Dieser Aufsatz untersucht einige Zusammenhänge zwischen der Zuschreibung von Intuitionen und intuitivem Wissen einerseits und epistemischen Ungerechtigkeiten andererseits. Der Aufsatz gliedert sich in zwei Teile. Ausgangspunkt ist im ersten Teil Frickers Theorie der epistemischen Ungerechtigkeit. Ich zeige auf, dass dem Verweis auf die „weibliche Intuition“ eine Schlüsselrolle in der Etablierung der Konzepte der testimonialen und hermeneutischen Ungerechtigkeit zukommt, da in ihm systematische Vorurteile über gender-codierte Denkmuster und Verhaltensweisen kulminieren, die paradigmatisch für strukturelle epistemische Ungerechtigkeiten sind. Allerdings gilt es zu betonen, dass der Begriff der Intuition nicht nur im Sinne einer epistemischen Abwertung, sondern auch im Sinne einer Aufwertung höchst problematisch ist. Hierdurch wird eine Schwachstelle in Frickers Theorie deutlich, da diese durch die Annahme einer grundlegenden Asymmetrie zwischen Glaubwürdigkeitsdefiziten und -exzessen ihre Perspektive auf epistemische Ungerechtigkeiten zu weit einschränkt. Im zweiten Teil werde ich anhand zweier ausgewählter metaphilosophischer Debatten einige Verbindungen zwischen dem Intuitionsbegriff in der analytischen Philosophie und Fragen nach epistemischen Ungerechtigkeiten aufdecken. Hierbei werde ich in Bezug auf die Debatte um die sog. Expertise-Verteidigung dafür argumentieren, dass diese nicht auf epistemische Fragestellungen begrenzt werden kann, sondern auch auf eine ethische Dimension verweist. Mit Blick auf die Debatte um die Gender-Lücke in der akademischen Philosophie werde ich aufzeigen dass hier zwar epistemische und ethische Perspektiven zusammengeführt werden, dass bestimmte Argumentationsmuster aber so angelegt sind, dass sie sich implizit an eine problematische, dualistische Vorstellung von Intuition binden.
{"title":"Intuition, intuitives Wissen und epistemische Ungerechtigkeit","authors":"E. Jung","doi":"10.22613/zfpp/9.1.7","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.7","url":null,"abstract":"Dieser Aufsatz untersucht einige Zusammenhänge zwischen der Zuschreibung von Intuitionen und intuitivem Wissen einerseits und epistemischen Ungerechtigkeiten andererseits. Der Aufsatz gliedert sich in zwei Teile. Ausgangspunkt ist im ersten Teil Frickers Theorie der epistemischen Ungerechtigkeit. Ich zeige auf, dass dem Verweis auf die „weibliche Intuition“ eine Schlüsselrolle in der Etablierung der Konzepte der testimonialen und hermeneutischen Ungerechtigkeit zukommt, da in ihm systematische Vorurteile über gender-codierte Denkmuster und Verhaltensweisen kulminieren, die paradigmatisch für strukturelle epistemische Ungerechtigkeiten sind. Allerdings gilt es zu betonen, dass der Begriff der Intuition nicht nur im Sinne einer epistemischen Abwertung, sondern auch im Sinne einer Aufwertung höchst problematisch ist. Hierdurch wird eine Schwachstelle in Frickers Theorie deutlich, da diese durch die Annahme einer grundlegenden Asymmetrie zwischen Glaubwürdigkeitsdefiziten und -exzessen ihre Perspektive auf epistemische Ungerechtigkeiten zu weit einschränkt. Im zweiten Teil werde ich anhand zweier ausgewählter metaphilosophischer Debatten einige Verbindungen zwischen dem Intuitionsbegriff in der analytischen Philosophie und Fragen nach epistemischen Ungerechtigkeiten aufdecken. Hierbei werde ich in Bezug auf die Debatte um die sog. Expertise-Verteidigung dafür argumentieren, dass diese nicht auf epistemische Fragestellungen begrenzt werden kann, sondern auch auf eine ethische Dimension verweist. Mit Blick auf die Debatte um die Gender-Lücke in der akademischen Philosophie werde ich aufzeigen dass hier zwar epistemische und ethische Perspektiven zusammengeführt werden, dass bestimmte Argumentationsmuster aber so angelegt sind, dass sie sich implizit an eine problematische, dualistische Vorstellung von Intuition binden.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"48416055","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Mithilfe der Verfahren des Embryo-Splittings werden unter Laborbedingungen aus einem Embryo mehrere, genetisch identische Embryonen gewonnen. Gegenwärtig wird in Fachbeiträgen debattiert, die in der Nutztierzucht etablierten Verfahren auf die humane Reproduktionsmedizin auszuweiten. Eine solche Anwendung wird derzeit flächendeckend als reproduktives Klonen verstanden und ist in allen Staaten per Gesetz oder Richtlinie untersagt. Bei der Prüfung ausgewählter Einwände gegen die prinzipielle Zulässigkeit einer Anwendung des Embryo-Splittings als assistierter Reproduktionstechnologie zeigt sich, dass sich die Einwände gegen das reproduktive Klonen nicht auf den Fall des Splittings übertragen lassen. Insbesondere liegt dem Splitting nicht die ‚narzisstische‘ Replikation des Genoms einer bereits lebenden Person zugrunde. Die Gleichsetzung mit anderen Formen des reproduktiven Klonens verdeckt darüber hinaus eigene regulative Fragen zum Umgang mit gesplitteten Embryonen, die hinsichtlich einer potenziellen klinischen Anwendung adressiert werden müssen. Schließlich wird deutlich, dass die Maßgabe, Embryonen zu schützen, bisher einseitig als ausreichender Grund für eine restriktive Regulierung des Splittings herangezogen wurde. Diese Argumentation erweist sich in einer pluralistischen Gesellschaft jedoch als unzureichend.
