Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Fluchtverwandlung als wesentlichen Aspekt des Diskursverhaltens der extremen Rechte zu beschreiben. Der Beitrag geht aus vom Prinzip, dass ein offener Diskurs all jenen offenstehen soll, die ihn als legitime Form der Auseinandersetzung anerkennen und ihn nicht zu zerstören versuchen. Es wird gezeigt, dass der Vergleich des offenen Diskurses mit einem Spiel sich für die Betrachtung des Diskursverhaltens als äußerst fruchtbar erweist. Dieser Vergleich ermöglicht im Rückgriff auf Johan Huizinga (Homo ludens, 1938) die Anwendung der Unterscheidung zwischen Falschspieler und Spielverderber auf den Diskurs. Wer den Diskurs zu zerstören versucht, entspricht vielmehr einem Spielverderber als einem Falschspieler. Das besondere Merkmal des Diskurses von Spielverderber:innen wird am Beispiel der Diskursführung von Sekten illustriert. Als ihr wesentliches diskursstrategisches Mittel erweist sich, was Elias Canetti (Masse und Macht, 1960) als Fluchtverwandlung beschreibt. Der Diskurs der Spielverderber:innen zeichnet sich durch wiederholte schnelle Fluchtverwandlungen aus, deren Zweck darin besteht, sich nicht auf eine bestimmte Position festnageln zu lassen.
{"title":"Vom Umgang mit Spielverderber:innen","authors":"Stefan Pfleghard","doi":"10.22613/zfpp/9.2.17","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.17","url":null,"abstract":"Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Fluchtverwandlung als wesentlichen Aspekt des Diskursverhaltens der extremen Rechte zu beschreiben. Der Beitrag geht aus vom Prinzip, dass ein offener Diskurs all jenen offenstehen soll, die ihn als legitime Form der Auseinandersetzung anerkennen und ihn nicht zu zerstören versuchen. Es wird gezeigt, dass der Vergleich des offenen Diskurses mit einem Spiel sich für die Betrachtung des Diskursverhaltens als äußerst fruchtbar erweist. Dieser Vergleich ermöglicht im Rückgriff auf Johan Huizinga (Homo ludens, 1938) die Anwendung der Unterscheidung zwischen Falschspieler und Spielverderber auf den Diskurs. Wer den Diskurs zu zerstören versucht, entspricht vielmehr einem Spielverderber als einem Falschspieler. Das besondere Merkmal des Diskurses von Spielverderber:innen wird am Beispiel der Diskursführung von Sekten illustriert. Als ihr wesentliches diskursstrategisches Mittel erweist sich, was Elias Canetti (Masse und Macht, 1960) als Fluchtverwandlung beschreibt. Der Diskurs der Spielverderber:innen zeichnet sich durch wiederholte schnelle Fluchtverwandlungen aus, deren Zweck darin besteht, sich nicht auf eine bestimmte Position festnageln zu lassen.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2023-03-28","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"47919144","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Der argentinische Philosoph Enrique Dussel ist im deutschen Sprachraum kaum noch präsent. Seine dekoloniale Ethik der Befreiung (Dussel 2000) widmet sich den von marginalisierten Gruppen gemachten Erfahrungen materieller und diskursiver Ausgrenzung. Der Subjekttypus des ego clamo bezeichnet einen ethisch relevanten „Hilfeschrei“ der seit dem europäischen Kolonialismus benachteiligten Menschen des globalen Südens. Dussels Ethik wird innerhalb der dekolonialen Theoriebildung um das Konzept der Kolonialität der Macht (span. colonialidad del poder) verortet, in ihrer Entstehung nachgezeichnet und auf aktuelle Fragestellungen der Toleranz, Pluralität und Meinungsfreiheit bezogen. Wie Aníbal Quijano und Walter Mignolo geht auch Enrique Dussel von der Persistenz spezifischer Machtstrukturen aus, die sich während des europäischen Kolonialismus etabliert haben. Nach Quijano impliziert Kolonialität der Macht soziale Klassifizierungen durch Kategorien wie Rasse (span. raza) und Geschlecht, die aus einer eurozentrischen Perspektive formuliert (Kolonialität des Wissens) und im kolonialen Zeitalter global handlungsleitend wurden (Kolonialität des Wissens). Dekolonialität soll derartige „Muster der Macht“ (span. patrón de poder) historisch aufweisen und mit verschiedenen epistemischen Strategien zu dekonstruieren. Dussels Ethik der Befreiung ist dabei auf die Dekolonialisierung von Subjektivität gerichtet. Sie fordert auf zur Übernahme der Perspektive materiell und diskursiv Benachteiligter. Die leibhaftige Präsenz vielfach ausgeschlossener Menschen begründet eine Pflicht zur Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie weist auf den blinden Fleck abstrakter, vom fiktiven Standpunkt der Allgemeinheit formulierter liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen hin: Sie blenden identitätsbasierte Formen der Exklusion methodisch aus. Individuelle, aber nicht zugleich kontingent gemachte Erfahrungen der Diskriminierung aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe oder des Geschlechts können von der Mehrheitskultur einer Gesellschaft oft nicht ausreichend nachvollzogen werden. Mit Dussel lässt sich begründen, dass wir dennoch verpflichtet sind, uns mit den teilweise unbekannten und manchmal auch unbequemen Perspektiven der Anderen auseinanderzusetzten. Ein solcher Prozess der Konfrontation muss dabei jedoch jederzeit frei von Hass und Gewalt bleiben. Das Recht auf Freiheit des Ausdrucks wird überstrapaziert, wenn es die Fortsetzung diskriminierender Reden und ausgrenzender gesellschaftlicher Praktiken bedeutet. Ihm stehen manifeste Unrechtserfahrungen von Minderheiten entgegen, die deren Würde verletzen.
