichnet sich ein Spannungsverhältnis mehrerer zentraler Akteur:innen oder Gruppen ab, die miteinander um die Darstellung und Deutung der Vergangenheit innerhalb des Netzwerkes ringen.12
In Bezug auf Ullrich Oevermann lassen sich Deutungsmuster als „Angelpunkt zwischen Diskurs und Erfahrung“ verstehen.13 Rixta Wundrak beschreibt sie als „kollektive, typisierte Sinngehalte [mit] normativem Charakter und […] nicht ständig dem Bewusstsein zugänglich“.14 Nach Schetsche strukturieren sie das kollektive Alltagshandeln und dienen als meist implizites und selbstverständliches Orientierungswissen, wie mit Phänomenen umzugehen ist und wie diese einzuordnen sind.15 Im Unterschied zu temporären Diskursen oder Handlungsorientierungen bedeuten Deutungsmuster kulturell mächtige und langlebige normative Strukturen. Deutungsmuster sind zum einen sozial konstruiert, zum anderen lassen sie sich auf unterschiedlichen sozialen Ebenen zeigen (Individuum, Institution, Gesellschaft), außerdem sind sie historisch tradiert und transformiert. Da sie jedoch latent und implizit erscheinen, werden sie von den Handelnden meist als objektive Gegebenheiten wahrgenommen.16 Soziale Deutungsmuster begründen sich aus strukturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft und lassen sich verstehen als „eine Art ‚gesellschaftliche Interpretation‘ dieser Gegebenheiten“.17
Eine der wesentlichen erinnerungskulturellen Funktionen individueller wie institutioneller Narration liegt in der Sinnstiftung. Bergem zufolge transformiert der Mensch die unübersichtlichen Erfahrungen in der narrativen Ordnung zu „Verständlichkeit, Plausibilität und Zielgerichtetheit“.18 In der narrativen Bearbeitung wird zuvor scheinbar Zusammenhangloses zu einer zusammenhängenden Geschichte eines Individuums oder einer Gruppe. Narrationen können nicht nur Sinn herstellen, sondern diesen auch verändern bzw. in Frage stellen. So lassen sich Geschichten auch neu erzählen, was wieder die Frage nach der Deutungsmacht und Artikulationschancen aufwirft.19 Die Deutungsmacht der Narration hängt weniger ab von der Orientierung an objektiv nachvollziehbaren historischen Fakten, sondern mehr von ihrer Wirkmächtigkeit, also ihrem Einfluss auf soziale Entwicklungen.20
In der Politik, also auch in der Berufspolitik in den Wissenschaften, werden institutionelle Ordnungen über Narrative legitimiert, stabilisiert oder auch zu dekonstruieren versucht. Melville und Vorländer sprechen hier von „Geltungsgeschichten“,21 in denen Traditionen und Zukunftsvisionen narrativ konstruiert werden. Narrative stehen im Zentrum institutioneller Transformationen, politischer Projekte und Debatten.22 Mit ihnen lassen sich Emotionen erzeugen, Machtansprüche artikulieren und Kollektive bestätigen. So haben Erzählungen unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt stets strategischen Charakter. Narrative und Deutungsmuster sind flexibel und dienen der Deutung von ambivalenten Situationen. Über die Analyse von Narrativen lassen sich Informationen über die Prozesse der Bedeutungszuschreibung und auch die Struktur der untersuchten Netzwerke erlangen. Für eine objektive qualitative Analyse ist die Dekonstruktion von Narrativen nötig und sie ist möglich über eine Erzählanalyse, also durch die Analyse der verschiedenen Situationen, in denen Narrative in unterschiedlichen Foren erzählt werden. Über diesen erzählanalytischen Zugang kann deutlich werden, welchen Nutzen die Narrative besitzen und welche Funktionen diese in der Struktur eines Netzwerkes besitzen.23