{"title":"Embryo-Splitting und reproduktives Klonen","authors":"Aurélie Halsband","doi":"10.22613/zfpp/9.1.1","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.1","url":null,"abstract":"Mithilfe der Verfahren des Embryo-Splittings werden unter Laborbedingungen aus einem Embryo mehrere, genetisch identische Embryonen gewonnen. Gegenwärtig wird in Fachbeiträgen debattiert, die in der Nutztierzucht etablierten Verfahren auf die humane Reproduktionsmedizin auszuweiten. Eine solche Anwendung wird derzeit flächendeckend als reproduktives Klonen verstanden und ist in allen Staaten per Gesetz oder Richtlinie untersagt. Bei der Prüfung ausgewählter Einwände gegen die prinzipielle Zulässigkeit einer Anwendung des Embryo-Splittings als assistierter Reproduktionstechnologie zeigt sich, dass sich die Einwände gegen das reproduktive Klonen nicht auf den Fall des Splittings übertragen lassen. Insbesondere liegt dem Splitting nicht die ‚narzisstische‘ Replikation des Genoms einer bereits lebenden Person zugrunde. Die Gleichsetzung mit anderen Formen des reproduktiven Klonens verdeckt darüber hinaus eigene regulative Fragen zum Umgang mit gesplitteten Embryonen, die hinsichtlich einer potenziellen klinischen Anwendung adressiert werden müssen. Schließlich wird deutlich, dass die Maßgabe, Embryonen zu schützen, bisher einseitig als ausreichender Grund für eine restriktive Regulierung des Splittings herangezogen wurde. Diese Argumentation erweist sich in einer pluralistischen Gesellschaft jedoch als unzureichend.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"47759961","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Dieser Beitrag untersucht die Frage, ob und wie der Liberalismus mit der situierten Epistemologie der Ungerechtigkeit umgehen kann. Diese Frage stellt sich im Zuge der liberalen Annäherung an Ungerechtigkeitskonzepte beispielsweise durch die nicht-ideale Theorie sowie die Rezeption Judith Shklars, und ist durch eine Diskrepanz liberaler Theoriebildung motiviert: einerseits steht das konstitutive normative Interesse des Liberalismus an Ungerechtigkeit; andererseits steht die weitgehend auf Abstraktion basierende Methodologie des Liberalismus, die spezifisches Wissen über Ungerechtigkeit verunmöglicht. Insbesondere in Fällen struktureller Ungerechtigkeit gilt die soziale Identität von Akteur:innen als relevantes Merkmal, von der aber qua partikularer Eigenschaft abstrahiert wird. Gegen diese Methodologie der Abstraktion spricht jedoch insbesondere die These der feministischen Standpunkttheorie, der zufolge Wissen sozial situiert sei und Mitglieder sozial marginalisierter Gruppen privilegierten Zugang zu Wissen über Ungerechtigkeit haben können. Dieses Wissen besitzt, so meine These, für den Liberalismus normative Relevanz. Ich werde in diesem Beitrag am Beispiel von Judith Shklars Liberalismus zeigen, dass die Integration situierten Wissens über Ungerechtigkeit in konfliktive Varianten liberaler Theorien konzeptuell möglich ist. Nach einer Übersicht über die soziale Variante feministischer Standpunkttheorie, die sich auf die Epistemologie der Ungerechtigkeit fokussiert, argumentiere ich für die grundsätzliche Vereinbarkeit des Liberalismus mit der These der sozialen Situiertheit von Wissen in normativer und methodologischer Hinsicht. Ich zeige erstens, dass der normative Individualismus, auf den jede liberale Theorie definitorisch festgelegt ist, auch der sozialen Standpunkttheorie zugrunde liegt, wie ich am Konzept epistemischer Ungerechtigkeit zeige. Zweitens differenziere ich in methodologischer Hinsicht zwischen idealer und nicht-idealer liberaler Theorie. Ich zeige, dass die ideale liberale Theorie bei Rawls das für strukturelle Ungerechtigkeit relevante Merkmal der sozialen Identität nicht konzeptualisieren kann, dass jedoch Tommie Shelbys nicht-ideale liberale Theorie eine der sozialen Standpunkttheorie analoge Argumentation verfolgt, da sie Erfahrungen in Abhängigkeit von sozialer Identität zum Ausgangpunkt der Frage nach sozialer Gerechtigkeit macht. Drittens argumentiere ich, dass Judith Shklars konfliktiver Liberalismus besonders geeignet ist, die situierte Epistemologie der Ungerechtigkeit zu integrieren, da sie die Schnittstelle der beiden Ansätze auf die Ebene der liberalen Gesellschaft verlagert. Auf dieser kann das situierte Wissen über Ungerechtigkeit, das Mitglieder marginalisierter sozialer Gruppen haben, als Expert:innenwissen verarbeitet werden und so soziale und politische Reformen anstoßen.
