{"title":"Genozidleugnung: Organisiertes Vergessen oder Substanzielle Erkenntnispraxis?","authors":"Melanie Altanian","doi":"10.22613/zfpp/9.1.10","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Die Begriffe kollektive Amnesie und organisiertes Vergessen werden oft verwendet, um Fälle zu beschreiben, in denen historisches Wissen, das im gesellschaftlichen, kollektiven Gedächtnis verfügbar sein sollte – weil es sich beispielsweise um gerechtigkeitsrelevantes Wissen handelt – aus unterschiedlichen, meist politisch problematischen Gründen nicht verfügbar ist. Beispielsweise, weil es gegebene Herrschaftsverhältnisse bedrohen würde. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, weshalb diese Begriffe gerade in solchen Fällen irreführend sind. Insbesondere nationale Erinnerungspolitik kann oftmals aus Erkenntnispraktiken bestehen oder befördern, die nicht primär Vergessen herbeiführen, sondern in der Gesellschaft verfügbares Wissen über bestimmte Themen verschleiern, verzerren und dadurch die gesellschaftliche Verständigung darüber erschweren oder sogar riskant macht; was vor allem in Fällen offensichtlich wird, in denen koloniale und genozidale Vergangenheiten systematisch geleugnet werden. So kann staatlich geförderte, systematische Genozidleugnung zwar durchaus selektiv zu „vergessen“ oder Wissensverlust führen. Doch viel problematischer aus ethischer und epistemischer Sicht ist, dass dadurch existierendes Wissen und Erinnerungen an die Verbrechen fortlaufend diskreditiert und unterdrückt werden. Genauer werden durch institutionelle und soziale Prozesse und Praktiken historische Fakten und andere Beweise, auf denen Erinnerung basiert, nicht nur ignoriert oder vernachlässigt, sondern vorsätzlich verschleiert, verzerrt und fehlinterpretiert. Es wird dadurch schädliches Unwissen und Unverständnis über die historischen Tatsachen und deren normative Bewertung generiert. Dadurch schafft Genozidleugnung nicht nur Wissenssubjekte, die nichts über den Genozid wissen – denn ein bloßer Wissensmangel könnte durch Bereitstellung des nötigen Wissens behoben werden – sondern das Thema verkennen, aktiv Tatsachen leugnen und dadurch die gesellschaftliche Verständigung über das Thema erschweren oder verunmöglichen. Um also besser zu verstehen, welche ethischen und epistemischen Konsequenzen systematische Genozidleugnung für Überlebende und Nachfahren, wie auch die Gesellschaft insgesamt mit sich bringt, schlage ich vor, systematische Genozidleugnung vielmehr als substanzielle Erkenntnispraxis (vgl. Alcoff 2007, 39) und somit als Fall vorsätzlichen Unwissens zu verstehen. Wie ich am Beispiel der türkischen Leugnung des Genozids an den Armenier:innen illustrieren werde, wird der Genozid nicht vergessen, sondern erinnert und zugleich verkannt, mit der Absicht, Herrschaftsverhältnisse zu konsolidieren. Dadurch wird epistemische Ungerechtigkeit gefördert und aufrechterhalten.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.10","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"Q3","JCRName":"Arts and Humanities","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Die Begriffe kollektive Amnesie und organisiertes Vergessen werden oft verwendet, um Fälle zu beschreiben, in denen historisches Wissen, das im gesellschaftlichen, kollektiven Gedächtnis verfügbar sein sollte – weil es sich beispielsweise um gerechtigkeitsrelevantes Wissen handelt – aus unterschiedlichen, meist politisch problematischen Gründen nicht verfügbar ist. Beispielsweise, weil es gegebene Herrschaftsverhältnisse bedrohen würde. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, weshalb diese Begriffe gerade in solchen Fällen irreführend sind. Insbesondere nationale Erinnerungspolitik kann oftmals aus Erkenntnispraktiken bestehen oder befördern, die nicht primär Vergessen herbeiführen, sondern in der Gesellschaft verfügbares Wissen über bestimmte Themen verschleiern, verzerren und dadurch die gesellschaftliche Verständigung darüber erschweren oder sogar riskant macht; was vor allem in Fällen offensichtlich wird, in denen koloniale und genozidale Vergangenheiten systematisch geleugnet werden. So kann staatlich geförderte, systematische Genozidleugnung zwar durchaus selektiv zu „vergessen“ oder Wissensverlust führen. Doch viel problematischer aus ethischer und epistemischer Sicht ist, dass dadurch existierendes Wissen und Erinnerungen an die Verbrechen fortlaufend diskreditiert und unterdrückt werden. Genauer werden durch institutionelle und soziale Prozesse und Praktiken historische Fakten und andere Beweise, auf denen Erinnerung basiert, nicht nur ignoriert oder vernachlässigt, sondern vorsätzlich verschleiert, verzerrt und fehlinterpretiert. Es wird dadurch schädliches Unwissen und Unverständnis über die historischen Tatsachen und deren normative Bewertung generiert. Dadurch schafft Genozidleugnung nicht nur Wissenssubjekte, die nichts über den Genozid wissen – denn ein bloßer Wissensmangel könnte durch Bereitstellung des nötigen Wissens behoben werden – sondern das Thema verkennen, aktiv Tatsachen leugnen und dadurch die gesellschaftliche Verständigung über das Thema erschweren oder verunmöglichen. Um also besser zu verstehen, welche ethischen und epistemischen Konsequenzen systematische Genozidleugnung für Überlebende und Nachfahren, wie auch die Gesellschaft insgesamt mit sich bringt, schlage ich vor, systematische Genozidleugnung vielmehr als substanzielle Erkenntnispraxis (vgl. Alcoff 2007, 39) und somit als Fall vorsätzlichen Unwissens zu verstehen. Wie ich am Beispiel der türkischen Leugnung des Genozids an den Armenier:innen illustrieren werde, wird der Genozid nicht vergessen, sondern erinnert und zugleich verkannt, mit der Absicht, Herrschaftsverhältnisse zu konsolidieren. Dadurch wird epistemische Ungerechtigkeit gefördert und aufrechterhalten.