Im Unterschied zu Zeitzeug:innen-Seminaren24, in denen die Erinnerungen an historische Ereignisse für sich stehen, geht es in Oral-History-Projekten weitaus stärker darum, die individuellen Schilderungen kritisch einzuordnen und zu analysieren. Jene einer breiteren Öffentlichkeit wohl am vertrautesten Produkte der Oral History, Interviewsequenzen in Ausstellungen oder Filmen, bieten diese kritische Einordnung und Analyse allerdings nicht, illustrieren aber eindrücklich die Konstruktion der Rolle „Zeitzeug:in“, die für Forschende der Oral History höchste Relevanz hat. Meist werden die Zeitzeug:innen in audiovisuellen Medien von Ausstellungs- oder Filmschaffenden inszeniert, um ein vorher formuliertes Narrativ zu illustrieren; dazu werden beispielsweise für Ausstellungen oder Filmbeiträge passende Interviewsequenzen ausgewählt und angeordnet. Forschende wie Befragte erhalten über den lebensgeschichtlichen Bezug die Möglichkeit, die Rolle als „Gestalter der Geschichte“ zu übernehmen. Die mediale Figur der Zeitzeug:innen geriert zur „Beglaubigungsinstanz“25 und verliert damit ihre kritische Funktion. Damit können Erinnerungen produziert und Deutungsmuster bewusst von einigen der zentralen Akteur:innen gesteuert werden. Im Fokus steht weniger das Rekonstruieren von Geschichte, sondern vielmehr das Erfassen unterschiedlicher Narrative als subjektive Perspektiven historischer Prozesse. Bei Oral-History-Interviews handelt es sich um von Interviewten und Interviewenden koproduzierte Ego-Dokumente. Eine Stärke dieses Zugangs ist die mögliche Vermittlung vielfältiger Erfahrungsgeschichten aus Perspektive der Befragten.26 Da die in der Oral History Forschenden unmittelbar an der Schaffung und Verstärkung von Geschlechterstereotypen und der Entstehung von Narrativen beteiligt sind – beispielsweise durch Auswahl der Interviewten und Art der Fragen – ist der Umgang mit Geschlecht und die Bedeutung von Gender in der Forschung wie in der Gesellschaft allgemein zu reflektieren.27
Dieser Beitrag beinhaltet eine Sekundäranalyse des Projekts „Psychiatrie und Neugestaltung. Impulse und Rahmenbedingungen für den Reformdiskurs zur ‚Psychiatrie-Enquete‘ (1958–1975)“28 und befasst sich mit der Frage, inwiefern hegemoniale Narrative historiographische Prozesse beeinflussen (können) und welche Implikationen sich aus konkurrierenden Erinnerungsgemeinschaften und einer gegebenenfalls umkämpften Erinnerung in einem Fachgebiet speziell für die mündliche Wissenschaftsgeschichtsschreibung ergeben. Die im Folgenden genannten Muster oder spezifischen Erfahrungen dazu fanden sich in drei Oral-History-Projekten der Verfasserin mit Wissenschaftler:innen29, die im Beitrag genannten Beispiele beziehen sich allerdings vorwiegend auf das genannte Psychiatrie-Projekt.
In traditionellen Gesellschaften existieren mündliche Überlieferungsformen als Wissensbestand, der über mehrere Generationen mündlich weitergegeben und als Teil des kollektiven Gedächtnisses ihrer Mitglieder verstanden wird. Vor Erfindung der Schriftsprache war die mündliche Überlieferung die wichtigste Methode zur intergenerationellen Weitergabe von Fähigkeiten und Wissen. Der häufigste Weg der Weitergabe ist das Erzählen von Geschichten oder epischer Gedichte zu historischen Begebenheiten und überlieferten Moralvorstellungen.30
Mit Leopold von Ranke (1795–1886) wurden Geschichtsschreibung als Wissenschaft professionalisiert und wissenschaftliche Standards des Faches formuliert.31 Zu diesen gehörten unter anderem Objektivität und Unparteilichkeit der Forschenden, Faktenbezogenheit und quellenbasiertes Forschen/Quellenkritik. Dabei wurden schriftliche Quellen den als unzuverlässig geltenden mündlichen Belegen vorgezogen. Die Konzentration auf Objektivität im Gefolge Rankes führte zur Tendenz der Geschichtsschreibung, sich auf dasjenige Quellenmaterial mit der höchsten Glaubwürdigkeit zu verlassen.32 Dies spiegelt sich im Fokus auf staatliche und behördliche Quellen und der Konzentration auf politische Prozesse und „Erfolgsgeschichten“ wider. Auch in einzelnen Zeitzeug:innen-Projekten ist erkennbar, dass sich diese bevorzugt auf prominente, angesehene Personen konzentrieren.