本论文探述了自由主义是否以及如何与不公正的舞台学说相抗衡的问题。这一问题通过,例如不理想的理论和朱迪·施克拉斯的著作对不公平的概念往外追寻,其动机是自由理论的不对称:一方面,自由主义的规范利益对于不公平存在;另一方面,根据大体上基于抽象方法的自由主义,它阻碍了具体关于不公平的知识。特别是在结构性不公平的例子中,行为者的社会认同被视为内部的相关特征:内部是相关特征,但它却被抽象的性格属性抽象所抽象。然而,传统的抽象方法与女权主义定理是恰恰相反的。根据这一理论,社会地位是知识的主流,社会边缘化群体的成员有权利获得关于不公正的知识。我的论文宣称,这是对自由主义规范的认可。恰恰相反,我的文章《朱迪丝·肖尔斯的自由主义》揭示将由冲突形式的自由主义理论扭曲的不公正知识统一为概念是可能的。我对集中讨论不公正的表面学的社会版女权主义假设进行了研究,我认为自由主义与标准和方法上的社会经验的矛盾具有内在的相容性。我首先要说明的是,由任何自由主义理论界定的规范个人主义(institutional economics)假设的社会属性理论背后的原因是我证明了表皮不公正的概念。其次,我的方法是在思想和非理想主义理论之间区别。我理想的自由主义理论在罗尔斯的结构性不公正社会身份无法konzeptualisieren相关特征,但Shelbys tommy nicht-ideale自由派跟踪一个社会Standpunkttheorie模拟理论论据,因为他们的经验在依赖社会身份Ausgangpunkt问及“社会公正权力.第三,我认为朱迪思·舒尔茨(Judith Shklars)冲突自由主义最适合整合不公正的胚胎学,而这正是通过将这两种方式的融合到自由社会的层面来实现这一目标。在这里,边缘社会群体成员所拥有的不公平的知识可以看成一种象征,也就是内部知识被加工为推动社会及政治改革。
{"title":"Liberalismus und die situierte Epistemologie der Ungerechtigkeit","authors":"K. Kaufmann","doi":"10.22613/zfpp/9.1.8","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.8","url":null,"abstract":"Dieser Beitrag untersucht die Frage, ob und wie der Liberalismus mit der situierten Epistemologie der Ungerechtigkeit umgehen kann. Diese Frage stellt sich im Zuge der liberalen Annäherung an Ungerechtigkeitskonzepte beispielsweise durch die nicht-ideale Theorie sowie die Rezeption Judith Shklars, und ist durch eine Diskrepanz liberaler Theoriebildung motiviert: einerseits steht das konstitutive normative Interesse des Liberalismus an Ungerechtigkeit; andererseits steht die weitgehend auf Abstraktion basierende Methodologie des Liberalismus, die spezifisches Wissen über Ungerechtigkeit verunmöglicht. Insbesondere in Fällen struktureller Ungerechtigkeit gilt die soziale Identität von Akteur:innen als relevantes Merkmal, von der aber qua partikularer Eigenschaft abstrahiert wird. Gegen diese Methodologie der Abstraktion spricht jedoch insbesondere die These der feministischen Standpunkttheorie, der zufolge Wissen sozial situiert sei und Mitglieder sozial marginalisierter Gruppen privilegierten Zugang zu Wissen über Ungerechtigkeit haben können. Dieses Wissen besitzt, so meine These, für den Liberalismus normative Relevanz. Ich werde in diesem Beitrag am Beispiel von Judith Shklars Liberalismus zeigen, dass die Integration situierten Wissens über Ungerechtigkeit in konfliktive Varianten liberaler Theorien konzeptuell möglich ist. Nach einer Übersicht über die soziale Variante feministischer Standpunkttheorie, die sich auf die Epistemologie der Ungerechtigkeit fokussiert, argumentiere ich für die grundsätzliche Vereinbarkeit des Liberalismus mit der These der sozialen Situiertheit von Wissen in normativer und methodologischer Hinsicht. Ich zeige erstens, dass der normative Individualismus, auf den jede liberale Theorie definitorisch festgelegt ist, auch der sozialen Standpunkttheorie zugrunde liegt, wie ich am Konzept epistemischer Ungerechtigkeit zeige. Zweitens differenziere ich in methodologischer Hinsicht zwischen idealer und nicht-idealer liberaler Theorie. Ich zeige, dass die ideale liberale Theorie bei Rawls das für strukturelle Ungerechtigkeit relevante Merkmal der sozialen Identität nicht konzeptualisieren kann, dass jedoch Tommie Shelbys nicht-ideale liberale Theorie eine der sozialen Standpunkttheorie analoge Argumentation verfolgt, da sie Erfahrungen in Abhängigkeit von sozialer Identität zum Ausgangpunkt der Frage nach sozialer Gerechtigkeit macht. Drittens argumentiere ich, dass Judith Shklars konfliktiver Liberalismus besonders geeignet ist, die situierte Epistemologie der Ungerechtigkeit zu integrieren, da sie die Schnittstelle der beiden Ansätze auf die Ebene der liberalen Gesellschaft verlagert. Auf dieser kann das situierte Wissen über Ungerechtigkeit, das Mitglieder marginalisierter sozialer Gruppen haben, als Expert:innenwissen verarbeitet werden und so soziale und politische Reformen anstoßen.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"47322322","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Die Erkenntnis, dass Algorithmen diskriminieren, benachteiligen und ausschließen, ist mittlerweile weit verbreitet und anerkannt. Programme zur Verwendung im predictive policing, zur Berechnung von Rückfälligkeitswahrscheinlichkeiten bei Straftäter:innen oder zur automatischen Gesichtserkennung diskriminieren vor allem gegen nicht-Weiße Menschen. Im Zuge dieser Erkenntnis wird auch vereinzelt die Verbindung zu epistemischer Ungerechtigkeit hergestellt, wobei die meisten Beiträge die Verbindungen zwischen Algorithmen und epistemischer Ungerechtigkeit nicht im Detail analysieren. Dieser Artikel unternimmt einen Versuch, diese Lücke in der Literatur zu verkleinern. Dabei umreiße ich zunächst das Feld der Algorithmen, um so die Entitäten, die epistemisch ungerecht sein könnten, klar zu fassen und zu unterscheiden. Dann erläutere ich eine Auswahl von epistemischen Ungerechtigkeiten, die für die Analyse von ungerechten Algorithmen relevant sind. Schließlich führe ich epistemische Ungerechtigkeiten und Algorithmen zusammen und zeige anhand von drei Beispielen – automatische Geschlechtserkennung, Googles Suchmaschinen-Algorithmus, PredPol (predictive policing) – dass Algorithmen an testimonialer Ungerechtigkeit und hermeneutischer Ungerechtigkeit beteiligt sind. Sie tragen so zudem auf verschiedenen Ebenen zur Exklusion von marginalisierten Gruppen bei.
