Pub Date : 2021-11-22DOI: 10.1515/9783110675788-006
Im Sommer 1921 war Herbert Hoovers Geduld mit den Quäkern an ein Ende gelangt. Er schlugmit der Faust auf den Tisch und fluchte dabei wie ein Bierkutscher („like a trooper“). Seit einigen Wochen bereitete die ARA unter seiner Führung eine weitere große Hilfsaktion vor – diesmal in der noch jungen Sowjetunion. In den laufenden Verhandlungen mit den Bolschewiki hatte er zuvor immer wieder einen Satz zu hören bekommen: „Why don’t you work like the Quakers do?“1 Für Hoover brachte dies das Fass zum Überlaufen. Nun stellte er Wilbur Thomas ein Ultimatum: Das AFSC würde in Russland Teil einer ARA-Hilfsaktion werden – zu seinen Bedingungen und unter seiner Führung – oder er werde dafür Sorge tragen, dass die Quäker dort keinen Fuß auf den Boden bekämen. Wenngleich die Episode sich am Ende als Sturm im Wasserglas entpuppen sollte: Sie wirft ein Schlaglicht auf den politisch hochbrisanten Charakter der anlaufenden Hilfsaktion in der jungen Sowjetunion,2 bei der sich das AFSC ab Sommer 1921 erneut an der Seite der ARA wiederfand.3 Der Anlass war eine Hungersnot, die ein Land traf, das von sieben Jahren Krieg, Flucht und Bürgerkrieg bereits ausgezehrt war, als ab Ende Mai die Hauptgetreideanbaugebiete Russlands, zwischen Wolga und Don, von einer Dürre heimgesucht wurden. Nach Schätzungen waren bis zu 20 Millionen Menschen unmittelbar vom Hungertod
{"title":"4 Swallowed by Lions and Eagles. Das AFSC in der Sowjetunion 1921–1923","authors":"","doi":"10.1515/9783110675788-006","DOIUrl":"https://doi.org/10.1515/9783110675788-006","url":null,"abstract":"Im Sommer 1921 war Herbert Hoovers Geduld mit den Quäkern an ein Ende gelangt. Er schlugmit der Faust auf den Tisch und fluchte dabei wie ein Bierkutscher („like a trooper“). Seit einigen Wochen bereitete die ARA unter seiner Führung eine weitere große Hilfsaktion vor – diesmal in der noch jungen Sowjetunion. In den laufenden Verhandlungen mit den Bolschewiki hatte er zuvor immer wieder einen Satz zu hören bekommen: „Why don’t you work like the Quakers do?“1 Für Hoover brachte dies das Fass zum Überlaufen. Nun stellte er Wilbur Thomas ein Ultimatum: Das AFSC würde in Russland Teil einer ARA-Hilfsaktion werden – zu seinen Bedingungen und unter seiner Führung – oder er werde dafür Sorge tragen, dass die Quäker dort keinen Fuß auf den Boden bekämen. Wenngleich die Episode sich am Ende als Sturm im Wasserglas entpuppen sollte: Sie wirft ein Schlaglicht auf den politisch hochbrisanten Charakter der anlaufenden Hilfsaktion in der jungen Sowjetunion,2 bei der sich das AFSC ab Sommer 1921 erneut an der Seite der ARA wiederfand.3 Der Anlass war eine Hungersnot, die ein Land traf, das von sieben Jahren Krieg, Flucht und Bürgerkrieg bereits ausgezehrt war, als ab Ende Mai die Hauptgetreideanbaugebiete Russlands, zwischen Wolga und Don, von einer Dürre heimgesucht wurden. Nach Schätzungen waren bis zu 20 Millionen Menschen unmittelbar vom Hungertod","PeriodicalId":246013,"journal":{"name":"The Politics of Service","volume":"101 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2021-11-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"117272350","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2021-11-22DOI: 10.1515/9783110675788-003
Ersten Weltkrieg, Die Quäker
1902 sprach Rufus Jones in Birmingham vor einer Versammlung von 300 britischen Quäkern über „Die Aufgabe unseres Zeitalters“ („The Task of our Age“). Jones, einer der bedeutendsten theologischen Erneuerer des Quäkertums in den USA und ein kommender Protagonist der Quäkerhilfe nach dem Ersten Weltkrieg, erläuterte seiner Zuhörerschaft, warum eine Religion nur dann Daseinsberechtigung besitze, wenn sie der Welt und ihren Problemen voll zugewandt sei. Angesichts der Not und des Elends könne sich niemand einen Anhänger Jesu Christi nennen, „if he stops at the salvation of his own soul“. Eine solche Haltung