{"title":"Erinnern und Vergessen. Methodische Gedanken und mittelalterliche Perspektiven zu zwei Paradigmen am Schnittpunkt von Memoria und Geschichte","authors":"Gordon Blennemann","doi":"10.1515/9783110757279-012","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Erinnern und Vergessen – die komplementären Gegenstände dieses Bandes – gehören zu den grundlegenden sozialen Praktiken des Menschen. Historiker begegnen den beiden mit besonderem Interesse, nähern sich ihnen aus einer doppelten Perspektive: aus der methodischen Distanz objektivierender Wissenschaft und zugleich im Bewusstsein der subjektiven Nähe des erinnernden und vergessenden, am kollektiven Erinnerungsprozess beteiligten Individuums. In der Beschäftigung mit dem Erinnern und dem Vergessen reflektieren sie somit nicht allein wissenschaftliche Gegenstände, sondern ebenso die historisch-anthropogene Tiefe eigener sozialer Praxis. Erinnern und Vergessen führen Historiker ins Zentrum des Spannungsfeldes zwischen Distanz und Empathie gegenüber dem historischen Subjekt, zu dem sie in Dialog treten. Rhetorisch und erkenntnistheoretisch betrachtet deuten Erinnern und Vergessen zugleich auf das analogische Verhältnis des Historikers zu den Menschen vergangener Zeiten, deren Erfahrungen und Praktiken er versucht zu ergründen. Sie besitzen damit paradigmatisches Potential.1 Diesem Grundgedanken der paradigmatischen Dimension von Erinnern und Vergessen als Beispiele für auf Analogiedenken gestützte Zugangsformen zur Vergangenheit, in denen sich soziale Praxis und historisches Denken verbinden, möchte ich mich auf der Grundlage von Patrick Gearys Buch Phantoms of Remembrance und den Beiträgen zu diesem Band – keinesfalls summierend, eher eklektisierend – nähern, um an die bereits von Geary vorgenommene Problematisierung einer für unser Thema zentralen methodischen Trennlinie anzuknüpfen. Ich meine die von Maurice Halbwachs (1877–1945) etablierte Trennung zwischen Geschichte und (kollektivem) Gedächtnis.","PeriodicalId":436102,"journal":{"name":"Creative Selection between Emending and Forming Medieval Memory","volume":"12 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2021-11-08","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Creative Selection between Emending and Forming Medieval Memory","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110757279-012","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Erinnern und Vergessen – die komplementären Gegenstände dieses Bandes – gehören zu den grundlegenden sozialen Praktiken des Menschen. Historiker begegnen den beiden mit besonderem Interesse, nähern sich ihnen aus einer doppelten Perspektive: aus der methodischen Distanz objektivierender Wissenschaft und zugleich im Bewusstsein der subjektiven Nähe des erinnernden und vergessenden, am kollektiven Erinnerungsprozess beteiligten Individuums. In der Beschäftigung mit dem Erinnern und dem Vergessen reflektieren sie somit nicht allein wissenschaftliche Gegenstände, sondern ebenso die historisch-anthropogene Tiefe eigener sozialer Praxis. Erinnern und Vergessen führen Historiker ins Zentrum des Spannungsfeldes zwischen Distanz und Empathie gegenüber dem historischen Subjekt, zu dem sie in Dialog treten. Rhetorisch und erkenntnistheoretisch betrachtet deuten Erinnern und Vergessen zugleich auf das analogische Verhältnis des Historikers zu den Menschen vergangener Zeiten, deren Erfahrungen und Praktiken er versucht zu ergründen. Sie besitzen damit paradigmatisches Potential.1 Diesem Grundgedanken der paradigmatischen Dimension von Erinnern und Vergessen als Beispiele für auf Analogiedenken gestützte Zugangsformen zur Vergangenheit, in denen sich soziale Praxis und historisches Denken verbinden, möchte ich mich auf der Grundlage von Patrick Gearys Buch Phantoms of Remembrance und den Beiträgen zu diesem Band – keinesfalls summierend, eher eklektisierend – nähern, um an die bereits von Geary vorgenommene Problematisierung einer für unser Thema zentralen methodischen Trennlinie anzuknüpfen. Ich meine die von Maurice Halbwachs (1877–1945) etablierte Trennung zwischen Geschichte und (kollektivem) Gedächtnis.