{"title":"Epistemische Ungerechtigkeiten in und durch Algorithmen – ein Überblick","authors":"Nadja El Kassar","doi":"10.22613/zfpp/9.1.11","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.11","url":null,"abstract":"Die Erkenntnis, dass Algorithmen diskriminieren, benachteiligen und ausschließen, ist mittlerweile weit verbreitet und anerkannt. Programme zur Verwendung im predictive policing, zur Berechnung von Rückfälligkeitswahrscheinlichkeiten bei Straftäter:innen oder zur automatischen Gesichtserkennung diskriminieren vor allem gegen nicht-Weiße Menschen. Im Zuge dieser Erkenntnis wird auch vereinzelt die Verbindung zu epistemischer Ungerechtigkeit hergestellt, wobei die meisten Beiträge die Verbindungen zwischen Algorithmen und epistemischer Ungerechtigkeit nicht im Detail analysieren. Dieser Artikel unternimmt einen Versuch, diese Lücke in der Literatur zu verkleinern. Dabei umreiße ich zunächst das Feld der Algorithmen, um so die Entitäten, die epistemisch ungerecht sein könnten, klar zu fassen und zu unterscheiden. Dann erläutere ich eine Auswahl von epistemischen Ungerechtigkeiten, die für die Analyse von ungerechten Algorithmen relevant sind. Schließlich führe ich epistemische Ungerechtigkeiten und Algorithmen zusammen und zeige anhand von drei Beispielen – automatische Geschlechtserkennung, Googles Suchmaschinen-Algorithmus, PredPol (predictive policing) – dass Algorithmen an testimonialer Ungerechtigkeit und hermeneutischer Ungerechtigkeit beteiligt sind. Sie tragen so zudem auf verschiedenen Ebenen zur Exklusion von marginalisierten Gruppen bei.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"44000955","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Der vorliegende Beitrag liest Serene Khaders Buch „Decolonizing Universalism“ und ihren darin entwickelten feministischen nicht-idealen Universalismus als wichtigen Beitrag zur Debatte um nicht-ideale politische Philosophie. Khaders Ansatz hat einen nicht-idealen Charakter, weil er zwar die universelle Überwindung sexistischer Praktiken fordert, dies aber auf eine kontextsensitive, nichtidealisierende Art und Weise tut. Eine zu ideale Art und Weise der Theoriebildung attestiert Khader einem „liberal-missionarischen“ Feminismus. Diesem wirft sie einen Gerechtigkeitsmonismus, ungerechtfertigte Idealisierungen sowie übertriebenen Moralismus vor. Der vorliegende Beitrag befindet, dass die Verknüpfung von Khaders Kritik an einem missionarischen Feminismus mit allgemeineren Bedenken gegenüber idealer und idealisierender Gerechtigkeitstheorie ein origineller und gelungener Aspekt von „Decolonizing Universalism“ ist. Besonders überzeugend ist dabei Khaders Kritik an unzulässigen Idealisierungen. Ein missionarischer Feminismus etwa blende die globalen und imperialen Ursachen für sexistische Unterdrückung häufig aus und konzentriere sich stattdessen auf lokale Formen der sexistischen Unterdrückung. Der vorliegende Beitrag stellt aber auch zwei Einwände gegen Khaders Ansatz vor. Erstens bleibt unklar, welche philosophischen Positionen Khader unter dem „missionarischen Feminismus“ genau zusammenfasst. Hier scheinen eher populäre Positionen aus dem politischen und öffentlichen Leben und weniger ausgearbeitete philosophische Argumente Zielscheibe von Khaders Kritik zu sein. Mögliche Einwände liberal-feministischer Positionen gegen diesen Vorwurf – etwa der Verweis auf den anti-kulturalistischen und institutionalistischen Fokus einer Rawlsschen Position oder auf bestehende Versuche einen kontextsensitiven Universalismus zu formulieren – werden nicht berücksichtigt. Der zweite Einwand bezieht sich auf die methodologische Struktur von Khaders eigenem Vorschlag. Khader fasst sexistische Unterdrückung als gruppenbezogene Untererfüllung basaler Menschenrechte auf. Doch nicht alle normativen Dimensionen sexistischer Beherrschung lassen sich so fassen, Sexistische Formen der Missachtung, Entwürdigung oder Statusverletzung sind nicht immer auf die Dimension der gruppenbasierten Menschenrechtsverletzung reduzierbar. Wie ist beispielsweise der Fall zu bewerten, wenn die basalen Menschenrechte von Frauen in einer Gesellschaft als erfüllt angesehen werden müssen – aber nur dann, wenn Frauen Männer heiraten, die für ihren Schutz und ihr Wohlbefinden sorgen? Gegen Khaders Theoriearchitektonik scheint ein fundamentales Recht auf sexistische Nicht-Beherrschung kein Menschenrecht unter vielen zu sein, sondern eine Art Meta-Recht darzustellen. Dieses Problem macht auch die schwierige Frage der Abwägung zwischen nicht-idealen sozialen Arrangements noch schwieriger, u. a. weil Menschenrechtsverletzungen bei Khader an dieser Stelle zwei verschiedene Rollen spielen, erstens als prim