verwandele Religion „into a fine kind of selfishness“. Die Macht der Religion, so folgerte Jones, „is measured not by what God has done for us, as by what God is doing through us“.1 In Jones’ Worten spiegelte sich sowohl Umbruch als auch Kontinuität wider: Seine Zuhörerschaft verstand, dass seine Worte als Aufruf zur Öffnung gemeint waren, gerichtet an eine in ihrer Mehrheit immer noch stark nach innen gekehrte Glaubensgemeinschaft. Zur selben Zeit wollte Jones das kollektive Gedächtnis seiner Zuhörer aktivieren: an eine zu den Anfängen des Quäkertums zurückreichende „humanitäre“ Tradition,wie sie sich etwa in der Anti-Sklaverei-Bewegung und der Beteiligung an den verschiedensten Reformanliegen manifestiert hatte. Jones sprach über eine Glaubensgemeinschaft, die während ihrer zum Zeitpunkt seiner Rede rund 300 Jahre alten Geschichte viele Häutungen durchlaufen hatte. Die Religious Society of Friends war in ihren Ursprüngen eine der vielen puritanischen Sekten von britischen Dissenters gewesen, die sich im 17. Jahrhundert unter der Führung von George Fox (1624–1691) von der Church of England abspalteten. Während der Ära der Verfolgungen, die über weite Teile des 17. Jahrhunderts andauerte, floh eine größere Gruppe in die Neue Welt. Unter denen, welche die Heimat verließen,war auch der wohlhabende KaufmannWilliam Penn (1644– 1718), der in der nach ihm benannten Kolonie Pennsylvania eine Art Quäker-Utopia gründete, mit dem Zentrum in Philadelphia, der „Stadt der brü-
{"title":"1 „Lay upon us the burden of the world’s suffering“. Quäkerhumanitarismus vor dem Ersten Weltkrieg","authors":"Ersten Weltkrieg, Die Quäker","doi":"10.1515/9783110675788-003","DOIUrl":"https://doi.org/10.1515/9783110675788-003","url":null,"abstract":"1902 sprach Rufus Jones in Birmingham vor einer Versammlung von 300 britischen Quäkern über „Die Aufgabe unseres Zeitalters“ („The Task of our Age“). Jones, einer der bedeutendsten theologischen Erneuerer des Quäkertums in den USA und ein kommender Protagonist der Quäkerhilfe nach dem Ersten Weltkrieg, erläuterte seiner Zuhörerschaft, warum eine Religion nur dann Daseinsberechtigung besitze, wenn sie der Welt und ihren Problemen voll zugewandt sei. Angesichts der Not und des Elends könne sich niemand einen Anhänger Jesu Christi nennen, „if he stops at the salvation of his own soul“. Eine solche Haltung verwandele Religion „into a fine kind of selfishness“. Die Macht der Religion, so folgerte Jones, „is measured not by what God has done for us, as by what God is doing through us“.1 In Jones’ Worten spiegelte sich sowohl Umbruch als auch Kontinuität wider: Seine Zuhörerschaft verstand, dass seine Worte als Aufruf zur Öffnung gemeint waren, gerichtet an eine in ihrer Mehrheit immer noch stark nach innen gekehrte Glaubensgemeinschaft. Zur selben Zeit wollte Jones das kollektive Gedächtnis seiner Zuhörer aktivieren: an eine zu den Anfängen des Quäkertums zurückreichende „humanitäre“ Tradition,wie sie sich etwa in der Anti-Sklaverei-Bewegung und der Beteiligung an den verschiedensten Reformanliegen manifestiert hatte. Jones sprach über eine Glaubensgemeinschaft, die während ihrer zum Zeitpunkt seiner Rede rund 300 Jahre alten Geschichte viele Häutungen durchlaufen hatte. Die Religious Society of Friends war in ihren Ursprüngen eine der vielen puritanischen Sekten von britischen Dissenters gewesen, die sich im 17. Jahrhundert unter der Führung von George Fox (1624–1691) von der Church of England abspalteten. Während der Ära der Verfolgungen, die über weite Teile des 17. Jahrhunderts andauerte, floh eine größere Gruppe in die Neue Welt. Unter denen, welche die Heimat verließen,war auch der wohlhabende KaufmannWilliam Penn (1644– 1718), der in der nach ihm benannten Kolonie Pennsylvania eine Art Quäker-Utopia gründete, mit dem Zentrum in Philadelphia, der „Stadt der brü-","PeriodicalId":246013,"journal":{"name":"The Politics of Service","volume":"23 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2021-11-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"121902185","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2021-11-22DOI: 10.1515/9783110675788-002