Die Geschichtsschreibung im Allgemeinen – und Wissenschaftsgeschichte im Speziellen – konzentrierte sich seit dem 19. Jahrhundert auf schriftliche und amtliche Quellen, die sie in Archiven und Bibliotheken vorfand. Es wurden vor allem politische Ereignisse und „große Männer“ bzw. „ruhmreiche“ Gruppen oder Gesellschaften erinnert – als eine „Geschichte von oben“. Die Geschichte unterdrückter oder marginalisierter Gruppen erhielt darin nur wenig Raum.33 Zugang zum Geschichtsstudium an Universitäten wurde in der Regel nur „weißen“ Männern gewährt; Frauen und People of Color war lange Zeit der Ausbildungsweg bzw. die Publikationsmöglichkeit in den großen Fachzeitschriften versperrt.34 Dies wirkte sich auch auf die thematische Ausrichtung und auf Argumentationsmuster in der Geschichtsschreibung aus.35
Die Demokratisierung des Zugangs zur Profession (Frauen, Menschen mit Migrationserfahrung, bäuerlicher oder Arbeiterherkunft) sowie die Erweiterung technologischer Möglichkeiten ab Mitte des 20. Jahrhunderts (Mikrofon, Tonbandgerät, Kassettenrekorder, Smartphone) ermöglichten die Erweiterung historischer Untersuchungsgegenstände (soziale Bewegungen, marginalisierte und vernachlässigte Gruppen, Durchschnittsmenschen, Familien, ländlicher Raum). Ziel vieler „Oral Historians“ war es, bislang ungehörte Geschichten als eine „Geschichte von unten“36 zu erforschen und eine subalterne, antihegemoniale Geschichte zu schreiben.37
Oral History geht über die mündliche Tradition von Geschichte hinaus. Forschende verstehen Oral History als mündliche Erzählung aus erster Hand: „Oral History is the tape-recording of reminiscences about which the narrator can speak from first-hand knowledge.“38 Es werden lebensgeschichtliche oder themenzentrierte Interviews mit Personen geführt, die die zu untersuchenden Ereignisse oder Prozesse erlebt oder beobachtet haben. Oral History bietet die Möglichkeit, Erinnerungen über individuelle Erfahrungen systematisch zu sammeln, zu kontextualisieren, zu analysieren und die Aufzeichnungen, Transkriptionen und Dokumentationen für zukünftig Forschende aufzubewahren.
Interviewprojekten lässt sich neben einer wissenschaftlichen, therapeutischen oder pädagogischen allerdings auch eine eigenständige erinnerungskulturelle Funktion zuweisen. Allein die Tatsache, in einem Projekt befragt worden zu sein, scheint einer Person oder ihrer Gruppe gesellschaftliche Anerkennung zu verleihen.39 Aus den interviewten Personen werden Zeitzeug:innen, deren Erinnerung eine besondere gesellschaftliche oder wissenschaftliche Relevanz zugeschrieben wird.
