{"title":"Die Psychologie der Fehldiagnose","authors":"M. Endres","doi":"10.1055/S-0043-121998","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"die Faszination für spannende neurologische Syndrome, ungewöhnliche Präsentationen und ausgefallene Diagnosen hat für viele von uns den Ausschlag gegeben, sich für „unser“ Fach zu entscheiden. Bei aller medizinischen Sorgfalt kommt es jedoch im klinischen Alltag zu Fehlern und auch zu Fehldiagnosen. Natürlich werden diese in aller Regel rasch korrigiert und (hoffentlich) auch diskutiert, dennoch sollten wir uns mit den Mechanismen, die zu Fehldiagnosen führen, beschäftigen: Einige davon sind durch die Erkenntnisse der kognitiven Psychologie, die sich damit beschäftigt, wie wir schlussfolgern, beurteilen und Entscheidungen treffen, zu beantworten. Grundlegende Arbeiten hierzu stammen von Tversky und Kahneman mit der Formulierung der „Prospect Theory“, welche erklärt, wie wir in risikobehafteten Situationen Entscheidungen treffen und die später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde (empfohlen sei hier auch der Klassiker „Thinking, fast and slow“ von Daniel Kahneman). Diese Erkenntnisse dann auf die Medizin zu übertragen, ist insbesondere eine Leistung von Donald Redelmeier aus Toronto, der sich unter anderem mit der kognitiven Psychologie der Fehldiagnose beschäftigt hat. In unserem medizinischen Alltag nutzen wir häufig Erfahrungswerte und Analogschlüsse (also „Heuristik“), um Diagnosen zu stellen. Letztlich kommen wir also häufig durch eine Reihe von geistigen „Abkürzungen“ zum Ziel: Meistens führt dies zum richtigen Ergebnis, es ist pragmatisch (wohl auch ökonomisch) und für unseren medizinischen Alltag damit sinnvoll. Die kognitive Psychologie beschreibt nun aber mehrere Mechanismen, wie es hierbei zu Fehlern kommen kann: 1. Availability („Verfügbarkeit“): Als wahrscheinlich wird das erachtet, was uns als Erstes in den Sinn kommt. Ein allgemeines Beispiel hierfür ist z. B., dass uns auf die Frage, ob es mehr deutsche Wörter mit dem Buchstaben „R“ an erster vs. an dritter Stelle gibt, spontan mehr Wörter einfallen, die mit einem „R“ beginnen (diese sind „verfügbarer“). So ist es auch mit Diagnosen – meistens kommt uns eine bestimmte Diagnose sofort in den Sinn (sie „springt uns an“ – und häufig genug ist sie auch richtig), wohingegen z. B. eine systematische Analyse von Symptomen, Befunden und epidemiologischen Häufigkeiten häufig nicht erfolgt. 2. Anchoring („Verankerung“): Eine einmal getroffene Einschätzung wird nicht mehr verlassen; im medizinischen Kontext bedeutet dies insbesondere, dass, nachdem eine Diagnose einmal gestellt ist, wir dazu nicht passende Befunde nicht genügend berücksichtigen (geistig „in den Skat drücken“ – dann auch als 3. Premature closure bezeichnet). 4. Framing („Einrahmen“): Insbesondere bei komplexen Zusammenhängen wird unsere Entscheidung davon geleitet, wie uns die Information präsentiert wird. Dies spielt nicht nur bei der Diagnosestellung eine Rolle, sondern auf Patientenseite insbesondere bei der Entscheidung für die eine oder andere Therapie: Wird eine Therapie mit 5% Mortalität angegeben, wird sie weniger häufig vom Patienten angenommen, als wenn diese mit 95% Überlebenswahrscheinlichkeit angegeben wird. 5. Als weitere Mechanismen kommen noch das unkritische Übernehmen und Gläubigkeit („overreliance“) an technische oder bildgebende Befunde sowie der blinde Gehorsam („blind obedience“) in autoritären Klinikhierarchien hinzu. Glücklicherweise sind ja „klare“ und auch schwere Fehldiagnosen in unserem Alltag eher selten. Komplizierter wird es meiner Meinung nach jedoch bei häufigen Differenzialdiagnosen, die nicht endgültig aufgelöst werden (können), bei der aber psychologische, medikolegale oder auch ökonomische Faktoren unsere Entscheidungen beeinflussen können. Zwei Beispiele: Das erste ist die differenzialdiagnostische Zuordnung zu einer vermeintlich harmlosen Erkrankung (wie einer konvulsiven Synkope) vs. einer schwerer wiegenden Diagnose (z. B. epileptischer Anfall). Auch aus der Motivation, nichts falsch zu machen, besteht die Neigung, die schwerer wiegende Diagnose zu favorisieren (oder zumindest den „Verdacht auf“ zu formulieren) mit allen Konsequenzen wie Fahrverbot und möglicherweise einer antikonvulsiven Medikation. 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Abstract