„Was vergangen, kehrt nicht wieder, aber ging es leuchtend nieder, leuchtet’s lange noch zurück.“ Professor Adalbert Czerny bemühte den deutschen Romantikdichter Karl August Förster, als er 1922 den Quäkern des US-amerikanischen American Friends Service Committee (AFSC) für ihre soeben zu Ende gegangene Kinderspeisungsaktion in Deutschland dankte. Die Quäker, so Czerny, Ordinarius für Kinderund Jugendheilkunde an der Berliner Charité und einer der Begründer der modernen Pädiatrie, hätten ein Werk in Gang gebracht, das „an Geschlossenheit und Ehrlichkeit alle anderen Versuche, dem deutschen Volke in seiner Not zu helfen“, übertroffen habe und das darüber hinaus, was seine „wissenschaftlichen Methoden“ betraf, als leuchtendes Vorbild in Erinnerung bleiben werde.1 Czernys Lob war kein Einzelfall im Europa der Zwischenkriegsjahre. So wie er kamen Millionen von Menschen unter anderem in Frankreich, Deutschland, Russland, Österreich und Spanien in Berührung mit den Hilfsaktionen des 1917 gegründeten AFSC, der zentralen Hilfsorganisation der US-amerikanischen Quäker,2 die gleichermaßen als Vertreterin eines universellen religiös-humanitären Impetus sowie amerikanischer Großzügigkeit und Fortschrittlichkeit auftrat. An vielen Orten leuchteten diese Aktivitäten in der Tat noch lange nach, etwa im weitverbreiteten Gebrauch des Begriffs „Quäkerspeisungen“ in Deutschland. Der historische Rückblick lässt vor allem ein Erstaunen lebendig werden, das schon die Zeitgenossen erfüllte: Es ist das Erstaunen über die scheinbare Omnipräsenz und den Einfluss dieser kleinen protestantischen Sekte, die weltweit zu Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr als etwa 250.000 Mitglieder hatte.
{"title":"Das American Friends Service Committee. Humanitäre Identität und die Politics of Service","authors":"","doi":"10.1515/9783110675788-002","DOIUrl":"https://doi.org/10.1515/9783110675788-002","url":null,"abstract":"„Was vergangen, kehrt nicht wieder, aber ging es leuchtend nieder, leuchtet’s lange noch zurück.“ Professor Adalbert Czerny bemühte den deutschen Romantikdichter Karl August Förster, als er 1922 den Quäkern des US-amerikanischen American Friends Service Committee (AFSC) für ihre soeben zu Ende gegangene Kinderspeisungsaktion in Deutschland dankte. Die Quäker, so Czerny, Ordinarius für Kinderund Jugendheilkunde an der Berliner Charité und einer der Begründer der modernen Pädiatrie, hätten ein Werk in Gang gebracht, das „an Geschlossenheit und Ehrlichkeit alle anderen Versuche, dem deutschen Volke in seiner Not zu helfen“, übertroffen habe und das darüber hinaus, was seine „wissenschaftlichen Methoden“ betraf, als leuchtendes Vorbild in Erinnerung bleiben werde.1 Czernys Lob war kein Einzelfall im Europa der Zwischenkriegsjahre. So wie er kamen Millionen von Menschen unter anderem in Frankreich, Deutschland, Russland, Österreich und Spanien in Berührung mit den Hilfsaktionen des 1917 gegründeten AFSC, der zentralen Hilfsorganisation der US-amerikanischen Quäker,2 die gleichermaßen als Vertreterin eines universellen religiös-humanitären Impetus sowie amerikanischer Großzügigkeit und Fortschrittlichkeit auftrat. An vielen Orten leuchteten diese Aktivitäten in der Tat noch lange nach, etwa im weitverbreiteten Gebrauch des Begriffs „Quäkerspeisungen“ in Deutschland. Der historische Rückblick lässt vor allem ein Erstaunen lebendig werden, das schon die Zeitgenossen erfüllte: Es ist das Erstaunen über die scheinbare Omnipräsenz und den Einfluss dieser kleinen protestantischen Sekte, die weltweit zu Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr als etwa 250.000 Mitglieder hatte.","PeriodicalId":246013,"journal":{"name":"The Politics of Service","volume":"114 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2021-11-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"133600853","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2021-11-22DOI: 10.1515/9783110675788-007