In die Analyse muss die Oral History biographische und historische Rahmendaten wie auch soziologische Aspekte einbeziehen. Zu den Stärken dieses Zugangs gehört die Möglichkeit, Werte, Narrative und Deutungsmuster einer Gruppe zu transportieren, die bislang nicht in schriftlichen Aufzeichnungen greifbar waren. Der Schwäche der subjektiven Perspektive in individuellen Erzählungen kann durch historische Kontextualisierung über schriftliche Quellen, dem systematischen Vergleich in einem ausgewogenen Aufzeichnungssample und einer quellenkritischen Analyse der Aufzeichnungen begegnet werden.40
Die mündliche Geschichtsforschung ist zugleich durch die Involviertheit der Forschenden im Feld geprägt; daher geht es in der analytischen Arbeit auch um „das [Sich−]Hineinbegeben in die Lebenswelt, das interaktive Teilnehmen an der Kultur der Beforschten und das Reflektieren des eigenen Erlebten“.41 Das Forschen in der Oral History lässt sich als Kommunikationsprozess verstehen, in dem versucht wird, die Bedeutung sozialer Handlungen für die Akteur:innen herauszuarbeiten. Die aktive Teilhabe kann einer fortwährenden Prüfung dienen, inwiefern die Bedeutung der Handlungen und deren Regeln verstanden worden sind.42 Dies bedeutet, die lebensgeschichtliche Darstellung ist hinsichtlich ihrer kulturellen Strukturiertheit zu analysieren. Auch die Gesprächssituation ist bereits prästrukturiert (körperliche Präsenz, geregelter Ablauf, Sprechordnung, Machtungleichheiten) – all dies ist in die Analyse einzubeziehen.43
In der Wissenschaftsgeschichte lässt sich über den Zugang lebensgeschichtlicher Interviews die tiefere Bedeutung historischer Prozesse oder Ereignisse für die Akteur:innen betrachten. Dies ermöglicht ein verbessertes Verständnis, wie Kultur, Erinnerung oder Subjektivität Deutung und Darstellung von Vergangenheit prägen.44 Ein Beitrag der Oral History für die Wissenschaftsgeschichte können Interviews sein mit Expert:innen, die die historischen Prozesse erinnern können. Diese lassen sich als selektive, lebensgeschichtlich verarbeitete und auf einen thematischen Aspekt bezogene Narrative verstehen.45 Als Expert:innen werden Angehörige organisatorischer Funktionseliten verstanden, die ein privilegiertes Wissen besitzen und innerhalb ihres Verantwortungsbereichs über Autonomie, Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten verfügen.46
Die qualitative Analyse befasst sich damit, wie die Erfahrungen der Akteur:innen die Gegenwartsperspektive und Darstellung der Ereignisse prägen.47 Der daraus resultierende Erkenntnisgewinn liegt darin, dass nicht nur die zum Zeitpunkt der Interviewerhebung wirkmächtigen Diskurse innerhalb einer wissenschaftlichen Fachgemeinschaft oder aktuellen hegemonialen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurse erfasst, sondern auch die weniger gehörten Perspektiven, die fehlenden (vergessenen oder verschwiegenen) Anteile einer Kollektivgeschichte rekonstruiert werden.
Die folgenden Ausführungen möchten den Mehrwert der Oral History für die Wissenschaftsgeschichte verdeutlichen, die über die individuellen Perspektiven der Interviewten hinausgeht und gezielt institutions- und gesellschaftshistorische Daten einbezieht und dabei die Perspektiven von Führungskreisen, anerkannten Mitgliedern und den Außenseiter:innen einer Fachgesellschaft kontrastiv vergleicht.
Im wissenschaftlichen Diskurs drücken sich hegemoniale Narrative in vorgegebenen Erinnerungen meist als geteiltes Gedächtnis aus, dessen Funktion vor allem darin liegt, die Kontinuität der Gruppe zu sichern.48 Zu klassischen Narrativen in der Wissenschaftsgeschichte gehören beispielsweise: Aufstieg durch Bildung, Erfolg durch eigene Leistung, Rationalität der westlichen Moderne, Forschungsvorsprung des Westens gegenüber dem Osten bzw. des reichen Nordens gegenüber dem armen Süden, eine „bahnbrechende“ Entdeckung als Basis einer Forschungsrichtung.