阿根廷哲学家恩里克·杜塞尔很少出现在德语世界。他的《非殖民化解放伦理学》(Dussel 2000)致力于边缘化群体的物质和话语排斥经历。自我斗争的主体类型表示自欧洲殖民主义以来一直处于不利地位的全球南方人民在道德上相关的“呼救”。杜塞尔的道德观是在围绕权力殖民主义概念形成的非殖民化理论中定义的(span。colonialid del poder)定位、追溯其起源,并与当前的宽容、多元化和言论自由问题有关。与安巴尔·奎亚诺(Aníbal Quijano)和沃尔特·米格诺洛(Walter Mignolo)一样,恩里克·杜塞尔(Enrique Dussel)也假定了欧洲殖民主义时期建立的特定权力结构的持久性。根据Quijano的说法,权力的殖民性意味着通过种族(西班牙语raza)和性别等类别进行社会分类,从欧洲中心的角度(知识的殖民性)制定,并在殖民时代成为全球领导者(知识的殖民化)。非殖民化旨在创造这样的“权力模式”(西班牙语patrón de poder)并运用不同的认识策略进行解构。杜塞尔的解放伦理学关注的是主体性的非殖民化。它呼吁采用物质上和话语上处于不利地位的人的观点。经常被排斥在外的人的实际存在构成了批评当前社会条件的义务。它指出了从公众虚构的角度形成的抽象自由主义正义观的盲点:它们有条不紊地隐藏着基于身份的排斥形式。一个社会的多数文化往往无法充分理解基于出身、肤色或性别的歧视的个人经历,但同时又不一定是偶然的。杜塞尔解释说,尽管如此,我们还是有义务处理他人部分未知、有时令人不安的观点。然而,这种对抗进程必须始终没有仇恨和暴力。如果言论自由权意味着歧视性言论和排斥性社会习俗的延续,那么这一权利就被过度扩张了。它遭到少数群体明显的不公正经历的反对,这些经历侵犯了他们的尊严。
{"title":"Dekoloniale Ethik und die Grenzen der Redefreiheit","authors":"S. Knauß","doi":"10.22613/zfpp/9.2.14","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.14","url":null,"abstract":"Der argentinische Philosoph Enrique Dussel ist im deutschen Sprachraum kaum noch präsent. Seine dekoloniale Ethik der Befreiung (Dussel 2000) widmet sich den von marginalisierten Gruppen gemachten Erfahrungen materieller und diskursiver Ausgrenzung. Der Subjekttypus des ego clamo bezeichnet einen ethisch relevanten „Hilfeschrei“ der seit dem europäischen Kolonialismus benachteiligten Menschen des globalen Südens. Dussels Ethik wird innerhalb der dekolonialen Theoriebildung um das Konzept der Kolonialität der Macht (span. colonialidad del poder) verortet, in ihrer Entstehung nachgezeichnet und auf aktuelle Fragestellungen der Toleranz, Pluralität und Meinungsfreiheit bezogen. Wie Aníbal Quijano und Walter Mignolo geht auch Enrique Dussel von der Persistenz spezifischer Machtstrukturen aus, die sich während des europäischen Kolonialismus etabliert haben. Nach Quijano impliziert Kolonialität der Macht soziale Klassifizierungen durch Kategorien wie Rasse (span. raza) und Geschlecht, die aus einer eurozentrischen Perspektive formuliert (Kolonialität des Wissens) und im kolonialen Zeitalter global handlungsleitend wurden (Kolonialität des Wissens). Dekolonialität soll derartige „Muster der Macht“ (span. patrón de poder) historisch aufweisen und mit verschiedenen epistemischen Strategien zu dekonstruieren. Dussels Ethik der Befreiung ist dabei auf die Dekolonialisierung von Subjektivität gerichtet. Sie fordert auf zur Übernahme der Perspektive materiell und diskursiv Benachteiligter. Die leibhaftige Präsenz vielfach ausgeschlossener Menschen begründet eine Pflicht zur Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie weist auf den blinden Fleck abstrakter, vom fiktiven Standpunkt der Allgemeinheit formulierter liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen hin: Sie blenden identitätsbasierte Formen der Exklusion methodisch aus. Individuelle, aber nicht zugleich kontingent gemachte Erfahrungen der Diskriminierung aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe oder des Geschlechts können von der Mehrheitskultur einer Gesellschaft oft nicht ausreichend nachvollzogen werden. Mit Dussel lässt sich begründen, dass wir dennoch verpflichtet sind, uns mit den teilweise unbekannten und manchmal auch unbequemen Perspektiven der Anderen auseinanderzusetzten. Ein solcher Prozess der Konfrontation muss dabei jedoch jederzeit frei von Hass und Gewalt bleiben. Das Recht auf Freiheit des Ausdrucks wird überstrapaziert, wenn es die Fortsetzung diskriminierender Reden und ausgrenzender gesellschaftlicher Praktiken bedeutet. Ihm stehen manifeste Unrechtserfahrungen von Minderheiten entgegen, die deren Würde verletzen.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2023-03-28","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"41393594","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