An einem Tag im Juni 1930 stand Clarence Pickett an der Reling des Transatlantikliners Europa und betrachtete sinnierend die im Nebel vorbeiziehende Küste Long Islands. An diesem Tag kehrte der seit einem Jahr amtierende Generalsekretär des AFSC von einer mehr als zweimonatigen Reise zurück, die ihm einen ersten unmittelbaren Eindruck von der auswärtigen Arbeit der Quäker hatte verschaffen sollen. Er hatte in Europa eine Welt im Aufbruch erlebt und in der Mitte von allem „our little chain of Centers“, die versuchten diese Welt auf eine bessere Bahn zu bringen. Seine Aussicht war optimistisch:Was er gesehen hatte, machte ihn zuversichtlich, dass die begonnene Arbeit, so sie weitergeführt würde einen gewichtigen Beitrag leisten könnte „not only in bringing peace but new meaning of the life to the world“.1 Picketts Zuversicht mochte manchen überraschen angesichts der Tatsache, dass er in ein Land zurückkehrte, das seit Ende des Vorjahres im Begriff war, tief in die Great Depression zu gleiten und den Blick mehr denn je nach innen richtete. Die großen Hilfsoperationen des AFSC lagen zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahre zurück, ohne dass ihnen weitere Einsätze gefolgt wären. Und mehr als das: In den vorangegangenen Jahren hatten Wilbur Thomas und sein Nachfolger Pickett einen tiefgreifendenWandel des Komitees moderiert, in dem dieses sich von einer Institution des foreign relief zu einer Organisation entwickelte, die den home service, sprich: die Arbeit in den USA selbst als sein Haupttätigkeitsfeld zu betrachten begann. Wie zu zeigen sein wird, waren außen und innen, foreign und domestic freilich selten klar voneinander zu trennen, sondern bedingten und beeinflussten sich auf vielfache Weise wechselseitig. In der Diskussion um den Sinn und Zweck des AFSC, um seinen Auftrag und sein ethisches Fundament, um seine Position in derWelt und seine Haltung zu Regierung und Staat sowie um das (richtige) Verhältnis zwischen relief undmessage work waren die Erfahrungen der auswärtigen Hilfseinsätze und des heimischen service untrennbar miteinander verwoben. Dabei stellte sich die 1926 in einem Memorandum aufgeworfene Frage „(H)as the Service Committee a vital message, an effectivemethod and an ultimate motive?“ immer wieder aufs Neue.2
{"title":"5 What’s the Message? Das AFSC zwischen Home und Foreign Service 1919–1935","authors":"","doi":"10.1515/9783110675788-007","DOIUrl":"https://doi.org/10.1515/9783110675788-007","url":null,"abstract":"An einem Tag im Juni 1930 stand Clarence Pickett an der Reling des Transatlantikliners Europa und betrachtete sinnierend die im Nebel vorbeiziehende Küste Long Islands. An diesem Tag kehrte der seit einem Jahr amtierende Generalsekretär des AFSC von einer mehr als zweimonatigen Reise zurück, die ihm einen ersten unmittelbaren Eindruck von der auswärtigen Arbeit der Quäker hatte verschaffen sollen. Er hatte in Europa eine Welt im Aufbruch erlebt und in der Mitte von allem „our little chain of Centers“, die versuchten diese Welt auf eine bessere Bahn zu bringen. Seine Aussicht war optimistisch:Was er gesehen hatte, machte ihn zuversichtlich, dass die begonnene Arbeit, so sie weitergeführt würde einen gewichtigen Beitrag leisten könnte „not only in bringing peace but new meaning of the life to the world“.1 Picketts Zuversicht mochte manchen überraschen angesichts der Tatsache, dass er in ein Land zurückkehrte, das seit Ende des Vorjahres im Begriff war, tief in die Great Depression zu gleiten und den Blick mehr denn je nach innen richtete. Die großen Hilfsoperationen des AFSC lagen zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahre zurück, ohne