Die im sozialen Gedächtnis formulierte Vergangenheit kann als geteilte Realität angenommen und auch als solche untersucht werden. Der Versuch, der Nachwelt eine Erinnerung zu hinterlassen und sich in das Gedächtnis einzuschreiben, äußert sich in der Psychiatriegeschichte beispielsweise über Nachrufe, Biographien oder biographische Lexika.49
In der Wissenschaftsgeschichte sind es zumeist zentrale Akteur:innen eines Fachgebiets, die aktiv an der Gestaltung von solchen Erzählungen mitwirken und sie mit dem Argument des exklusiven Wissens um bestimmte Vorgänge, Hintergründe und Motivlagen zu bestimmen versuchen.50 Wissenschaftler:innen sind professionell dahingehend sozialisiert worden, ihren eigenen Anteil an Entwicklungen, Fortschritten und Leistungen besonders herauszustellen. Das Hervorheben der eigenen Leistung im Kontext ist zwar nicht exklusiv für die Kommunikation dieser Gruppe (siehe auch: Politik, Management), war jedoch in einigen Interviews des betrachteten Projekts erkennbar.
Nach Schetsche lassen sich unterschiedliche Typen „kollektiver Akteure“51 hinsichtlich ihrer Motive, sozialen Herkunft und politischen Bedeutung unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Ressourcen (Macht, Geld, Aufmerksamkeit) einsetzen, um bestimmte Narrative in öffentlichen oder politischen Foren (wie Think Tanks, Ausschüsse, Fraktionen) zu platzieren.52 Der hegemoniale Diskurs bzw. die damit verbundene Ambivalenz bestimmt nicht nur die als „richtig“ vermittelte Einordnung einer Situation, sondern auch die Bewertung von Dringlichkeit, Perspektiven, Interessen, Zuständigkeiten und Lösungsansätzen.53 Über politische Entscheidungen wird eine Thematik offiziell anerkannt (durch Ressourcenverteilung oder Agendasetting), erhalten bestimmte Formen der Kategorisierung Deutungsmacht und gewinnen dadurch den hegemonialen Anspruch auf Legitimität und Richtigkeit des Diskurses.54
Die psychiatrische Versorgung in Deutschland erfuhr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen massiven Wandel. Als zentraler Bezugspunkt des westdeutschen Diskurses zur Psychiatrie gilt 1971 die Einberufung einer Sachverständigenkommission aus rund 200 Expert:innen zur umfassenden Erhebung der psychiatrischen Versorgung durch die Bundesregierung. Diese legte im Oktober 1973 einen Zwischenbericht und im September 1975 einen umfassenden Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland vor. Bereits im Zwischenbericht stellte das Expert:innengremium schwerwiegende Mängel in der psychiatrischen Versorgung fest und forderte Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse.55 Der vom Deutschen Bundestag herausgegebene Enquete-Bericht öffnete letztendlich der politischen Debatte um die Psychiatriereform in der Bundesrepublik die Türen.56 In diesem kritisierte die Sachverständigenkommission unter anderem die als unzureichend beschriebene ambulante Versorgung, Defizite in komplementären Versorgungsangeboten, zu große und veraltete Kliniken, Personalmangel in der psychiatrischen Versorgung und die Benachteiligung und Ausgrenzung psychisch Erkrankter.57 Im politischen Prozess spielte die Psychiatrie-Enquete eine Vorreiter-Rolle als überhaupt allererste vom Deutschen Bundestag in Auftrag gegebene Enquete. Zugleich war die Psychiatriereform kein ganz geradliniger Prozess, sondern vielmehr eingebunden in einen komplexen, langwidrigen Modernisierungsprozess der Psychiatrie in der Bundesrepublik. Bis zu diesem Zusammenfinden von Psychiatrie und Politik lag ein längerer Weg und es bedurfte unterschiedlicher medialer und politischer Impulse.58
Die Annahme vielfältiger Kontext- und Einflussfaktoren wurde im hier betrachteten Projekt zur Geschichte der Psychiatriereform vor allem für den bundesdeutschen Kontext aus der Perspektive von Zeitzeug:innen überprüft. Im Mittelpunkt dieses Oral-History-Projekts stand die Frage, welche Prozesse und Impulse die reformorientierte Psychiatrie im Vorfeld der Psychiatrie-Enquete beeinflusst haben.59 Untersucht wurde der Einfluss gesellschaftspolitischer Debatten und Zäsuren auf die Entwicklung des Fachs.