{"title":"Wie ideal ist zu ideal? Serene Khaders Decolonizing Universalism und die Kritik an einem idealisierenden Feminismus","authors":"Tamara Jugov","doi":"10.22613/zfpp/9.1.15","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.15","url":null,"abstract":"Der vorliegende Beitrag liest Serene Khaders Buch „Decolonizing Universalism“ und ihren darin entwickelten feministischen nicht-idealen Universalismus als wichtigen Beitrag zur Debatte um nicht-ideale politische Philosophie. Khaders Ansatz hat einen nicht-idealen Charakter, weil er zwar die universelle Überwindung sexistischer Praktiken fordert, dies aber auf eine kontextsensitive, nichtidealisierende Art und Weise tut. Eine zu ideale Art und Weise der Theoriebildung attestiert Khader einem „liberal-missionarischen“ Feminismus. Diesem wirft sie einen Gerechtigkeitsmonismus, ungerechtfertigte Idealisierungen sowie übertriebenen Moralismus vor. Der vorliegende Beitrag befindet, dass die Verknüpfung von Khaders Kritik an einem missionarischen Feminismus mit allgemeineren Bedenken gegenüber idealer und idealisierender Gerechtigkeitstheorie ein origineller und gelungener Aspekt von „Decolonizing Universalism“ ist. Besonders überzeugend ist dabei Khaders Kritik an unzulässigen Idealisierungen. Ein missionarischer Feminismus etwa blende die globalen und imperialen Ursachen für sexistische Unterdrückung häufig aus und konzentriere sich stattdessen auf lokale Formen der sexistischen Unterdrückung. Der vorliegende Beitrag stellt aber auch zwei Einwände gegen Khaders Ansatz vor. Erstens bleibt unklar, welche philosophischen Positionen Khader unter dem „missionarischen Feminismus“ genau zusammenfasst. Hier scheinen eher populäre Positionen aus dem politischen und öffentlichen Leben und weniger ausgearbeitete philosophische Argumente Zielscheibe von Khaders Kritik zu sein. Mögliche Einwände liberal-feministischer Positionen gegen diesen Vorwurf – etwa der Verweis auf den anti-kulturalistischen und institutionalistischen Fokus einer Rawlsschen Position oder auf bestehende Versuche einen kontextsensitiven Universalismus zu formulieren – werden nicht berücksichtigt. Der zweite Einwand bezieht sich auf die methodologische Struktur von Khaders eigenem Vorschlag. Khader fasst sexistische Unterdrückung als gruppenbezogene Untererfüllung basaler Menschenrechte auf. Doch nicht alle normativen Dimensionen sexistischer Beherrschung lassen sich so fassen, Sexistische Formen der Missachtung, Entwürdigung oder Statusverletzung sind nicht immer auf die Dimension der gruppenbasierten Menschenrechtsverletzung reduzierbar. Wie ist beispielsweise der Fall zu bewerten, wenn die basalen Menschenrechte von Frauen in einer Gesellschaft als erfüllt angesehen werden müssen – aber nur dann, wenn Frauen Männer heiraten, die für ihren Schutz und ihr Wohlbefinden sorgen? Gegen Khaders Theoriearchitektonik scheint ein fundamentales Recht auf sexistische Nicht-Beherrschung kein Menschenrecht unter vielen zu sein, sondern eine Art Meta-Recht darzustellen. Dieses Problem macht auch die schwierige Frage der Abwägung zwischen nicht-idealen sozialen Arrangements noch schwieriger, u. a. weil Menschenrechtsverletzungen bei Khader an dieser Stelle zwei verschiedene Rollen spielen, erstens als prim","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"42321628","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Seyla Benhabib vermag es mithilfe ihres Konzepts der „demokratischen Iteration“ das Prinzip der Volkssouveränität mit den moralischen Ansprüchen von Migrierenden auf Augenhöhe zu vermitteln. Dies gelingt ihr, weil sie „demokratische Iterationen“ als diskursive Aushandlungsprozesse unter Bedingungen der Öffentlichkeit versteht. Der Begriff der Öffentlichkeit bezeichnet, wohl verstanden, nämlich einen konstitutiv offenen Kommunikationsraum, in dem sich die diskursive Klärung des demokratischen „Wir“ immer schon unter prinzipiellem Einbezug „des Anderen“ vollzieht. Bereits John Dewey, Hannah Arendt und Jürgen Habermas haben diese konstitutive Offenheit der Öffentlichkeit herausgestellt und damit die migrationsgesellschaftliche Struktur des Begriffs der Öffentlichkeit theoretisch entfaltet. Angesichts gegenwärtiger Abschottungsversuche westlicher Demokratien gegenüber Migrationsbewegungen stellt sich allerdings die Frage, ob der Begriff der Öffentlichkeit mehr darstellt, als ein normatives Ideal, das realen Tendenzen einer anti-migrantischen Abschließung politischer Kommunikationsräume bloß ohnmächtig gegenübersteht. Dieser Aufsatz argumentiert, dass dem nicht so ist: Dem Begriff der Öffentlichkeit lässt sich auch als einer Idee im Sinne Hegels habhaft werden. Er lässt sich als eine Logik der Öffnung rekonstruieren, die sich aufgrund einer immanenten Nötigung der Praxis selbst aufdrängt und nur durch eine destruktive Spirale aus Widerstand, Repression, Regression und Nihilismus unterdrückt werden kann. Ich werde auf dem Wege einer sozialphilosophischen Integration kommunikationstheoretischer (Habermas) und radikaldemokratischer (Rancière) Erkenntnisse abschließend zeigen, dass migrantische oder postmigrantische „Gegenöffentlichkeiten“ diese immanente Nötigung hervorrufen. Die Nötigung objektiviert sich wiederum daran, dass der fortgesetzte Ausschluss von „Gegenöffentlichkeiten“ zu einer krisenhaften Struktur „systematisch verzerrter Kommunikation“ (Habermas) führt.
