{"title":"克里斯蒂安·格拉赫,《欧洲犹太人谋杀案》。原因、事件、维度。来自英国。Martin Richter著,慕尼黑:C.H.Beck 2017,576 S.,34.95欧元[ISBN 978‑3‑406‑70710‑0]","authors":"Christian Streit","doi":"10.1515/MGZS-2019-0050","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Die Forschung zum Völkermord an den Juden hat in den vergangenen 70 Jahren enorme Fortschritte gemacht. In den ersten Jahren herrschte, der Verteidigungsstrategie der Einsatzgruppenführer in Nürnberg folgend, die Überzeugung, die Vernichtung der Juden sei von Hitler persönlich befohlen und von der SS durchgeführt worden. Inzwischen hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich um einen Prozess handelte, in dem viele Akteure zu einer kumulativen Radikalisierung beitrugen. Wie komplex dieser Prozess war, zeigt Christian Gerlach in dem hier zu besprechenden Band. Der Autor, heute Professor an der Universität Bern, hat in den letzten 25 Jahren mehrere wegweisende Arbeiten zum Ostkrieg und zum Holocaust veröffentlicht. Hier untersucht er in einer breit angelegten Synthese auf der Basis seiner eigenen Forschungen und einer souveränen Auswertung der heute fast unübersehbaren Sekundärliteratur – die Bibliografie umfasst mehr als 1100 Titel – das überaus komplizierte Bedingungsgeflecht, in dem die Ermordung der europäischen Juden möglich wurde. Dabei beschränkt er die Analyse nicht auf Deutschland, sondern bezieht die besetzten und verbündeten Länder Europas ein. Zu den wesentlichen Voraussetzungen des Genozids zählt Gerlach die Existenz »extrem gewalttätiger Gesellschaften«, einen Populärrassismus, der in seiner Breitenwirkung wichtiger war als der spezifisch nationalsozialistische Antisemitismus, und den »partizipatorischen Charakter« des dezentralisierten Vernichtungsprozesses. Die Vorstellung einer »extrem gewalttätigen« deutschen Gesellschaft schon vor 1933 mag überzogen erscheinen, aber Gerlach führt dafür gute Gründe an. Er verweist unter anderem auf die Freikorpskämpfe nach dem Ersten Weltkrieg, die außerhalb aller völkerrechtlichen Schranken geführt wurden, und darauf, dass man im Ersten Weltkrieg 70 000 Psychiatriepatienten verhungern ließ. Dass von da Linien zum Holocaust führen, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass ein erheblicher Teil des Führungspersonals von NSDAP und SS und auch hohe Wehrmachtoffiziere durch die Freikorpskämpfe geprägt waren. Die zweite Verbindungslinie führt über die Euthanasieaktion 1939/40 zum Faktum, dass die darin involvierten SS-Leute dann den Massenmord in Chełmno und in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhard« organisierten. 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Die Forschung zum Völkermord an den Juden hat in den vergangenen 70 Jahren enorme Fortschritte gemacht. In den ersten Jahren herrschte, der Verteidigungsstrategie der Einsatzgruppenführer in Nürnberg folgend, die Überzeugung, die Vernichtung der Juden sei von Hitler persönlich befohlen und von der SS durchgeführt worden. Inzwischen hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich um einen Prozess handelte, in dem viele Akteure zu einer kumulativen Radikalisierung beitrugen. Wie komplex dieser Prozess war, zeigt Christian Gerlach in dem hier zu besprechenden Band. Der Autor, heute Professor an der Universität Bern, hat in den letzten 25 Jahren mehrere wegweisende Arbeiten zum Ostkrieg und zum Holocaust veröffentlicht. Hier untersucht er in einer breit angelegten Synthese auf der Basis seiner eigenen Forschungen und einer souveränen Auswertung der heute fast unübersehbaren Sekundärliteratur – die Bibliografie umfasst mehr als 1100 Titel – das überaus komplizierte Bedingungsgeflecht, in dem die Ermordung der europäischen Juden möglich wurde. Dabei beschränkt er die Analyse nicht auf Deutschland, sondern bezieht die besetzten und verbündeten Länder Europas ein. Zu den wesentlichen Voraussetzungen des Genozids zählt Gerlach die Existenz »extrem gewalttätiger Gesellschaften«, einen Populärrassismus, der in seiner Breitenwirkung wichtiger war als der spezifisch nationalsozialistische Antisemitismus, und den »partizipatorischen Charakter« des dezentralisierten Vernichtungsprozesses. Die Vorstellung einer »extrem gewalttätigen« deutschen Gesellschaft schon vor 1933 mag überzogen erscheinen, aber Gerlach führt dafür gute Gründe an. Er verweist unter anderem auf die Freikorpskämpfe nach dem Ersten Weltkrieg, die außerhalb aller völkerrechtlichen Schranken geführt wurden, und darauf, dass man im Ersten Weltkrieg 70 000 Psychiatriepatienten verhungern ließ. Dass von da Linien zum Holocaust führen, wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass ein erheblicher Teil des Führungspersonals von NSDAP und SS und auch hohe Wehrmachtoffiziere durch die Freikorpskämpfe geprägt waren. Die zweite Verbindungslinie führt über die Euthanasieaktion 1939/40 zum Faktum, dass die darin involvierten SS-Leute dann den Massenmord in Chełmno und in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhard« organisierten. Und natürlich war MGZ 78/1 (2019): 273–278 OLDENBOURG