Das Projekt umfasste 28 Interviews mit Akteur:innen der deutschsprachigen Nachkriegspsychiatrie.60 Unter ihnen waren Vertreter:innen der Psychiatrie, der Psychotherapie, der Psychoanalyse, der Ergotherapie und der psychiatrischen Pflege. Das Interviewsample spiegelt das Geschlechterverhältnis der betrachteten Gruppe während des Erhebungszeitraums.61 Ziel war es, Vertreter:innen, Unterstützer:innen und Kritiker:innen der bundesdeutschen reformorientierten Psychiatrie zu erfassen. Um der Perspektive seinerzeit involvierter Fachkräfte Raum zu geben, wurden reformorientierte Diskurse und Entwicklungen in der Psychiatrie der Nachkriegszeit über einen lebensgeschichtlichen Ansatz betrachtet. Die Leitfragen im Projekt konzentrierten sich auf die äußeren Rahmenbedingungen im Vorfeld der Psychiatrie-Enquete, persönliche Hintergründe sowie Motive der Reformbeteiligung.62
Im Folgenden werden markante Narrative der Metaebene betrachtet, die in der Sekundäranalyse der Interviews erkennbar wurden:
Die Oral History als historischer Zugang über lebensgeschichtliche oder themenzentrierte Erzählungen betont für sich den Anspruch, anstatt einer „Geschichte von oben“ eine „Geschichte von unten“ zu erzählen. Für die Oral History in der Wissenschaftsgeschichte bedeutet dies eine weitergehende Herausforderung oder besser, den Anspruch, eine „Geschichte von innen heraus“ zu erzählen. Im hier betrachteten Projekt stand die Frage im Raum, ob es Faktoren gibt, die Wissenschaftler:innen zu „besonderen“ Interviewpartner:innen machen und ob die Erinnerung in dieser Gruppe stärker oder anders umkämpft ist als in anderen Kontexten.
Wissenschaftler:innen sind professionell dahingehend sozialisiert worden, ihren eigenen Anteil an Entwicklungen, Fortschritten und Leistungen besonders herauszustellen.90 Die Sekundäranalyse der Befunde des Oral-History-Projekts zur Psychiatriereform in der Bundesrepublik wie auch andere Oral-History-Projekte in der Medizingeschichte verdeutlichen eindrucksvoll die vielfältigen Versuche der Verdrängung unerwünschter Narrative durch Marginalisierung von als marginal oder oppositionell verstandenen Kollegen und insbesondere von Kolleginnen und deren Leistungen im jeweiligen Fachgebiet. Beispielsweise wurde während des Rechercheprozesses von beteiligten Personen die Befragung von Interviewpartner:innen der „zweiten Reihe“ oder als Vertreter:innen fachlicher Spezialthemen hinterfragt und empfohlen, doch stattdessen Personen aus dem eigenen Netzwerk als Gesprächspartner:innen einzubeziehen.
Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Aspekt der mündlichen Geschichtsschreibung in der Wissenschaftsgeschichte ist, dass sich aus der Vortrags- und Lehrtätigkeit von Wissenschaftler:innen tendenziell ausgeprägtere rhetorische Kompetenzen ergeben. So ist beispielsweise in einem Oral-History-Projekt zur Medizingeschichte in der Analyse auch dahingehend zu reflektieren, ob das Gespräch mit Forschenden, Fachkräften oder Klienten des Gesundheitssektors geführt wird.