{"title":"Die Nötigung zur Öffnung","authors":"Viktoria Kempf","doi":"10.22613/zfpp/9.1.2","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.2","url":null,"abstract":"Seyla Benhabib vermag es mithilfe ihres Konzepts der „demokratischen Iteration“ das Prinzip der Volkssouveränität mit den moralischen Ansprüchen von Migrierenden auf Augenhöhe zu vermitteln. Dies gelingt ihr, weil sie „demokratische Iterationen“ als diskursive Aushandlungsprozesse unter Bedingungen der Öffentlichkeit versteht. Der Begriff der Öffentlichkeit bezeichnet, wohl verstanden, nämlich einen konstitutiv offenen Kommunikationsraum, in dem sich die diskursive Klärung des demokratischen „Wir“ immer schon unter prinzipiellem Einbezug „des Anderen“ vollzieht. Bereits John Dewey, Hannah Arendt und Jürgen Habermas haben diese konstitutive Offenheit der Öffentlichkeit herausgestellt und damit die migrationsgesellschaftliche Struktur des Begriffs der Öffentlichkeit theoretisch entfaltet. Angesichts gegenwärtiger Abschottungsversuche westlicher Demokratien gegenüber Migrationsbewegungen stellt sich allerdings die Frage, ob der Begriff der Öffentlichkeit mehr darstellt, als ein normatives Ideal, das realen Tendenzen einer anti-migrantischen Abschließung politischer Kommunikationsräume bloß ohnmächtig gegenübersteht. Dieser Aufsatz argumentiert, dass dem nicht so ist: Dem Begriff der Öffentlichkeit lässt sich auch als einer Idee im Sinne Hegels habhaft werden. Er lässt sich als eine Logik der Öffnung rekonstruieren, die sich aufgrund einer immanenten Nötigung der Praxis selbst aufdrängt und nur durch eine destruktive Spirale aus Widerstand, Repression, Regression und Nihilismus unterdrückt werden kann. Ich werde auf dem Wege einer sozialphilosophischen Integration kommunikationstheoretischer (Habermas) und radikaldemokratischer (Rancière) Erkenntnisse abschließend zeigen, dass migrantische oder postmigrantische „Gegenöffentlichkeiten“ diese immanente Nötigung hervorrufen. Die Nötigung objektiviert sich wiederum daran, dass der fortgesetzte Ausschluss von „Gegenöffentlichkeiten“ zu einer krisenhaften Struktur „systematisch verzerrter Kommunikation“ (Habermas) führt.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"48139246","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Angesichts der angeblichen axiologischen Neutralität des Wissens, die in Teilen der Wissenschaft proklamiert wird, bieten seit langem mehrere philosophische Strömungen verschiedene Darstellungen der internen Verbindung zwischen Wissen und Machtverhältnissen. Diese reiche Geschichte umfasst Beiträge u. a. aus dem Poststrukturalismus, dem Marxismus, der Kritischen Theorie, den Decolonial und Critical Race Studies, dem Feminismus und den Theorien der epistemischen Ungerechtigkeit. Trotz ihrer vielen theoretischen Divergenzen stimmen sie alle mit der grundlegenden diagnostischen Prämisse überein, dass Machtungleichheiten eine bedeutsame Rolle bei der Definition dessen spielen, was als „Wissen“ zählt, und dass infolgedessen sozial und politisch unterdrückte Gruppen dazu neigen, auch im Bereich der epistemischen Praktiken wie der Systematisierung, Legitimierung und Übertragung von Wissen unterdrückt zu werden. Diese Kritiker:innen einer positivistischen Objektivität des Wissens haben jedoch sehr unterschiedliche Ansichten über die Wurzeln, die Auswirkungen und das Funktionieren der Verbindung zwischen epistemischen Praktiken und Machtungleichheiten. In diesem Beitrag wird eine dieser Differenzen untersucht, nämlich in Bezug auf die Frage: Bedeutet soziale und politische Unterdrückung notwendigerweise, dass die betroffenen Subjekte im Vergleich zu privilegierten Gruppen in einer schlechteren Position sind, um ihre Unterdrückung zu verstehen und ihr Widerstand zu leisten? Zwei möglichen Antworten auf diese Frage werden hier unter Rekurs auf eine Gegenüberstellung von Miranda Frickers Theorie der epistemischen Ungerechtigkeit einerseits und der feministischen Standpunkttheorie von Dorothy Smith andererseits untersucht. Während der erstgenannte Ansatz Unterdrückung vor allem als epistemisch und politisch schwächend ansieht, betrachtet