dass ihnen weitere Einsätze gefolgt wären. Und mehr als das: In den vorangegangenen Jahren hatten Wilbur Thomas und sein Nachfolger Pickett einen tiefgreifendenWandel des Komitees moderiert, in dem dieses sich von einer Institution des foreign relief zu einer Organisation entwickelte, die den home service, sprich: die Arbeit in den USA selbst als sein Haupttätigkeitsfeld zu betrachten begann. Wie zu zeigen sein wird, waren außen und innen, foreign und domestic freilich selten klar voneinander zu trennen, sondern bedingten und beeinflussten sich auf vielfache Weise wechselseitig. In der Diskussion um den Sinn und Zweck des AFSC, um seinen Auftrag und sein ethisches Fundament, um seine Position in derWelt und seine Haltung zu Regierung und Staat sowie um das (richtige) Verhältnis zwischen relief undmessage work waren die Erfahrungen der auswärtigen Hilfseinsätze und des heimischen service untrennbar miteinander verwoben. Dabei stellte sich die 1926 in einem Memorandum aufgeworfene Frage „(H)as the Service Committee a vital message, an effectivemethod and an ultimate motive?“ immer wieder aufs Neue.2","PeriodicalId":246013,"journal":{"name":"The Politics of Service","volume":"49 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2021-11-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"116716089","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2021-11-22DOI: 10.1515/9783110675788-005
Im November 1919 waren sich die Mitglieder des AFSC sicher: Es war eine erhabene Aufgabe und ein Werk von geschichtlichem Ausmaß, das die Quäker am Ausgangspunkt ihrer Speisungsaktion für hungernde deutsche Kinder erwartete: Ein neues Deutschland bauen zu helfen, ein Deutschland, welches das alte „Evangelium von Blut und Eisen“ (the gospel of blood and iron) hinter sich ließ, sei, so hieß es in einem Memorandum, in seiner Tragweite allenfalls mit den Pionierleistungen der Gründungsväter zu vergleichen. „By word and deed“ das Überleben der neuen Generation in Deutschland zu sichern und Einfluss auf die deutsche Gesellschaft „at its most impressionable period“ auszuüben, sei eine Gelegenheit, die der Gründung Pennsylvanias gleichkomme.1 Rund drei Jahre später konnten sich die Helferinnen und Helfer des AFSC bestätigt fühlen, als sie im Reichsernährungsministerium in Berlin den Danksagungen lauschten, welche die deutsche Regierung und der Reichspräsident Friedrich Ebert ihnen durch einen Vertreter übermitteln ließen. Die Arbeit der Quäker „for the world and especially for Germany“, so hob der Geheime Staatsrat Bose an, sei ein „monument in history of all peoples“. Die Botschaft der Freundschaft und des guten Willens, von welchem es getragen worden sei, „can never be lost“. Viele weitere stimmten zur selben Zeit in den Chor ein: Worte der Dankbarkeit erreichten die „lieben Quäker aus dem fernen Amerika“ aus den Behörden, von Vertretern der Ärzteund der Lehrerschaft, von Kirchenvertretern, den Repräsentanten der politischen Parteien sowie nicht zuletzt von Tausenden von Kindern aus allen Teilen Deutschlands, die in den Genuss der „Quäkerspeisung“ gekommen waren. Zu diesem Zeitpunkt, an dem das amerikanische Kinderspeisungsprogramm für Deutschland seinem Ende zuging, blickte man von Philadelphia aus auf Jahre zurück, in denen das AFSC an der Spitze einer der bis dato größten Hilfsaktionen aller Zeiten gestanden hatte. Von Januar 1920 bis in den Sommer 1922 hatten dessen Vertreter die Aufsicht über die tägliche Verteilung von warmen Mahlzeiten an bis zu eine Million Kinder im ganzen Deutschen Reich innegehabt. Durch die Quäkerspeisung wurde das AFSC zum Gesicht einer US-amerikanischen Hilfsaktion, die Sieger und Besiegte des Ersten Weltkriegs miteinander in Verbindung
