{"title":"这两个基本的道德概念","authors":"Robert Spaemann","doi":"10.5771/9783495999967-66","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Als gelebte Moral bezeichnen wir anerkannte Regeln des Verhaltens, als volkstümliche oder philosophische — Ethik die Begründung dieser Regeln. Diese Begründung wirkt normalerweise auf die Verhaltensregeln zurück, und Ethik wird so zu einem Bestandteil der Moral selber. Im Verlauf der folgenden Über legungen werde ich dem, was ich die zwei Grundbegriffe der Moral nennen möchte, verschiedene inhaltliche Bestimmungen zu geben versuchen. Die for malste und allgemeinste habe ich vorausgeschickt: Regeln des Verhaltens und Begründung dieser Regeln. Das Verhältnis dieser beiden Grundbegriffe soll uns beschäftigen. Es wird zum Problem, wenn man entdeckt, daß die Begründung später ist als die Regeln, also nachträglich. Dies war die Entdeckung Nietzsches: „Moralische Gefühle und moralische Begriffe. Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, daß die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und daß sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen; im späteren Leben, wo sie sich voll von diesen angelernten und wohlgeübten Affekten fin den, halten sie ein nachträgliches Warum, eine Art Begründung, daß jene Nei gungen und Abneigungen berechtigt sind, für eine Sache des Anstandes. Diese „Begründungen“ aber haben weder mit Herkunft noch dem Grade des Ge fühls bei ihnen etwas zu tun: man findet sich eben nur mit der Regel ab, daß man als vernünftiges Wesen Gründe für sein Für und Wider haben müsse, und zwar angebbare und annehmbare Gründe. Insofern ist die Geschichte der mo ralischen Gefühle eine ganz andere als die Geschichte der moralischen Begriffe. Erstere sind mächtig vor der Handlung, letztere namentlich nach der Hand lung, angesichts der Nötigung, sich über sie auszusprechen1.“ Nietzsche glaubte damit, die rechtfertigende Selbstbegründung der traditio nellen europäischen Moral disqualifiziert zu haben. Die These von der Nachträglichkeit der Moralbegründung ist unabhängig von Nietzsche ausführlich und thematisch entwickelt worden von dem Soziolo gen Pareto* 12. Was ich die beiden Grundbegriffe der Moral nennen möchte, heißt bei Pareto Residuen und Derivationen. Unter Residuen verstand Pareto nicht logische Handlungsschemata, unter Derivationen die nachträgliche theoretische Begründung und Rechtfertigung solcher Handlungsschemata. Pareto versuchte an vielen Beispielen, z.B. dem der Natur rechtslehre, zu zeigen, daß diese Deri vationen in Wirklichkeit nichts begründen und rechtfertigen. Nun hat allerdings Moralbegründung in ihrer ursprünglichen Form gar nicht die Tendenz der Rechtfertigung, sondern die der Entlarvung. 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