der letztere die einzigartige Position der Unterdrückten als potenzielle Quelle von Wissen und politischem Handeln. Diese Gegenüberstellung wird eine Kritik einseitiger Darstellungen der Erfahrung von Unterdrückung ermöglichen. Eine Vermittlung zwischen den Polen dieses Gegensatzes wird anschließend durch das Konzept der Verwundbarkeit versucht. Um angesichts der Mehrdeutigkeit des Konzepts genauer zu bestimmen, was mit „Verwundbarkeit“ gemeint ist, wird eine analytische Unterscheidung zwischen Verwundbarkeit als einerseits konstitutiv und andererseits kontingent getroffen. Die Hypothese ist, dass ein vielschichtiges Verständnis von Verwundbarkeit – zeitgleich als kontingentes Risiko der Unterwerfung unter die Fremdheit und als konstitutive Öffnung zum Anderssein – ein wichtiges konzeptionelles Instrument sein kann, um die epistemischen und politischen Ambiguitäten sozialer Ungerechtigkeiten zu erfassen.
{"title":"Die epistemische Ambiguität der Verwundbarkeit","authors":"M. Teixeira","doi":"10.22613/zfpp/9.1.6","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.6","url":null,"abstract":"Angesichts der angeblichen axiologischen Neutralität des Wissens, die in Teilen der Wissenschaft proklamiert wird, bieten seit langem mehrere philosophische Strömungen verschiedene Darstellungen der internen Verbindung zwischen Wissen und Machtverhältnissen. Diese reiche Geschichte umfasst Beiträge u. a. aus dem Poststrukturalismus, dem Marxismus, der Kritischen Theorie, den Decolonial und Critical Race Studies, dem Feminismus und den Theorien der epistemischen Ungerechtigkeit. Trotz ihrer vielen theoretischen Divergenzen stimmen sie alle mit der grundlegenden diagnostischen Prämisse überein, dass Machtungleichheiten eine bedeutsame Rolle bei der Definition dessen spielen, was als „Wissen“ zählt, und dass infolgedessen sozial und politisch unterdrückte Gruppen dazu neigen, auch im Bereich der epistemischen Praktiken wie der Systematisierung, Legitimierung und Übertragung von Wissen unterdrückt zu werden. Diese Kritiker:innen einer positivistischen Objektivität des Wissens haben jedoch sehr unterschiedliche Ansichten über die Wurzeln, die Auswirkungen und das Funktionieren der Verbindung zwischen epistemischen Praktiken und Machtungleichheiten. In diesem Beitrag wird eine dieser Differenzen untersucht, nämlich in Bezug auf die Frage: Bedeutet soziale und politische Unterdrückung notwendigerweise, dass die betroffenen Subjekte im Vergleich zu privilegierten Gruppen in einer schlechteren Position sind, um ihre Unterdrückung zu verstehen und ihr Widerstand zu leisten? Zwei möglichen Antworten auf diese Frage werden hier unter Rekurs auf eine Gegenüberstellung von Miranda Frickers Theorie der epistemischen Ungerechtigkeit einerseits und der feministischen Standpunkttheorie von Dorothy Smith andererseits untersucht. Während der erstgenannte Ansatz Unterdrückung vor allem als epistemisch und politisch schwächend ansieht, betrachtet der letztere die einzigartige Position der Unterdrückten als potenzielle Quelle von Wissen und politischem Handeln. Diese Gegenüberstellung wird eine Kritik einseitiger Darstellungen der Erfahrung von Unterdrückung ermöglichen. Eine Vermittlung zwischen den Polen dieses Gegensatzes wird anschließend durch das Konzept der Verwundbarkeit versucht. Um angesichts der Mehrdeutigkeit des Konzepts genauer zu bestimmen, was mit „Verwundbarkeit“ gemeint ist, wird eine analytische Unterscheidung zwischen Verwundbarkeit als einerseits konstitutiv und andererseits kontingent getroffen. Die Hypothese ist, dass ein vielschichtiges Verständnis von Verwundbarkeit – zeitgleich als kontingentes Risiko der Unterwerfung unter die Fremdheit und als konstitutive Öffnung zum Anderssein – ein wichtiges konzeptionelles Instrument sein kann, um die epistemischen und politischen Ambiguitäten sozialer Ungerechtigkeiten zu erfassen.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"47588271","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
In Decolonizing Universalism: A Transnational Feminist Ethic zielt Serene Khader auf eine Neuausrichtung der feministischen Perspektive, welche es schafft, dekolonial und anti-imperialistisch zu sein, ohne gleichzeitig dem Universalismus komplett abzuschwören. Die Motivation hinter dieser Neuorientierung ist die Einsicht, dass der liberale moralische Universalismus oftmals kulturelle Vorherrschaft und Imperialismus verstärkt. In diesem Kommentar wollen wir (a) uns mit der Frage beschäftigen, was genau unter Geschlechtergerechtigkeit verstanden werden soll und welcher Maßstab zur Beantwortung der Frage nach Gerechtigkeit angebracht ist und (b) einige Ideen zum Unterschied zwischen idealer und nicht-idealer Theorie liefern.
