Bei allen schwer erkrankten Patienten ist der Plasmaselenspiegel erniedrigt und negativ korreliert mit dem Schweregrad und der Prognose der Erkrankung. Der Plasmaselenspiegel ist ein Indikator für die Menge der im Blut zirkulierenden Selenoproteine und Selenoenzyme. Diese sind von Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Redox-Systems, die Modulation des Immunsystems sowie für den Schilddrüsenhormonmetabolismus. Nicht nur alle drei Deiodasen (D1 - 3) sind Selenoenzyme, sondern in der Schilddrüse liegen auch verschiedene weitere Selenoenzyme vor, die für die Aufrechterhaltung einer normalen Schilddrüsenfunktion unerlässlich sind. Bei schweren Erkrankungen sind auch der Triiodthyronin-(T3-) sowie der TSH- und der Thyroxin-(T4-)Spiegel niedrig, wohingegen der Reverse-T3-Spiegel erhöht ist. Alle diese Werte korrelieren, wie der niedrige Plasmaselenspiegel, mit dem Schweregrad der Erkrankung. Folglich wurde eine Reihe von Interventionsstudien durchgeführt, um zu prüfen, ob sich durch eine adjuvante Supplementierung mit Selen der Krankheitsverlauf mildern und die Prognose verbessern lässt. Die Selensupplementierung verbesserte in prospektiven, randomisierten Studien die Prognose und verringerte bei manchen sogar die Mortalität. Einige prospektive, randomisierte Interventionsstudien wurden auch durchgeführt um die Hypothese zu überprüfen, dass der niedrige Selenspiegel die Ursache des Nieder-T3-Syndroms sein könnte. Dies führte jedoch zu widersprüchlichen Ergebnissen und es konnte insbesondere nicht eindeutig geklärt werden, ob Selenmangel die Ursache der niedrigen D1-Aktivität bei kritischen Erkrankungen ist.
Da die D1 sowohl die Konversion von T4 zu T3 als auch die Clearance von Reverse-T3 (rT3) katalysiert, wäre eine niedrige D1-Aktivität eine hinreichende Erklärung für den niedrigen Plasma-T3- und den erhöhten rT3-Spiegel. Es wurde jedoch eindeutig belegt, dass vielmehr die Zytokine für die Inhibierung der D1-Aktivität verantwortlich sind, die Aktivitäten der D2 und der D3 jedoch während akuter Entzündungszustände bei kritisch kranken Patienten sogar erhöht sind. Einer der wichtigsten Effekte von Selen auf das Immunsystem scheint zu sein, dass es die Freisetzung von Zytokinen reduziert. Daher muss ein indirekter Zusammenhang zwischen einem niedrigen Selenspiegel und niedriger D1-Aktivität angenommen werden, nicht dagegen eine Erniedrigung der D1-Aktivität aufgrund einer verringerten Verfügbarkeit von Selen für die Expression der D1.