In einem kürzlich erschienenen Artikel argumentiert Almut v. Wedelstaedt überzeugend, warum Zustimmung zwar „die Bedingung für die Legitimation von Sex“ ist (2020, 127), dass die moralische Güte von Sex aber nur dann einzuschätzen ist, wenn wir darauf achten, ob die Beteiligten der Handlung sich auf Augenhöhe begegnen. Die Idee ist: Es gibt legitime sexuelle Handlungen, die moralisch gut sind, und es gibt legitime sexuelle Handlungen, die moralisch besser sind. Hier möchte ich die Idee des besseren Sexes genauer ausloten. Während v. Wedelstaedt von moralisch gelungenem Sex spricht und somit auf der Ebene der moralischen Bewertung von Sex bleibt, möchte ich die Frage danach stellen, was Sex qualitativ gut macht. Tatsächlich wird in der Zustimmungsdebatte meist davon ausgegangen, dass diese zwei Fragen wenig gemeinsam haben; ob eine sexuelle Handlung legitim ist, hat zunächst nichts damit zu tun, ob diese auch gut ist. Ich werde drei Argumente liefern, warum wir legitimen Sex und qualitativ guten Sex zusammen betrachten sollten – und es wird sich zeigen, dass die gegenwärtige philosophische und rechtstheoretische Debatte Zustimmung verkürzt diskutiert und daher alleingenommen wenig hilfreich ist, stattdessen benötigt die Zustimmungsdebatte auch eine Untersuchung von qualitativ gutem Sex.
{"title":"(Moralisch) Guter Sex: Eine Kritik am Zustimmungsmodell","authors":"H. C. Hänel","doi":"10.22613/zfpp/9.2.2","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.2","url":null,"abstract":"In einem kürzlich erschienenen Artikel argumentiert Almut v. Wedelstaedt überzeugend, warum Zustimmung zwar „die Bedingung für die Legitimation von Sex“ ist (2020, 127), dass die moralische Güte von Sex aber nur dann einzuschätzen ist, wenn wir darauf achten, ob die Beteiligten der Handlung sich auf Augenhöhe begegnen. Die Idee ist: Es gibt legitime sexuelle Handlungen, die moralisch gut sind, und es gibt legitime sexuelle Handlungen, die moralisch besser sind. Hier möchte ich die Idee des besseren Sexes genauer ausloten. Während v. Wedelstaedt von moralisch gelungenem Sex spricht und somit auf der Ebene der moralischen Bewertung von Sex bleibt, möchte ich die Frage danach stellen, was Sex qualitativ gut macht. Tatsächlich wird in der Zustimmungsdebatte meist davon ausgegangen, dass diese zwei Fragen wenig gemeinsam haben; ob eine sexuelle Handlung legitim ist, hat zunächst nichts damit zu tun, ob diese auch gut ist. Ich werde drei Argumente liefern, warum wir legitimen Sex und qualitativ guten Sex zusammen betrachten sollten – und es wird sich zeigen, dass die gegenwärtige philosophische und rechtstheoretische Debatte Zustimmung verkürzt diskutiert und daher alleingenommen wenig hilfreich ist, stattdessen benötigt die Zustimmungsdebatte auch eine Untersuchung von qualitativ gutem Sex.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2023-03-28","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"43412583","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Geht es nach der Political Correctness (PC), soll man auf bestimmte Redeweisen verzichten, obwohl diese legal zulässig sind. Inwiefern PC mit solchen Forderungen die Redefreiheit beeinträchtigt, ist eine hart umkämpfte Frage. Begreift man PC, wie ich vorschlage, mit Bernard Williams als moralistischen Anspruch, lässt sie sich begrifflich differenziert und instruktiv beantworten. Der „korrekte“ Anspruch basiert auf ungedeckten Sollens-Behauptungen und schlägt sich in einem spezifischen Gebrauch von Vorwürfen nieder. So begriffen lässt sich zum einen leicht darlegen, inwiefern PC nötigend wirkt und wechselseitiges Vertrauen aufzehrt: Die PC kennzeichnet ein Desinteresse gegenüber den Beweggründen der Rednerinnen, weshalb sie weder nach Gründen fragt noch Gründe gibt, sondern mit Vorwürfen Grenzen zieht. Zum anderen wird deutlich, dass die Kritik diskriminierender Rede nicht notwendig diesen Anspruch erheben muss. Es lassen sich verständigungsorientierte Strategien aufweisen, die umso dringlicher erscheinen, als es in liberaler Politik und Gesellschaft immer Gründe gibt, gegen PC-Redekonventionen zu verstoßen, und das Gut der Redefreiheit auf das robuste Vertrauen in anhaltende Kooperation angewiesen ist.
