{"title":"„Ich wollte ein paar heilige Kühe schlachten.“ Zu Hildegard Knefs Krebsbericht Das Urteil oder Der Gegenmensch (1975) und seiner Rezeption","authors":"Diego León-Villagrá","doi":"10.29162/anafora.v8i2.8","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Mit Hildegard Knefs Das Urteil oder Der Gegenmensch (1975) fokussiert der vorliegende Beitrag einen autobiografischen Krebsbericht, der im literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurs um Krankheitsnarrative kaum beachtet wurde, obwohl es sich bei diesem Bestseller und stark polarisierendem Medienereignis um einen der ersten autobiografischen Krebsberichte im deutschsprachigen Raum und einen eminenten Prätext der Konjunktur autobiografischer Krankheitstexte seit Ende der 1970er Jahre handelt. Das autobiografische Schreiben erscheint bei Knef reflektiert als Selbsttechnik zur Schaffung eines kohärenten und aktualisierten Selbstbilds in der Situation existenzieller Krankheit. Gleichzeitig steht im Zentrum des Urteils eine differenzierte Kritik am zeitgenössischen Gesundheitssystem, der Entmündigung von Patienten, dem „Kriegsjargon“ im medizinischen System und der Semantik von Krebserkrankungen im öffentlichen Diskurs, die im Kontext der Forderung zu einem aufgeklärten Patientendasein eine Popularisierung medizinischen Fachwissens und -vokabulars induziert. Im Kontext einer zeitgenössisch kritisch kommentierten Expansion kultureller Diskurse um Krankheit und Sterben seit Mitte der 1970er Jahre wirft der Beitrag ein Schlaglicht auf die Rezeptionsgeschichte von Knefs Urteil, das bereits 1975 auch in englischer Übersetzung erschien. Gleichzeitig wird der Text in Beziehung zu Susan Sontags berühmtem Essay Krankheit als Metapher (1977) gesetzt, in dem Sontag mit den Metaphern, Narrativen und Stigmata des Krebses ebenjene Elemente systematisierend analysierte, die Knef in ihrem persönlichen Bericht zwei Jahre zuvor dargestellt hatte. Anhand dieser Konstellationen wird ersichtlich, in welchem Maßstab der Text trotz seiner überaus kritischen Rezeptionsgeschichte zu einer Entstigmatisierung des Krebses in der Öffentlichkeit beitragen konnte.","PeriodicalId":40415,"journal":{"name":"Anafora","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.1000,"publicationDate":"2021-01-01","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Anafora","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.29162/anafora.v8i2.8","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"0","JCRName":"LITERATURE","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Mit Hildegard Knefs Das Urteil oder Der Gegenmensch (1975) fokussiert der vorliegende Beitrag einen autobiografischen Krebsbericht, der im literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurs um Krankheitsnarrative kaum beachtet wurde, obwohl es sich bei diesem Bestseller und stark polarisierendem Medienereignis um einen der ersten autobiografischen Krebsberichte im deutschsprachigen Raum und einen eminenten Prätext der Konjunktur autobiografischer Krankheitstexte seit Ende der 1970er Jahre handelt. Das autobiografische Schreiben erscheint bei Knef reflektiert als Selbsttechnik zur Schaffung eines kohärenten und aktualisierten Selbstbilds in der Situation existenzieller Krankheit. Gleichzeitig steht im Zentrum des Urteils eine differenzierte Kritik am zeitgenössischen Gesundheitssystem, der Entmündigung von Patienten, dem „Kriegsjargon“ im medizinischen System und der Semantik von Krebserkrankungen im öffentlichen Diskurs, die im Kontext der Forderung zu einem aufgeklärten Patientendasein eine Popularisierung medizinischen Fachwissens und -vokabulars induziert. Im Kontext einer zeitgenössisch kritisch kommentierten Expansion kultureller Diskurse um Krankheit und Sterben seit Mitte der 1970er Jahre wirft der Beitrag ein Schlaglicht auf die Rezeptionsgeschichte von Knefs Urteil, das bereits 1975 auch in englischer Übersetzung erschien. Gleichzeitig wird der Text in Beziehung zu Susan Sontags berühmtem Essay Krankheit als Metapher (1977) gesetzt, in dem Sontag mit den Metaphern, Narrativen und Stigmata des Krebses ebenjene Elemente systematisierend analysierte, die Knef in ihrem persönlichen Bericht zwei Jahre zuvor dargestellt hatte. Anhand dieser Konstellationen wird ersichtlich, in welchem Maßstab der Text trotz seiner überaus kritischen Rezeptionsgeschichte zu einer Entstigmatisierung des Krebses in der Öffentlichkeit beitragen konnte.