{"title":"Was ist Geschlechtergerechtigkeit?","authors":"H. C. Hänel, Fabian Schuppert","doi":"10.22613/zfpp/9.1.13","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.13","url":null,"abstract":"In Decolonizing Universalism: A Transnational Feminist Ethic zielt Serene Khader auf eine Neuausrichtung der feministischen Perspektive, welche es schafft, dekolonial und anti-imperialistisch zu sein, ohne gleichzeitig dem Universalismus komplett abzuschwören. Die Motivation hinter dieser Neuorientierung ist die Einsicht, dass der liberale moralische Universalismus oftmals kulturelle Vorherrschaft und Imperialismus verstärkt. In diesem Kommentar wollen wir (a) uns mit der Frage beschäftigen, was genau unter Geschlechtergerechtigkeit verstanden werden soll und welcher Maßstab zur Beantwortung der Frage nach Gerechtigkeit angebracht ist und (b) einige Ideen zum Unterschied zwischen idealer und nicht-idealer Theorie liefern.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"45492294","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Die Debatte um epistemische Ungerechtigkeit verbindet normative Gerechtigkeitstheorien mit erkenntnistheoretischen Theorien und stellt somit die Art von wichtigen Fragen, die in den letzten Jahren sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaft internationale Aufmerksamkeit erfahren haben. Verwiesen sei hier etwa auf soziale Bewegungen wie #MeToo und #BlackLivesMatter zeigen. Theorien der epistemischen Ungerechtigkeit (sowie verwandte Theorien wie Epistemologie des Unwissens, feministische Erkenntnistheorie und Standpunkttheorie) können sowohl epistemische Praktiken analysieren und einen Beitrag zu Gerechtigkeitstheorien und sozialer Epistemologie liefern, als auch zu adäquateren Verständnissen von existierenden Ungerechtigkeiten beitragen. In dem hier vorliegenden Schwerpunkt werden Beiträge zu eben solchen bislang wenig erforschten Ungerechtigkeiten sowie neue Diskussionsbeiträge zur Debatte um epistemische Ungerechtigkeiten geliefert.
{"title":"Einleitung: Epistemische Ungerechtigkeiten","authors":"H. C. Hänel","doi":"10.22613/zfpp/9.1.5","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.5","url":null,"abstract":"Die Debatte um epistemische Ungerechtigkeit verbindet normative Gerechtigkeitstheorien mit erkenntnistheoretischen Theorien und stellt somit die Art von wichtigen Fragen, die in den letzten Jahren sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wissenschaft internationale Aufmerksamkeit erfahren haben. Verwiesen sei hier etwa auf soziale Bewegungen wie #MeToo und #BlackLivesMatter zeigen. Theorien der epistemischen Ungerechtigkeit (sowie verwandte Theorien wie Epistemologie des Unwissens, feministische Erkenntnistheorie und Standpunkttheorie) können sowohl epistemische Praktiken analysieren und einen Beitrag zu Gerechtigkeitstheorien und sozialer Epistemologie liefern, als auch zu adäquateren Verständnissen von existierenden Ungerechtigkeiten beitragen. In dem hier vorliegenden Schwerpunkt werden Beiträge zu eben solchen bislang wenig erforschten Ungerechtigkeiten sowie neue Diskussionsbeiträge zur Debatte um epistemische Ungerechtigkeiten geliefert.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"47891538","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
In diesem Artikel diskutiere ich zwei Herausforderungen für Serene J. Khaders Vorschlag einer transnationalen anti-imperialistischen feministischen Ethik. Die erste Herausforderung ist methodologischer Art und wirft die Frage auf, welche epistemischen und politischen Faktoren für Khaders nicht-idealer Theoriebildung eine Rolle spielen. Die zweite Herausforderung stellt sich mit Blick auf die Frage, wie stark Widerstand gegen sexistische Unterdrückung als Grundlage für transnationalen Feminismus tatsächlich ist. In diesem Zusammenhang diskutiere ich außerdem die Frage nach der Beziehung zwischen sexistischer Unterdrückung und Kapitalismus.
{"title":"Methodologische und strategische Herausforderungen einer anti-imperialistischen transnationalen feministischen Ethik","authors":"M. Müller","doi":"10.22613/zfpp/9.1.14","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.14","url":null,"abstract":"In diesem Artikel diskutiere ich zwei Herausforderungen für Serene J. Khaders Vorschlag einer transnationalen anti-imperialistischen feministischen Ethik. Die erste Herausforderung ist methodologischer Art und wirft die Frage auf, welche epistemischen und politischen Faktoren für Khaders nicht-idealer Theoriebildung eine Rolle spielen. Die zweite Herausforderung stellt sich mit Blick auf die Frage, wie stark Widerstand gegen sexistische Unterdrückung als Grundlage für transnationalen Feminismus tatsächlich ist. In diesem Zusammenhang diskutiere ich außerdem die Frage nach der Beziehung zwischen sexistischer Unterdrückung und Kapitalismus.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"41677611","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}