Die Unterrepräsentierung von Frauen in den betrachteten Berufszweigen sowie in höheren Hierarchieebenen beeinflusst den Forschungsprozess der Oral History in der Wissenschaftsgeschichte in mehreren Aspekten. Für die Auswahl der Gesprächspartner:innen bedeutet dies, dass das Interviewsample in hohem Grad die strukturelle Geschlechtsverteilung und -hierarchien abbildet. Diese Frage ist nicht unbedeutsam im Hinblick auf die Objektivität und Validität der Daten.91 In der Analyse ist zu reflektieren, inwiefern geschlechtsspezifische Deutungsmuster abgebildet werden und diese quellenkritisch analysiert werden müssen. Auch in der Durchführung der Interviews treten durchaus Gendereffekte auf (soziale Konstruktion von Geschlecht und Hierarchisierung der Interviewsituation, unterschiedliches Antwortverhalten). Diese müssen in die Analyse quellenkritisch einbezogen werden.92 Die Einordnung von Geschlechtereffekten kann durch Überlagerungen durch andere Kategorisierungen nach Klasse, Status, Ethnie oder Alter erschwert sein, ist aber so weit wie möglich davon abzugrenzen. Inwieweit geschlechtstypische Interaktion im Oral-History-Interview in die Analyse einbezogen wird, hängt letztlich von den Rahmenbedingungen und dem Forschungsinteresse ab.
Um vorherrschende Narrative – oder gar Mythen – nicht zu reproduzieren, „die legitimationsbedürftige Bestandteile der Kollektivgeschichte […] verdecken […] und andere Bestandteile besonders betonen [sollen]“,93 und um die vielfältigen Aspekte historischer Realitäten möglichst adäquat abzubilden, sind auch Quellen – wie autobiographische Literatur und Ego-Dokumente, relevante Archivalien, Primär- und Sekundärliteratur zu Aspekten des Untersuchungsgegenstandes – zu recherchieren, die Informationen zu fehlenden Bestandteilen oder marginalisierten Perspektiven einer Kollektivgeschichte bieten. Auch bietet sich an, das Interviewsample gezielt um Personen zu erweitern, deren Positionen vom dominanten Diskurs abweichen und Zugang zu abweichenden Perspektiven und Daten ermöglichen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein „gut“ funktionierender hegemonialer Diskurs es erschweren kann, entsprechende Hinweise zu alternativen Perspektiven zu erhalten. Die Auswertung von bislang nicht zugänglichen Informationen wie Erinnerungen marginalisierter Gruppen kann bei der Bildung von Hypothesen und bei der Analyse der gesamten Daten dienlich sein. Das Einbeziehen vielseitiger Quellen (Perspektiven von Führungskreisen, anerkannten Mitgliedern und den Außenseiter:innen eines Forschungsbereiches) führt zwar nicht zwangsläufig zu einer authentischeren Rekonstruktion, jedoch kann es gelingen, hegemoniale Narrative herauszuarbeiten, zu hinterfragen und damit deren Wirkmächtigkeit zu limitieren.
Übertragen auf die Wissenschaftsgeschichte allgemein geht es hier um die „diskurskonstituierenden Regeln und deren Wirkmächtigkeit“, die als „Ordnungsstrukturen“ gelten, die die vorherrschenden Bilder einer Thematik ausmachen.94 Die Oral History ermöglicht es hier, rezente Geschichte zu dokumentieren und individuelle Perspektiven und subjektive Wahrnehmungen einzubeziehen.
