Pub Date : 2020-01-27DOI: 10.30965/9783957437464_005
Cyrill Mamin
Ist es statthaft auf die Frage »Woher weißt du, dass du existierst?« zu antworten: »Weil ich die entsprechende Intuition habe«? Bei dieser Frage geht es um die epistemische Rechtfertigung durch Intuition.181 Ist Intuition dazu geeignet, sich der Wahrheit anzunähern und Irrtum zu vermeiden?182 Wer dies verneint, ohne im Sinne eines starken Skeptizismus die Möglichkeit epistemischer Rechtfertigung überhaupt negieren zu wollen, nimmt die Position ein, wonach epistemische Rechtfertigung nur auf diskursivem Weg möglich ist. In Bezug auf das Cartesische Beispiel würde somit die Rechtfertigung den Prämissen eines deduktiven Arguments entsprechen: »Ich bin ein denkendes Wesen, alle denkenden Wesen existieren, also existiere ich.« Falls epistemische Rechtfertigung nur auf diskursivem Weg erfolgen kann, hat die Intuition in epistemologischer Hinsicht keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung. Der Intuitionsbegriff würde lediglich einen Denkstil oder eine Technik bezeichnen, etwa eine schnelle Art des Schlussfolgerns, und keine besondere Erkenntnisart.183 Dies steht jedoch nicht in Einklang mit dem verbreiteten Verständnis, wonach Intuitionen rechtfertigende Kraft haben. So sind wir in vielen Beispielen dazu bereit, Intuitionen als Gründe anzuerkennen. Hier ein Beispiel für Rechtfertigung durch Intuition: Athletinnen und Athleten haben oft sehr gute Intuitionen bezüglich der Ausübung ihres Sports. Man denke beispielsweise an eine Golfspielerin, die intuitiv das jeweils beste Eisen für den nächsten Schlag wählt. ›Intuitiv‹ kann hier zweierlei bedeuten:
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Pub Date : 2020-01-27DOI: 10.30965/9783957437464_006
Cyrill Mamin
In den folgenden beiden Kapiteln geht es darum, die bisher entwickelte Intuitionskonzeption für Anwendungen fruchtbar zu machen. In Kap. 5 bestehen diese Anwendungen in der Verhältnisbestimmung der Intuition zu anderen mentalen Zuständen: Wie verhält sich Intuition zu Imagination und zu Formen der Irrationalität (aliefs, motivierte Irrationalität, Delusion)? In Kap. 6 folgt eine Auseinandersetzung mit der methodischen Debatte über Intuition, die in der zeitgenössischen analytischen Philosophie intensiv geführt wird. Aufgrund des zuvor entwickelten Intuitionsverständnisses erscheinen wichtige Aspekte dieser Debatte in neuem Licht.
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Als Auftakt zur Ergründung des Intuitionsbegriffs und des epistemischen Status der Intuitionen sollen einige bedeutende Intuitionsverständnisse der Neuzeit dargestellt werden. Die Wahl fällt auf Descartes, Spinoza, Locke, Kant und Goethe. Diese Auswahl ergibt sich aus einem systematisch ausgerichteten Erkenntnisinteresse. Demzufolge werden Stationen dargestellt, die für ein heute adäquates Intuitionsverständnis und für eine Beantwortung der Frage nach dem Beitrag der Intuition zur Erkenntnis besonders relevant sind. Zudem finden sich interessante Bezüge zwischen den dargestellten Positionen. Eine genauere Begründung der Auswahl soll zugleich als Vorschau dienen: 1. Bei Descartes findet sich erstmals eine ausführliche Behandlung der Intuition als Erkenntnisgattung, die nicht an starke metaphysische Voraussetzungen gebunden ist. Durch die damit verbundene klare Fokussierung auf das epistemische Subjekt stehen bei Descartes Fragen im Zentrum, die für die zeitgenössische Auseinandersetzung mit der Intuition von großer Relevanz sind; insbesondere die folgenden: Wie ist es, eine Intuition zu haben? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Intuition und Rechtfertigung bzw. Wissen, welcher zwischen Intuition und Schließen? 2. Spinoza und Locke greifen Cartesische Gedanken zur Intuition auf und erweitern oder modifizieren diese auf interessante Weise. Spinozas Intuitionskonzeption wird in Bezug auf die postulierte Möglichkeit des intuitiven Zugangs zu Wesensbegriffen wichtig. Mittels Intuition würde demnach der unmittelbare Zugang zum Wesen der Dinge ermöglicht; ein großes epistemologisches Versprechen, dessen Berechtigung zu prüfen sein wird. 3. Kants Bedeutung für jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der Intuition und deren epistemischem Status darf nicht übersehen werden. Seine Skepsis in Bezug auf eine Intuition, die mehr wäre als empirische Anschauung lohnt sich aus mindestens zwei Gründen nachzuvollziehen: Einerseits lässt sich Kant folgend näher bestimmen, was eine genuine Intuition ausmachen würde und was sie leisten müsste. Andererseits wird Kants Verständnis der Imagination in Bezug auf das Verhältnis zwischen Intuition und mentalen Modellen erhellend sein. Um diesen neuen Weg 2 Intuition und Erkenntnis: Philosophische Positionen der Neuzeit
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