{"title":"Frei reden dürfen, aber es doch nicht sollen?","authors":"T. F. Huttel","doi":"10.22613/zfpp/9.2.15","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.15","url":null,"abstract":"Geht es nach der Political Correctness (PC), soll man auf bestimmte Redeweisen verzichten, obwohl diese legal zulässig sind. Inwiefern PC mit solchen Forderungen die Redefreiheit beeinträchtigt, ist eine hart umkämpfte Frage. Begreift man PC, wie ich vorschlage, mit Bernard Williams als moralistischen Anspruch, lässt sie sich begrifflich differenziert und instruktiv beantworten. Der „korrekte“ Anspruch basiert auf ungedeckten Sollens-Behauptungen und schlägt sich in einem spezifischen Gebrauch von Vorwürfen nieder. So begriffen lässt sich zum einen leicht darlegen, inwiefern PC nötigend wirkt und wechselseitiges Vertrauen aufzehrt: Die PC kennzeichnet ein Desinteresse gegenüber den Beweggründen der Rednerinnen, weshalb sie weder nach Gründen fragt noch Gründe gibt, sondern mit Vorwürfen Grenzen zieht. Zum anderen wird deutlich, dass die Kritik diskriminierender Rede nicht notwendig diesen Anspruch erheben muss. Es lassen sich verständigungsorientierte Strategien aufweisen, die umso dringlicher erscheinen, als es in liberaler Politik und Gesellschaft immer Gründe gibt, gegen PC-Redekonventionen zu verstoßen, und das Gut der Redefreiheit auf das robuste Vertrauen in anhaltende Kooperation angewiesen ist.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2023-03-28","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"43208306","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Geht es um die Frage, welche Faktoren zur Akzeptanz und Verbreitung von Verschwörungserzählungen beitragen, so verweist die Forschungsliteratur zur Erklärung oft auf sehr allgemeine Bedürfnisse, die in der Regel als anthropologische Gegebenheiten aufgefasst werden, wie etwa das Bedürfnis nach Sinngebung und Orientierung. Der vorliegende Artikel weist auf die möglichen Probleme einer anthropologischen Verkürzung der Sachlage bei solchen Erklärungsansätzen hin und formuliert einen genealogischen Ansatz, der es erlaubt, jene Bedürfnisse, die den Verschwörungsglauben begünstigen, als Resultat eines historisch voraussetzungsreichen Subjektivierungsprozesses zu begreifen. Zur Beschreibung jenes Prozesses werden in Auseinandersetzung mit Nietzsches Genealogie der Moral insbesondere die Motive des Ressentiments und der Schuld als Triebkräfte herangezogen, die insbesondere unter säkularen Bedingungen Projektionsweisen befördern, auf denen Verschwörungserzählungen beruhen.
{"title":"Die Verschwörungserzählung als profanisierte Hinterwelt","authors":"Viet Anh Nguyen Duc","doi":"10.22613/zfpp/9.2.7","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.7","url":null,"abstract":"Geht es um die Frage, welche Faktoren zur Akzeptanz und Verbreitung von Verschwörungserzählungen beitragen, so verweist die Forschungsliteratur zur Erklärung oft auf sehr allgemeine Bedürfnisse, die in der Regel als anthropologische Gegebenheiten aufgefasst werden, wie etwa das Bedürfnis nach Sinngebung und Orientierung. Der vorliegende Artikel weist auf die möglichen Probleme einer anthropologischen Verkürzung der Sachlage bei solchen Erklärungsansätzen hin und formuliert einen genealogischen Ansatz, der es erlaubt, jene Bedürfnisse, die den Verschwörungsglauben begünstigen, als Resultat eines historisch voraussetzungsreichen Subjektivierungsprozesses zu begreifen. Zur Beschreibung jenes Prozesses werden in Auseinandersetzung mit Nietzsches Genealogie der Moral insbesondere die Motive des Ressentiments und der Schuld als Triebkräfte herangezogen, die insbesondere unter säkularen Bedingungen Projektionsweisen befördern, auf denen Verschwörungserzählungen beruhen.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2023-03-28","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"43903341","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Während Adorno bisher kaum in den zeitgenössischen Debatten des affective turn rezipiert wird, sucht der vorliegende Aufsatz eine bisher weitestgehend vernachlässigte affekttheoretische Lektüre von Adornos Schriften zu entwickeln. Mit Adornos Formulierung ‚unter dem und wider den Bann des Einheitsprinzips‘, die er in der Negativen Dialektik von 1966 entwickelt hat, soll eine bis heute relativ vernachlässigte Doppelperspektive auf Adornos Verständnis von Affekten herausgearbeitet werden: Zum einen wird die affektive Bereitschaft der Subjekte gezeigt, sich mit der Macht der „verwalteten Welt“ zu identifizieren und sich also an sie zu binden. Diese Perspektive wird in dem Aufsatz anhand der Formulierung ‚unter dem Bann des Einheitsprinzips‘ skizziert. Zum anderen wird ebenso die affektive Bereitschaft der Subjekte herausgearbeitet, durch die Subjekte sich auch von ihren Bindungen an die Mächte der „verwalteten Welt“ desidentifizieren und tiefere Klarheit über den Zustand ihres Weltbezugs und ihrer eigenen Situation gewinnen können. Diese Sicht wird durch die Formulierung ‚wider den Bann des Einheitsprinzips‘ erläutert.
