{"title":"Archiv und Politik","authors":"Johannes John","doi":"10.1515/9783110696479-013","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Flair und Faszination von Bibliotheken – und hier in Sonderheit ihrer Lesesäle als Kernzonen der Vergegenwärtigung des Vergangenen – sind in ihrer ganz und gar unvergleichlichen Atmosphäre vielfach beschrieben und beschworen worden (vgl. hierzu stellvertretend Jammers et al. 2002; Rossner 2016): als Orte stillen Dialogs in intensiver Zuwendung und kontemplativer Achtsamkeit wie ebenso auch durchaus wacher sozialer Interaktion (vgl. Schley 2008). Dies gilt in besonderem Maße auch für deren ,Schatzkammern‘, also die höchst eigentümliche Aura, die nicht nur von einer Handschrift ausgeht, sondern auch in den zu ihrem Studium bereitgestellten, in der Regel nochmals exklusiveren Räumlichkeiten ,buchstäblich‘ fühlbar wird. Mir jedenfalls scheinen sie in dem ihnen innewohnenden Fluidum von konzentrierter Hingabe und unabgelenkter Versenkung, von offensichtlicher Demut und tiefem Respekt vor den Zeugnissen unserer Geschichte durchaus als säkulare Brüder der Gotteshäuser, dies im Bewusstsein, dass viele der in diesen Bergwerken der Erinnerung beschäftigten Archivarinnen und Archivare diese Ein drücke womöglich kaum teilen oder gar belächeln mögen. Wer jedoch – da mals noch als Doktorand – in Marbach einmal vor dem leibhaftigen Stapel jener Papiere stehen durfte, die auf der ersten Seite mit den Worten „Jemand mußte Josef K. verläumdet haben ...“ einsetzen, wird dies als einen der feierlichsten Momente seines literaturwissenschaftlichen Lebens in Erinnerung behalten.1 Womit wir, zumindest was den Autor dieses Satzes betrifft, an einem der Orte angelangt sind, zu denen dieser Beitrag führen wird. „Über ein literarisches Archiv zu sprechen ist sicher keine kurzweilige Angelegenheit. Äußerlich bietet sich dem Besucher zumeist ein Bild verstaubter Regale, gefüllt mit unansehnlichen Schachteln“ (Hofman 1984, 109). Möglicherweise liegt vielen dieses Bild, wie es der Prager Germanist Alois Hofman zeichnete, ja näher als das Pathos der vorangegangenen Eingangsworte, wenngleich auch er unmittelbar anschließend demgegenüber ebenso die „Ausstrahlung“ und das „Fluidum“ der in ihnen aufbewahrten Dokumente, und hier insbeson-","PeriodicalId":346297,"journal":{"name":"Logiken der Sammlung","volume":"155 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-04-06","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Logiken der Sammlung","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110696479-013","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Flair und Faszination von Bibliotheken – und hier in Sonderheit ihrer Lesesäle als Kernzonen der Vergegenwärtigung des Vergangenen – sind in ihrer ganz und gar unvergleichlichen Atmosphäre vielfach beschrieben und beschworen worden (vgl. hierzu stellvertretend Jammers et al. 2002; Rossner 2016): als Orte stillen Dialogs in intensiver Zuwendung und kontemplativer Achtsamkeit wie ebenso auch durchaus wacher sozialer Interaktion (vgl. Schley 2008). Dies gilt in besonderem Maße auch für deren ,Schatzkammern‘, also die höchst eigentümliche Aura, die nicht nur von einer Handschrift ausgeht, sondern auch in den zu ihrem Studium bereitgestellten, in der Regel nochmals exklusiveren Räumlichkeiten ,buchstäblich‘ fühlbar wird. Mir jedenfalls scheinen sie in dem ihnen innewohnenden Fluidum von konzentrierter Hingabe und unabgelenkter Versenkung, von offensichtlicher Demut und tiefem Respekt vor den Zeugnissen unserer Geschichte durchaus als säkulare Brüder der Gotteshäuser, dies im Bewusstsein, dass viele der in diesen Bergwerken der Erinnerung beschäftigten Archivarinnen und Archivare diese Ein drücke womöglich kaum teilen oder gar belächeln mögen. Wer jedoch – da mals noch als Doktorand – in Marbach einmal vor dem leibhaftigen Stapel jener Papiere stehen durfte, die auf der ersten Seite mit den Worten „Jemand mußte Josef K. verläumdet haben ...“ einsetzen, wird dies als einen der feierlichsten Momente seines literaturwissenschaftlichen Lebens in Erinnerung behalten.1 Womit wir, zumindest was den Autor dieses Satzes betrifft, an einem der Orte angelangt sind, zu denen dieser Beitrag führen wird. „Über ein literarisches Archiv zu sprechen ist sicher keine kurzweilige Angelegenheit. Äußerlich bietet sich dem Besucher zumeist ein Bild verstaubter Regale, gefüllt mit unansehnlichen Schachteln“ (Hofman 1984, 109). Möglicherweise liegt vielen dieses Bild, wie es der Prager Germanist Alois Hofman zeichnete, ja näher als das Pathos der vorangegangenen Eingangsworte, wenngleich auch er unmittelbar anschließend demgegenüber ebenso die „Ausstrahlung“ und das „Fluidum“ der in ihnen aufbewahrten Dokumente, und hier insbeson-