Genozidleugnung: Organisiertes Vergessen oder Substanzielle Erkenntnispraxis?

Q3 Arts and Humanities Zeitschrift fur Praktische Philosophie Pub Date : 2022-08-19 DOI:10.22613/zfpp/9.1.10
Melanie Altanian
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Abstract

Die Begriffe kollektive Amnesie und organisiertes Vergessen werden oft verwendet, um Fälle zu beschreiben, in denen historisches Wissen, das im gesellschaftlichen, kollektiven Gedächtnis verfügbar sein sollte – weil es sich beispielsweise um gerechtigkeitsrelevantes Wissen handelt – aus unterschiedlichen, meist politisch problematischen Gründen nicht verfügbar ist. Beispielsweise, weil es gegebene Herrschaftsverhältnisse bedrohen würde. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, weshalb diese Begriffe gerade in solchen Fällen irreführend sind. Insbesondere nationale Erinnerungspolitik kann oftmals aus Erkenntnispraktiken bestehen oder befördern, die nicht primär Vergessen herbeiführen, sondern in der Gesellschaft verfügbares Wissen über bestimmte Themen verschleiern, verzerren und dadurch die gesellschaftliche Verständigung darüber erschweren oder sogar riskant macht; was vor allem in Fällen offensichtlich wird, in denen koloniale und genozidale Vergangenheiten systematisch geleugnet werden. So kann staatlich geförderte, systematische Genozidleugnung zwar durchaus selektiv zu „vergessen“ oder Wissensverlust führen. Doch viel problematischer aus ethischer und epistemischer Sicht ist, dass dadurch existierendes Wissen und Erinnerungen an die Verbrechen fortlaufend diskreditiert und unterdrückt werden. Genauer werden durch institutionelle und soziale Prozesse und Praktiken historische Fakten und andere Beweise, auf denen Erinnerung basiert, nicht nur ignoriert oder vernachlässigt, sondern vorsätzlich verschleiert, verzerrt und fehlinterpretiert. Es wird dadurch schädliches Unwissen und Unverständnis über die historischen Tatsachen und deren normative Bewertung generiert. Dadurch schafft Genozidleugnung nicht nur Wissenssubjekte, die nichts über den Genozid wissen – denn ein bloßer Wissensmangel könnte durch Bereitstellung des nötigen Wissens behoben werden – sondern das Thema verkennen, aktiv Tatsachen leugnen und dadurch die gesellschaftliche Verständigung über das Thema erschweren oder verunmöglichen. Um also besser zu verstehen, welche ethischen und epistemischen Konsequenzen systematische Genozidleugnung für Überlebende und Nachfahren, wie auch die Gesellschaft insgesamt mit sich bringt, schlage ich vor, systematische Genozidleugnung vielmehr als substanzielle Erkenntnispraxis (vgl. Alcoff 2007, 39) und somit als Fall vorsätzlichen Unwissens zu verstehen. Wie ich am Beispiel der türkischen Leugnung des Genozids an den Armenier:innen illustrieren werde, wird der Genozid nicht vergessen, sondern erinnert und zugleich verkannt, mit der Absicht, Herrschaftsverhältnisse zu konsolidieren. Dadurch wird epistemische Ungerechtigkeit gefördert und aufrechterhalten.
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集体失忆忘记和有组织这些术语通常用于的案例来描述历史的集体记忆在社会的知识应该随手拿原来它比如gerechtigkeitsrelevantes知道是——有不同,大部分都是政治上的原因不可用.例如某一种表达方式会威胁到你的权力本文旨在解释为什么这些名词会造成误解。特别是国家政策往往基于学术惯例或升职,这不仅导致人们忘记,而且掩盖、歪曲了对某些问题的现成知识,从而妨碍甚至隐含着风险;如果殖民地和种族灭绝被系统地否认,这一点就更加明显了。由此可见,国家助长的系统种族灭绝,可能会导致“遗忘”或“知识流失”。但从道德和史诗的角度看,这一大问题是,这样做不但使现有的知识和犯罪记忆变得蒙羞,而且受到压制。具体而言,制度和社会过程和实践不仅忽视或忽略了历史事实和其他支持记忆的证据,而且还蓄意混淆、误读或误解。造成对历史事实和规范评估的模糊认识。从而把Genozidleugnung Wissenssubjekte不只是不知道有关种族屠杀——因为一份单纯Wissensmangel可以通过提供必要的知识解决-因为这个主题下的积极否认事实,从而限制或儿童从社会相互理解这个主题.因此,为了更清楚地了解系统否定对幸存者及后代的种族屠杀所带来的道德与彼等性质,以及整个社会所带来的后果,我建议系统地实施种族屠杀,而不是实质性的知识实践。(这种行为被认定为有意无知。正如我将会在土耳其对亚美尼亚种族屠杀否认的例子中表述的那样,在里面,种族屠杀不仅不会被忘记,而且还会被人遗忘,同时也没有意识到这是为了巩固统治。这助长和维持了史诗般的不公正。
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