{"title":"Unter dem und wider den ‚Bann des Einheitsprinzips‘ – Adornos Beitrag zum Zusammenhang von Identifizierungsmacht, Subjektbildung und Affekt","authors":"S. Bianchi","doi":"10.22613/zfpp/9.2.1","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.1","url":null,"abstract":"Während Adorno bisher kaum in den zeitgenössischen Debatten des affective turn rezipiert wird, sucht der vorliegende Aufsatz eine bisher weitestgehend vernachlässigte affekttheoretische Lektüre von Adornos Schriften zu entwickeln. Mit Adornos Formulierung ‚unter dem und wider den Bann des Einheitsprinzips‘, die er in der Negativen Dialektik von 1966 entwickelt hat, soll eine bis heute relativ vernachlässigte Doppelperspektive auf Adornos Verständnis von Affekten herausgearbeitet werden: Zum einen wird die affektive Bereitschaft der Subjekte gezeigt, sich mit der Macht der „verwalteten Welt“ zu identifizieren und sich also an sie zu binden. Diese Perspektive wird in dem Aufsatz anhand der Formulierung ‚unter dem Bann des Einheitsprinzips‘ skizziert. Zum anderen wird ebenso die affektive Bereitschaft der Subjekte herausgearbeitet, durch die Subjekte sich auch von ihren Bindungen an die Mächte der „verwalteten Welt“ desidentifizieren und tiefere Klarheit über den Zustand ihres Weltbezugs und ihrer eigenen Situation gewinnen können. Diese Sicht wird durch die Formulierung ‚wider den Bann des Einheitsprinzips‘ erläutert.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2023-03-28","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"47215530","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, dialektischen Raum für eine bisher mindestens zu wenig diskutierte Theorieoption hinsichtlich des Nachdenkens über Verschwörungstheorien zu schaffen. Die bestehende Literatur geht fast ausschließlich davon aus, dass Verschwörungstheorien Erklärungen sind. Die typische mentale Einstellung gegenüber den Inhalten von Verschwörungstheorien ist demnach die der Überzeugung – eine Einstellung also, die durch ihre repräsentationale und propositionale Struktur gekennzeichnet ist und folglich als wahr oder falsch, gut oder schlecht gerechtfertigt bewertet werden kann. Ich nenne Modelle, die dieser Annahme folgen, alethische Modelle. Alethische Modelle können Verschwörungstheorien nicht als distinkte Klasse begreifen, ohne sie als epistemisch defizitär zu kennzeichnen. Die bestehende Literatur befindet sich deshalb in einer misslichen Pattsituation: Sie muss entweder Verschwörungstheorien als Klasse Irrationalität (oder andere epistemische Defizite) unterstellen (Generalismus). Oder sie muss verneinen, dass Verschwörungstheorien eine distinkte Klasse mentaler Einstellungen darstellen. Verschwörungstheorien sind dann lediglich eine weitere Form von Theorie, Theorien über Verschwörungen, und sollten einzeln auf ihre etwaigen Mängel oder Tugenden geprüft werden (Partikularismus). Dagegen motiviert dieser Aufsatz das Forschungsprogramm der narrativen Modelle. Laut narrativen Modellen sind Verschwörungstheorien in erster Linie Geschichten – also strukturierte Fiktionen. Die für sie relevanten mentalen Einstellungen sind demnach auch Einstellungen der Fiktionalität – Spiele (make-believe) und Imagination. Fiktionen und fiktionale Einstellungen wiederum sind nicht den Normen der Vernunft unterworfen. Sie sind weder rational noch irrational. Narrative Modelle können deshalb Verschwörungstheorien als distinkte Klasse fassen, ohne sie über defizitäre Merkmale herauszugreifen. Darüber hinaus erklären sie bestimmte Merkmale des verschwörungstheoretischen Diskurses besonders gut und sie bieten neue Perspektive auf die Popularität von Verschwörungstheorien und die Interventionsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen.