die Faszination für spannende neurologische Syndrome, ungewöhnliche Präsentationen und ausgefallene Diagnosen hat für viele von uns den Ausschlag gegeben, sich für „unser“ Fach zu entscheiden. Bei aller medizinischen Sorgfalt kommt es jedoch im klinischen Alltag zu Fehlern und auch zu Fehldiagnosen. Natürlich werden diese in aller Regel rasch korrigiert und (hoffentlich) auch diskutiert, dennoch sollten wir uns mit den Mechanismen, die zu Fehldiagnosen führen, beschäftigen: Einige davon sind durch die Erkenntnisse der kognitiven Psychologie, die sich damit beschäftigt, wie wir schlussfolgern, beurteilen und Entscheidungen treffen, zu beantworten. Grundlegende Arbeiten hierzu stammen von Tversky und Kahneman mit der Formulierung der „Prospect Theory“, welche erklärt, wie wir in risikobehafteten Situationen Entscheidungen treffen und die später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde (empfohlen sei hier auch der Klassiker „Thinking, fast and slow“ von Daniel Kahneman). Diese Erkenntnisse dann auf die Medizin zu übertragen, ist insbesondere eine Leistung von Donald Redelmeier aus Toronto, der sich unter anderem mit der kognitiven Psychologie der Fehldiagnose beschäftigt hat. In unserem medizinischen Alltag nutzen wir häufig Erfahrungswerte und Analogschlüsse (also „Heuristik“), um Diagnosen zu stellen. Letztlich kommen wir also häufig durch eine Reihe von geistigen „Abkürzungen“ zum Ziel: Meistens führt dies zum richtigen Ergebnis, es ist pragmatisch (wohl auch ökonomisch) und für unseren medizinischen Alltag damit sinnvoll. Die kognitive Psychologie beschreibt nun aber mehrere Mechanismen, wie es hierbei zu Fehlern kommen kann: 1. Availability („Verfügbarkeit“): Als wahrscheinlich wird das erachtet, was uns als Erstes in den Sinn kommt. Ein allgemeines Beispiel hierfür ist z. B., dass uns auf die Frage, ob es mehr deutsche Wörter mit dem Buchstaben „R“ an erster vs. an dritter Stelle gibt, spontan mehr Wörter einfallen, die mit einem „R“ beginnen (diese sind „verfügbarer“). So ist es auch mit Diagnosen – meistens kommt uns eine bestimmte Diagnose sofort in den Sinn (sie „springt uns an“ – und häufig genug ist sie auch richtig), wohingegen z. B. eine systematische Analyse von Symptomen, Befunden und epidemiologischen Häufigkeiten häufig nicht erfolgt. 2. Anchoring („Verankerung“): Eine einmal getroffene Einschätzung wird nicht mehr verlassen; im medizinischen Kontext bedeutet dies insbesondere, dass, nachdem eine Diagnose einmal gestellt ist, wir dazu nicht passende Befunde nicht genügend berücksichtigen (geistig „in den Skat drücken“ – dann auch als 3. Premature closure bezeichnet). 4. Framing („Einrahmen“): Insbesondere bei komplexen Zusammenhängen wird unsere Entscheidung davon geleitet, wie uns die Information präsentiert wird. Dies spielt nicht nur bei der Diagnosestellung eine Rolle, sondern auf Patientenseite insbesondere bei der Entscheidung für die eine oder andere Therapie: Wird eine Therapie mit 5% Mortalität angegeben, wird sie weniger häufig vom Patienten angenommen, als wenn diese mit 95% Überlebenswahrscheinlichkeit angegeben wird. 5. Als weitere Mechanismen kommen noch das unkritische Übernehmen und Gläubigkeit („overreliance“) an technische oder bildgebende Befunde sowie der blinde Gehorsam („blind obedience“) in autoritären Klinikhierarchien hinzu. Glücklicherweise sind ja „klare“ und auch schwere Fehldiagnosen in unserem Alltag eher selten. Komplizierter wird es meiner Meinung nach jedoch bei häufigen Differenzialdiagnosen, die nicht endgültig aufgelöst werden (können), bei der aber psychologische, medikolegale oder auch ökonomische Faktoren unsere Entscheidungen beeinflussen können. Zwei Beispiele: Das erste ist die differenzialdiagnostische Zuordnung zu einer vermeintlich harmlosen Erkrankung (wie einer konvulsiven Synkope) vs. einer schwerer wiegenden Diagnose (z. B. epileptischer Anfall). Auch aus der Motivation, nichts falsch zu machen, besteht die Neigung, die schwerer wiegende Diagnose zu favorisieren (oder zumindest den „Verdacht auf“ zu formulieren) mit allen Konsequenzen wie Fahrverbot und möglicherweise einer antikonvulsiven Medikation. Ein anderes Beispiel sind Patienten, die sich mit akuten Schwindelsymptomen Die Psychologie der Fehldiagnose The Psychology of Missed Diagnoses