{"title":"3 Ein neues Pennsylvania. Die Quäkerspeisung in Deutschland 1919–1923","authors":"","doi":"10.1515/9783110675788-005","DOIUrl":"https://doi.org/10.1515/9783110675788-005","url":null,"abstract":"Im November 1919 waren sich die Mitglieder des AFSC sicher: Es war eine erhabene Aufgabe und ein Werk von geschichtlichem Ausmaß, das die Quäker am Ausgangspunkt ihrer Speisungsaktion für hungernde deutsche Kinder erwartete: Ein neues Deutschland bauen zu helfen, ein Deutschland, welches das alte „Evangelium von Blut und Eisen“ (the gospel of blood and iron) hinter sich ließ, sei, so hieß es in einem Memorandum, in seiner Tragweite allenfalls mit den Pionierleistungen der Gründungsväter zu vergleichen. „By word and deed“ das Überleben der neuen Generation in Deutschland zu sichern und Einfluss auf die deutsche Gesellschaft „at its most impressionable period“ auszuüben, sei eine Gelegenheit, die der Gründung Pennsylvanias gleichkomme.1 Rund drei Jahre später konnten sich die Helferinnen und Helfer des AFSC bestätigt fühlen, als sie im Reichsernährungsministerium in Berlin den Danksagungen lauschten, welche die deutsche Regierung und der Reichspräsident Friedrich Ebert ihnen durch einen Vertreter übermitteln ließen. Die Arbeit der Quäker „for the world and especially for Germany“, so hob der Geheime Staatsrat Bose an, sei ein „monument in history of all peoples“. Die Botschaft der Freundschaft und des guten Willens, von welchem es getragen worden sei, „can never be lost“. Viele weitere stimmten zur selben Zeit in den Chor ein: Worte der Dankbarkeit erreichten die „lieben Quäker aus dem fernen Amerika“ aus den Behörden, von Vertretern der Ärzteund der Lehrerschaft, von Kirchenvertretern, den Repräsentanten der politischen Parteien sowie nicht zuletzt von Tausenden von Kindern aus allen Teilen Deutschlands, die in den Genuss der „Quäkerspeisung“ gekommen waren. Zu diesem Zeitpunkt, an dem das amerikanische Kinderspeisungsprogramm für Deutschland seinem Ende zuging, blickte man von Philadelphia aus auf Jahre zurück, in denen das AFSC an der Spitze einer der bis dato größten Hilfsaktionen aller Zeiten gestanden hatte. Von Januar 1920 bis in den Sommer 1922 hatten dessen Vertreter die Aufsicht über die tägliche Verteilung von warmen Mahlzeiten an bis zu eine Million Kinder im ganzen Deutschen Reich innegehabt. Durch die Quäkerspeisung wurde das AFSC zum Gesicht einer US-amerikanischen Hilfsaktion, die Sieger und Besiegte des Ersten Weltkriegs miteinander in Verbindung","PeriodicalId":246013,"journal":{"name":"The Politics of Service","volume":"103 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2021-11-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"116671559","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2021-11-22DOI: 10.1515/9783110675788-008
Nazi-Deutschland, Rufus Jones
Rufus Jones war sich sicher: Er hatte die Herzen der Gestapo-Männer berührt. In einem 1947 veröffentlichten Artikel für den American Friend blickte er auf eine Reise zurück, die ihn neun Jahre zuvor, wenige Wochen nach den Novemberpogromen in Nazi-Deutschland, bis ins Reichssicherheitshauptamt, die Zentrale der Geheimpolizei, und mithin mitten ins Herz des Terrors geführt hatte. Als Teil einer kleinen AFSC-Delegation war er nach Deutschland gereist, um die deutsche Regierung vom Plan einer Quäkerhilfsaktion zugunsten der verfolgten jüdischen Bevölkerung zu überzeugen. Man sei gekommen, so hieß es in dem Memorandum, das man an Gestapo-Chef Reinhard Heydrich richtete, nicht um zu kritisieren, zu verurteilen oder „to push ourselves in“, sondern um zu „inquire in the most friendly manner whether there is anything we can do to promote life and human welfare and to relieve suffering“. Im Rückblick verstand Jones gut, dass die mündlichen Zusicherungen, die er bei diesem Treffen erhielt, wertlos waren und dass das Treffen im Kern ohne Erfolg geblieben war. Er wusste, was in den folgenden Jahren in Europa geschehen war und welche Rolle die Männer, mit denen er in jenem Dezember gesprochen hatte, dabei gespielt hatten, und er wusste, dass einige seiner Gesprächspartner aus den Reihen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, darunter die Vorsitzende der Ausreiseabteilung, Cora Berliner, in den Vernichtungslagern ihr Leben verloren hatten. Und dennoch hoffte und glaubte Jones, bei seinen Gestapo-Gesprächspartnern etwas Positives ausgelöst zu haben:
