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Abstract
Goethe hat sein Drama Stella im Untertitel ein Ein Schauspiel für Liebende genannt und als solches hat es die Forschung seither mehrheitlich begriffen. Insbesondere das sich jenseits der traditionellen Eheund Geschlechterkonventionen bewegende Ende des Stückes (in der Erstfassung von 1776) steht bis heute im Mittelpunkt des Interesses. Goethe erkunde mit seinem Stück, so hat es Lothar Pikulik in einem klassischen Aufsatz zusammengefasst, »inwiefern die Frau für den Mann nicht beides sein kann, Geliebte sowohl als Gattin, oder inwiefern, wenn die Rollen auf zwei verschiedene Frauen verteilt sind, sich nicht mit beiden zugleich ein Arrangement treffen ließe«.1 Aus dieser Perspektive erweist sich das oft als »utopisch«2 begriffene Dramenende – also der Entschluss zur Dreierbeziehung des stürmischen Liebhabers Fernando mit der ätherischen Stella und der um Ausgleich und Vermittlung bemühten Cäcilie – als Lösung für die zuvor ausgeführte Problemkonstellation, deren Ursprung in einer widersprüchlichen Gefühlskultur liegt. Die zunächst unvereinbar erscheinenden Bedürfnisse nach emphatischer Liebe und bürgerlicher Arretierung werden schließlich – mit den letzten, von Cäcilie gesprochenen Worten des Stückes: »Wir sind dein!« – zusammengeführt und miteinander versöhnt.3 Dass Goethe den von seinen Zeitgenossen als skandalös wahrgenommenen Schluss in der zweiten Fassung von 1806 zurücknahm, indem er Fernando Hand an sich legen und Stella einen Gifttod sterben ließ – dieser neue Schluss modifiziert an dem Stück in struktureller Hinsicht eigentlich nichts, nur dass die Lösung für die problematische Gefühlslage der Figuren nicht mehr utopisch, sondern eben tragisch ausfällt.