{"title":"Alethische und Narrative Modelle von Verschwörungstheorien","authors":"David Heering","doi":"10.22613/zfpp/9.2.6","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.2.6","url":null,"abstract":"Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, dialektischen Raum für eine bisher mindestens zu wenig diskutierte Theorieoption hinsichtlich des Nachdenkens über Verschwörungstheorien zu schaffen. Die bestehende Literatur geht fast ausschließlich davon aus, dass Verschwörungstheorien Erklärungen sind. Die typische mentale Einstellung gegenüber den Inhalten von Verschwörungstheorien ist demnach die der Überzeugung – eine Einstellung also, die durch ihre repräsentationale und propositionale Struktur gekennzeichnet ist und folglich als wahr oder falsch, gut oder schlecht gerechtfertigt bewertet werden kann. Ich nenne Modelle, die dieser Annahme folgen, alethische Modelle. Alethische Modelle können Verschwörungstheorien nicht als distinkte Klasse begreifen, ohne sie als epistemisch defizitär zu kennzeichnen. Die bestehende Literatur befindet sich deshalb in einer misslichen Pattsituation: Sie muss entweder Verschwörungstheorien als Klasse Irrationalität (oder andere epistemische Defizite) unterstellen (Generalismus). Oder sie muss verneinen, dass Verschwörungstheorien eine distinkte Klasse mentaler Einstellungen darstellen. Verschwörungstheorien sind dann lediglich eine weitere Form von Theorie, Theorien über Verschwörungen, und sollten einzeln auf ihre etwaigen Mängel oder Tugenden geprüft werden (Partikularismus). Dagegen motiviert dieser Aufsatz das Forschungsprogramm der narrativen Modelle. Laut narrativen Modellen sind Verschwörungstheorien in erster Linie Geschichten – also strukturierte Fiktionen. Die für sie relevanten mentalen Einstellungen sind demnach auch Einstellungen der Fiktionalität – Spiele (make-believe) und Imagination. Fiktionen und fiktionale Einstellungen wiederum sind nicht den Normen der Vernunft unterworfen. Sie sind weder rational noch irrational. Narrative Modelle können deshalb Verschwörungstheorien als distinkte Klasse fassen, ohne sie über defizitäre Merkmale herauszugreifen. Darüber hinaus erklären sie bestimmte Merkmale des verschwörungstheoretischen Diskurses besonders gut und sie bieten neue Perspektive auf die Popularität von Verschwörungstheorien und die Interventionsmöglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2023-03-28","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"45725117","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Politische Aktionen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und anderen Klimaaktivist:innen gehen häufig bewusst mit der Übertretung gesetzlicher Regelungen – wie etwa der Schulpflicht oder der Straßenverkehrsordnung – einher und sind dafür auch in der Öffentlichkeit kritisiert worden. In diesem Aufsatz verteidige ich die Auffassung, dass die relevanten Gesetzesübertretungen eine Form moralisch gerechtfertigten zivilen Ungehorsams gegen die Klimapolitik darstellen. Ich zeige zuerst, dass die Aktionen auch nach strengen Kriterien unter den Begriff des zivilen Ungehorsams fallen. Danach argumentiere ich, dass sie plausible Rechtfertigungsbedingungen für zivilen Ungehorsam erfüllen, weil sie sich gegen gravierende und eindeutige Ungerechtigkeiten richten und legale Einflussmöglichkeiten über Jahrzehnte hinweg keine Abhilfe geschaffen haben. Schließlich weise ich den Einwand zurück, dass der zivile Ungehorsam gegen die Klimapolitik demokratische Grundprinzipien verletzt, weil er sich eigenmächtig über demokratisch erlassene Gesetze und Vereinbarungen hinweg setzt. Ich argumentiere zunächst, dass der Einwand in Bezug auf einen wichtigen Teil der Aktivist:innen schon deshalb fehlgeht, weil diese als Minderjährige von der demokratischen Partizipation ausgeschlossen sind. Darüber hinaus verteidige ich die Position, dass der Ungehorsam auch von wahlberechtigten Klimaaktivist:innen durch das Bestehen schwerwiegender demokratischer Defizite gerechtfertigt ist und zu deren Korrektur beitragen kann. Solche Defizite bestehen u. a. in der fehlenden Repräsentation der Interessen zukünftig und global vom Klimawandel betroffener Personen.