鲁弗斯·琼斯很有把握:他触动了盖世太保的人的心。在1947年发表的文章《美国朋友看他旅行回来,他九年前,几周后在纳粹德国Novemberpogromen到Reichssicherheitshauptamt中心的倒台,因此将直击恐怖曾领.他是美国民主力量协会一个小代表团的一部分,他前往德国,目的是说服德国政府该计划参与援助被迫害的犹太人。到了,就假设这备忘录指出Gestapo-Chef温德斯知道,不是批评、谴责或“to push ourselves”中,而是以inquire》的苹果汁不解手下whether这里有什么,可以全部to promote生命与人类基金and to relieve suffering . "回头看来,琼斯很清楚这次会议上他所得到的口头保证是一纸空文,而且会面几乎完全没有成功。他知道了随之而来的欧洲起到什么作用,那些与他扮演了那年12月话后,他知道,他的一些对话者当中Reichsvereinigung德国的犹太人,包括Ausreiseabteilung主席科拉已经失去了柏林,在屠杀集中营牺牲.然而琼斯希望并相信,他成功地打动了盖世太保的谈判人士:
{"title":"6 Der „Quakerly approach“ an seinen Grenzen – Das AFSC und Nazi-Deutschland 1933–1939","authors":"Nazi-Deutschland, Rufus Jones","doi":"10.1515/9783110675788-008","DOIUrl":"https://doi.org/10.1515/9783110675788-008","url":null,"abstract":"Rufus Jones war sich sicher: Er hatte die Herzen der Gestapo-Männer berührt. In einem 1947 veröffentlichten Artikel für den American Friend blickte er auf eine Reise zurück, die ihn neun Jahre zuvor, wenige Wochen nach den Novemberpogromen in Nazi-Deutschland, bis ins Reichssicherheitshauptamt, die Zentrale der Geheimpolizei, und mithin mitten ins Herz des Terrors geführt hatte. Als Teil einer kleinen AFSC-Delegation war er nach Deutschland gereist, um die deutsche Regierung vom Plan einer Quäkerhilfsaktion zugunsten der verfolgten jüdischen Bevölkerung zu überzeugen. Man sei gekommen, so hieß es in dem Memorandum, das man an Gestapo-Chef Reinhard Heydrich richtete, nicht um zu kritisieren, zu verurteilen oder „to push ourselves in“, sondern um zu „inquire in the most friendly manner whether there is anything we can do to promote life and human welfare and to relieve suffering“. Im Rückblick verstand Jones gut, dass die mündlichen Zusicherungen, die er bei diesem Treffen erhielt, wertlos waren und dass das Treffen im Kern ohne Erfolg geblieben war. Er wusste, was in den folgenden Jahren in Europa geschehen war und welche Rolle die Männer, mit denen er in jenem Dezember gesprochen hatte, dabei gespielt hatten, und er wusste, dass einige seiner Gesprächspartner aus den Reihen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, darunter die Vorsitzende der Ausreiseabteilung, Cora Berliner, in den Vernichtungslagern ihr Leben verloren hatten. Und dennoch hoffte und glaubte Jones, bei seinen Gestapo-Gesprächspartnern etwas Positives ausgelöst zu haben:","PeriodicalId":246013,"journal":{"name":"The Politics of Service","volume":"29 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2021-11-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"134406530","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2021-11-22DOI: 10.1515/9783110675788-010
{"title":"8 Everyone’s Friend? Das AFSC, der Zweite Weltkrieg und die Spannungen der humanitären Hilfe nach 25 Jahren","authors":"","doi":"10.1515/9783110675788-010","DOIUrl":"https://doi.org/10.1515/9783110675788-010","url":null,"abstract":"","PeriodicalId":246013,"journal":{"name":"The Politics of Service","volume":"78 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2021-11-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"134643779","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2021-11-22DOI: 10.1515/9783110675788-009
{"title":"7 True impartiality? Das AFSC im Spanischen Bürgerkrieg","authors":"","doi":"10.1515/9783110675788-009","DOIUrl":"https://doi.org/10.1515/9783110675788-009","url":null,"abstract":"","PeriodicalId":246013,"journal":{"name":"The Politics of Service","volume":"12 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2021-11-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"133644060","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}