Zu dem hier betrachteten Projekt zur Geschichte der Psychiatriereform konnten Aspekte einer bislang ungeschriebenen Wissenschaftsgeschichte erhoben und einer weiteren kritischen Analyse und Erweiterung des bisherigen Geschichtsbildes zugänglich gemacht werden. Dadurch konnte das Verständnis um Grundvoraussetzungen und relevante Impulse – gesellschaftspolitischer Zeitgeist, Einfluss der medialen Öffentlichkeit, internationaler Austausch, interdisziplinäre Öffnung (Soziologie, Anthropologie, Philosophie) – im Vorfeld der Enquete-Kommission zu dem betrachteten reformorientierten Prozess erweitert und vertieft werden. In Bezug auf die wirkmächtigen Netzwerke ließen die neben den hegemonialen Perspektiven stehenden marginalisierten Wahrnehmungen deutlich werden, dass der Reformprozess nicht ausschließlich durch einzelne als federführend tradierte Akteure bzw. Gruppen initiiert und getragen wurde. Vielmehr haben auch scheinbar marginal beteiligte Akteur:innen als Gatekeeper95 und Boundary-Spanner96 den Reformprozess durch Übermittlung von Informationen, Initiierung von Prozessen und Strukturen und inhaltliche Arbeit stark beeinflusst. Auch traten über diesen Zugang neue Aspekte (wie individuelle oder institutionelle Konkurrenzen, persönliche Interessen oder Ängste) zutage, die in der bisherigen Forschung kaum Raum fanden und die bislang opak gebliebene Prozesse oder teilweise irritierende Verhaltensweisen (wie Reaktion in der öffentlichen Diskussion, Positionierung gegenüber vormaligen NS-Tätern) erkennbar werden ließen. So wurde im Analyseprozess erkennbar, dass dessen Verlauf und die Rolle einzelner Akteur:innen und Gruppen deutlich komplexer als bisher tradiert gesehen werden muss.
Über den Zugang der Oral History wurde klarer, inwieweit ehemalige Akteure die bisherige Forschungslage zur Psychiatrie-Enquete geprägt und ein Stück weit gesteuert haben. Einzelne ehemals Beteiligte haben das offizielle Geschichtsbild stark beeinflusst durch Erinnerungstexte wie Autobiographien, Memoiren und Zeitzeug:inneninterviews. Aber auch Nachrufe, Tagebücher und Ego-Dokumente geben die Ereignisse rund um die Psychiatriereform nachträglich gedeutet und interpretiert wieder. Sie sagen weniger aus über historische Prozesse als vielmehr über das Welt- und Selbstbild ihrer Verfasser:innen.
Zusammenfassend zeigt sich, dass das Herausarbeiten, Erkennen und kritische Hinterfragen hegemonialer Deutungsmuster und Narrative weitergehende Erkenntnisse ermöglicht haben und dadurch das bisher tradierte Geschichtsbild wenn nicht umgeschrieben, so doch erweitert werden konnte.97 Der hier geschilderte quellenkritische historische Zugang und dessen Diskussion bieten weitere Reflexionsmöglichkeiten für Forschende, die auf schriftliche Egodokumente angewiesen sind und aus verschiedensten Gründen keine Oral-History-Interviews nutzen können.98
Der Deutungsanspruch von Interviewten als Zeitzeug:innen, die „Deutungskonkurrenz und Interdependenz von Zeitgeschichte und Erinnerung“99 und die zahlreichen Fragen, die sich aus den Überschneidungen von Primärerfahrung, Erinnerungskultur und Geschichtswissenschaft ergeben, gehören zu den intensiv diskutierten Fragestellungen der historischen Forschung.100 Zwischen dem moralisierenden Duktus persönlicher bzw. kollektiver Erinnerung und dem rationalen Erklärungsanspruch der Geschichtsschreibung existieren Unterschiede nicht allein wegen unterschiedlicher methodischer Zugänge; gleichzeitig ist eine Erfahrungsgeschichte auf individuelle Erinnerungen angewiesen, ebenso wie ein reflektierter, kritischer Umgang mit den mündlichen Quellen nötig ist.101
期刊介绍:
Die Geschichte der Wissenschaften ist in erster Linie eine Geschichte der Ideen und Entdeckungen, oft genug aber auch der Moden, Irrtümer und Missverständnisse. Sie hängt eng mit der Entwicklung kultureller und zivilisatorischer Leistungen zusammen und bleibt von der politischen Geschichte keineswegs unberührt.