{"title":"„Ich dachte, Sie stellen Fragen.“ Irritationen und Aushandlungsprozesse im Zusammenhang mit Gattungserwartungen","authors":"M. Schöndienst","doi":"10.1515/9783110637502-005","DOIUrl":null,"url":null,"abstract":"Eine 75-jährige Patientin – wir nennen sie Frau Graumann –, die seit 55 Jahren an einer Anfallserkrankung leidet, sucht einen Arzt in einer Epilepsieklinik auf. Nachdem die bisherige Behandlung ihrer Anfälle durch andere ÄrztInnen in an deren Kliniken nicht von dauerhaftem Erfolg geprägt war, konsultiert sie nun ei nen Facharzt der psychosomatischen Epileptologie. Nach einem kurzen organisa torischen Austausch leitet der Arzt das eigentliche Gespräch ein: Er möchte wis sen, worüber die Patientin gern sprechenwill. Daraufhin sagt sie: „Ich dachte, Sie stellen Fragen.“ Als langjährige chronisch kranke Patientin hat Frau Graumann Erfahrung mit Arzt-Patient-Gesprächen und damit, wie diese abzulaufen pflegen, und ihre Erwartungen bezüglich des bevorstehenden Gesprächs orientieren sich an diesem Vorwissen. Dieser Arzt aber eröffnet das Gespräch nicht mit der mehr oder weniger formelhaften Frage, was sie zu ihm führt, er fragt auch nicht nach dem Beginn ihrer Anfälle oder den Medikamenten, die sie einnimmt. Vielmehr soll sie selbst entscheiden, worüber sie sprechen möchte. Auf diese unerwartete Gesprächseröffnung reagiert sie verdutzt und verbalisiert ihre abweichende Er wartung. Das Beispiel illustriert ein Problem, das in den diesem Beitrag zugrunde lie genden Gesprächen zwischen ÄrztInnen und PatientInnen, die an Anfallserkran kungen und/oder an Panikattacken bzw. Angststörungen leiden, immer wieder auftritt. Die Gespräche stammen aus Corpora, die im Rahmen zweier interdiszi plinärer Forschungsprojekte erstellt wurden.1 In diesem Kontext verhalten sich die ÄrztInnen anders, als die PatientInnen es gewohnt sind; sie orientieren sich","PeriodicalId":151287,"journal":{"name":"Verfestigungen in der Interaktion","volume":"230 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0000,"publicationDate":"2020-11-09","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":"0","resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":null,"PeriodicalName":"Verfestigungen in der Interaktion","FirstCategoryId":"1085","ListUrlMain":"https://doi.org/10.1515/9783110637502-005","RegionNum":0,"RegionCategory":null,"ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":null,"EPubDate":"","PubModel":"","JCR":"","JCRName":"","Score":null,"Total":0}
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Abstract
Eine 75-jährige Patientin – wir nennen sie Frau Graumann –, die seit 55 Jahren an einer Anfallserkrankung leidet, sucht einen Arzt in einer Epilepsieklinik auf. Nachdem die bisherige Behandlung ihrer Anfälle durch andere ÄrztInnen in an deren Kliniken nicht von dauerhaftem Erfolg geprägt war, konsultiert sie nun ei nen Facharzt der psychosomatischen Epileptologie. Nach einem kurzen organisa torischen Austausch leitet der Arzt das eigentliche Gespräch ein: Er möchte wis sen, worüber die Patientin gern sprechenwill. Daraufhin sagt sie: „Ich dachte, Sie stellen Fragen.“ Als langjährige chronisch kranke Patientin hat Frau Graumann Erfahrung mit Arzt-Patient-Gesprächen und damit, wie diese abzulaufen pflegen, und ihre Erwartungen bezüglich des bevorstehenden Gesprächs orientieren sich an diesem Vorwissen. Dieser Arzt aber eröffnet das Gespräch nicht mit der mehr oder weniger formelhaften Frage, was sie zu ihm führt, er fragt auch nicht nach dem Beginn ihrer Anfälle oder den Medikamenten, die sie einnimmt. Vielmehr soll sie selbst entscheiden, worüber sie sprechen möchte. Auf diese unerwartete Gesprächseröffnung reagiert sie verdutzt und verbalisiert ihre abweichende Er wartung. Das Beispiel illustriert ein Problem, das in den diesem Beitrag zugrunde lie genden Gesprächen zwischen ÄrztInnen und PatientInnen, die an Anfallserkran kungen und/oder an Panikattacken bzw. Angststörungen leiden, immer wieder auftritt. Die Gespräche stammen aus Corpora, die im Rahmen zweier interdiszi plinärer Forschungsprojekte erstellt wurden.1 In diesem Kontext verhalten sich die ÄrztInnen anders, als die PatientInnen es gewohnt sind; sie orientieren sich