{"title":"Klimaaktivismus als ziviler Ungehorsam","authors":"B. Kiesewetter","doi":"10.22613/zfpp/9.1.3","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.3","url":null,"abstract":"Politische Aktionen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und anderen Klimaaktivist:innen gehen häufig bewusst mit der Übertretung gesetzlicher Regelungen – wie etwa der Schulpflicht oder der Straßenverkehrsordnung – einher und sind dafür auch in der Öffentlichkeit kritisiert worden. In diesem Aufsatz verteidige ich die Auffassung, dass die relevanten Gesetzesübertretungen eine Form moralisch gerechtfertigten zivilen Ungehorsams gegen die Klimapolitik darstellen. Ich zeige zuerst, dass die Aktionen auch nach strengen Kriterien unter den Begriff des zivilen Ungehorsams fallen. Danach argumentiere ich, dass sie plausible Rechtfertigungsbedingungen für zivilen Ungehorsam erfüllen, weil sie sich gegen gravierende und eindeutige Ungerechtigkeiten richten und legale Einflussmöglichkeiten über Jahrzehnte hinweg keine Abhilfe geschaffen haben. Schließlich weise ich den Einwand zurück, dass der zivile Ungehorsam gegen die Klimapolitik demokratische Grundprinzipien verletzt, weil er sich eigenmächtig über demokratisch erlassene Gesetze und Vereinbarungen hinweg setzt. Ich argumentiere zunächst, dass der Einwand in Bezug auf einen wichtigen Teil der Aktivist:innen schon deshalb fehlgeht, weil diese als Minderjährige von der demokratischen Partizipation ausgeschlossen sind. Darüber hinaus verteidige ich die Position, dass der Ungehorsam auch von wahlberechtigten Klimaaktivist:innen durch das Bestehen schwerwiegender demokratischer Defizite gerechtfertigt ist und zu deren Korrektur beitragen kann. Solche Defizite bestehen u. a. in der fehlenden Repräsentation der Interessen zukünftig und global vom Klimawandel betroffener Personen.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"42037569","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Die Begriffe kollektive Amnesie und organisiertes Vergessen werden oft verwendet, um Fälle zu beschreiben, in denen historisches Wissen, das im gesellschaftlichen, kollektiven Gedächtnis verfügbar sein sollte – weil es sich beispielsweise um gerechtigkeitsrelevantes Wissen handelt – aus unterschiedlichen, meist politisch problematischen Gründen nicht verfügbar ist. Beispielsweise, weil es gegebene Herrschaftsverhältnisse bedrohen würde. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, weshalb diese Begriffe gerade in solchen Fällen irreführend sind. Insbesondere nationale Erinnerungspolitik kann oftmals aus Erkenntnispraktiken bestehen oder befördern, die nicht primär Vergessen herbeiführen, sondern in der Gesellschaft verfügbares Wissen über bestimmte Themen verschleiern, verzerren und dadurch die gesellschaftliche Verständigung darüber erschweren oder sogar riskant macht; was vor allem in Fällen offensichtlich wird, in denen koloniale und genozidale Vergangenheiten systematisch geleugnet werden. So kann staatlich geförderte, systematische Genozidleugnung zwar durchaus selektiv zu „vergessen“ oder Wissensverlust führen. Doch viel problematischer aus ethischer und epistemischer Sicht ist, dass dadurch existierendes Wissen und Erinnerungen an die Verbrechen fortlaufend diskreditiert und unterdrückt werden. Genauer werden durch institutionelle und soziale Prozesse und Praktiken historische Fakten und andere Beweise, auf denen Erinnerung basiert, nicht nur ignoriert oder vernachlässigt, sondern vorsätzlich verschleiert, verzerrt und fehlinterpretiert. Es wird dadurch schädliches Unwissen und Unverständnis über die historischen Tatsachen und deren normative Bewertung generiert. Dadurch schafft Genozidleugnung nicht nur Wissenssubjekte, die nichts über den Genozid wissen – denn ein bloßer Wissensmangel könnte durch Bereitstellung des nötigen Wissens behoben werden – sondern das Thema verkennen, aktiv Tatsachen leugnen und dadurch die gesellschaftliche Verständigung über das Thema erschweren oder verunmöglichen. Um also besser zu verstehen, welche ethischen und epistemischen Konsequenzen systematische Genozidleugnung für Überlebende und Nachfahren, wie auch die Gesellschaft insgesamt mit sich bringt, schlage ich vor, systematische Genozidleugnung vielmehr als substanzielle Erkenntnispraxis (vgl. Alcoff 2007, 39) und somit als Fall vorsätzlichen Unwissens zu verstehen. Wie ich am Beispiel der türkischen Leugnung des Genozids an den Armenier:innen illustrieren werde, wird der Genozid nicht vergessen, sondern erinnert und zugleich verkannt, mit der Absicht, Herrschaftsverhältnisse zu konsolidieren. Dadurch wird epistemische Ungerechtigkeit gefördert und aufrechterhalten.
{"title":"Genozidleugnung: Organisiertes Vergessen oder Substanzielle Erkenntnispraxis?","authors":"Melanie Altanian","doi":"10.22613/zfpp/9.1.10","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.10","url":null,"abstract":"Die Begriffe kollektive Amnesie und organisiertes Vergessen werden oft verwendet, um Fälle zu beschreiben, in denen historisches Wissen, das im gesellschaftlichen, kollektiven Gedächtnis verfügbar sein sollte – weil es sich beispielsweise um gerechtigkeitsrelevantes Wissen handelt – aus unterschiedlichen, meist politisch problematischen Gründen nicht verfügbar ist. Beispielsweise, weil es gegebene Herrschaftsverhältnisse bedrohen würde. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, weshalb diese Begriffe gerade in solchen Fällen irreführend sind. Insbesondere nationale Erinnerungspolitik kann oftmals aus Erkenntnispraktiken bestehen oder befördern, die nicht primär Vergessen herbeiführen, sondern in der Gesellschaft verfügbares Wissen über bestimmte Themen verschleiern, verzerren und dadurch die gesellschaftliche Verständigung darüber erschweren oder sogar riskant macht; was vor allem in Fällen offensichtlich wird, in denen koloniale und genozidale Vergangenheiten systematisch geleugnet werden. So kann staatlich geförderte, systematische Genozidleugnung zwar durchaus selektiv zu „vergessen“ oder Wissensverlust führen. Doch viel problematischer aus ethischer und epistemischer Sicht ist, dass dadurch existierendes Wissen und Erinnerungen an die Verbrechen fortlaufend diskreditiert und unterdrückt werden. Genauer werden durch institutionelle und soziale Prozesse und Praktiken historische Fakten und andere Beweise, auf denen Erinnerung basiert, nicht nur ignoriert oder vernachlässigt, sondern vorsätzlich verschleiert, verzerrt und fehlinterpretiert. Es wird dadurch schädliches Unwissen und Unverständnis über die historischen Tatsachen und deren normative Bewertung generiert. Dadurch schafft Genozidleugnung nicht nur Wissenssubjekte, die nichts über den Genozid wissen – denn ein bloßer Wissensmangel könnte durch Bereitstellung des nötigen Wissens behoben werden – sondern das Thema verkennen, aktiv Tatsachen leugnen und dadurch die gesellschaftliche Verständigung über das Thema erschweren oder verunmöglichen. Um also besser zu verstehen, welche ethischen und epistemischen Konsequenzen systematische Genozidleugnung für Überlebende und Nachfahren, wie auch die Gesellschaft insgesamt mit sich bringt, schlage ich vor, systematische Genozidleugnung vielmehr als substanzielle Erkenntnispraxis (vgl. Alcoff 2007, 39) und somit als Fall vorsätzlichen Unwissens zu verstehen. Wie ich am Beispiel der türkischen Leugnung des Genozids an den Armenier:innen illustrieren werde, wird der Genozid nicht vergessen, sondern erinnert und zugleich verkannt, mit der Absicht, Herrschaftsverhältnisse zu konsolidieren. Dadurch wird epistemische Ungerechtigkeit gefördert und aufrechterhalten.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"46205383","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Anhand der Mechanismen „Filterblase“ und „ Echokammer“ in digitalen Medien beleuchtet der Artikel, inwiefern Deweys funktionaler Öffentlichkeitsbegriff für die aktuelle Demokratiekrise mögliche Lösungsperspektiven erschließen lässt. Eine Rekonstruktion von Deweys Begriffen der Öffentlichkeit und der geteilten Erfahrung legt offen, dass der Aspekt der situativ-leiblich eingebundenen Erfahrung in der (an Dewey orientierten) Forschungsdebatte zu digitalen Öffentlichkeiten nicht adäquat berücksichtigt wird. Darauf aufbauend lässt sich im Widerspruch zu einigen Debatten-Beiträgen zeigen, dass eine stärkere Rückbindung an lokale Lebenskontexte eine Voraussetzung dafür ist, diesen problematischen Mechanismen digitalisierter Medien zu begegnen.
{"title":"Digitally Shared Experience?","authors":"Sebastian Weydner-Volkmann","doi":"10.22613/zfpp/9.1.4","DOIUrl":"https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.4","url":null,"abstract":"Anhand der Mechanismen „Filterblase“ und „ Echokammer“ in digitalen Medien beleuchtet der Artikel, inwiefern Deweys funktionaler Öffentlichkeitsbegriff für die aktuelle Demokratiekrise mögliche Lösungsperspektiven erschließen lässt. Eine Rekonstruktion von Deweys Begriffen der Öffentlichkeit und der geteilten Erfahrung legt offen, dass der Aspekt der situativ-leiblich eingebundenen Erfahrung in der (an Dewey orientierten) Forschungsdebatte zu digitalen Öffentlichkeiten nicht adäquat berücksichtigt wird. Darauf aufbauend lässt sich im Widerspruch zu einigen Debatten-Beiträgen zeigen, dass eine stärkere Rückbindung an lokale Lebenskontexte eine Voraussetzung dafür ist, diesen problematischen Mechanismen digitalisierter Medien zu begegnen.","PeriodicalId":53352,"journal":{"name":"Zeitschrift fur Praktische Philosophie","volume":null,"pages":null},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2022-08-19","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"46087672","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}