Pub Date : 2020-09-22DOI: 10.5771/0342-300x-2020-5-386
Andreas Nölke
„Solidarität“ ist der Kernbegriff der bisherigen gesellschaftlichen Debatte zur Corona-Krise. Solidarität wird sowohl im Mikrobereich gefordert, etwa als Rücksichtnahme auf Ältere oder Kranke. Solidarität wird aber auch im Makrobereich eingeklagt, insbesondere von unseren südeuropäischen Nachbarstaaten Italien und Spanien, die so viel härter von der Krise getroffen werden als Deutschland. „Solidarität“ ist in den letzten Jahren auch einer der Kernbegriffe einer Debatte im linken politischen Spektrum gewesen. Hier geht es um die Frage, wie linke Parteien mit dem 2015 / 2016 deutlich erhöhten Migrationsdruck nach Deutschland umgehen sollen. Begründet die Norm der Solidarität ein Recht auf Migration nach Deutschland ? Analytisch fassen lässt sich diese Debatte als eine zwischen (Links-)Kommunitarismus und (Links-)Kosmopolitismus. Während Vertreter des Letzteren ein uneingeschränktes Recht auf Migration postulieren („no borders“), fordern erstere ein Management von Migration und damit eine Begrenzung. Was können wir aus der „alten“ Solidaritätsdebatte für die aktuelle lernen ? Und was lehrt uns die aktuelle Debatte in Bezug auf das Verhältnis zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus ? Eines ist – zumindest im linken politischen Spektrum – in beiden Fällen unstrittig : Solidarität ist geboten. Die kontroverse Frage bezieht sich eher darauf, ob diese Solidarität grenzenlos sein sollte bzw. wem sie in welchem Maße gelten soll.
{"title":"Solidarität, Links-Kommunitarismus und die Corona-Krise","authors":"Andreas Nölke","doi":"10.5771/0342-300x-2020-5-386","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300x-2020-5-386","url":null,"abstract":"„Solidarität“ ist der Kernbegriff der bisherigen gesellschaftlichen Debatte zur Corona-Krise. Solidarität wird sowohl im Mikrobereich gefordert, etwa als Rücksichtnahme auf Ältere oder Kranke. Solidarität wird aber auch im Makrobereich eingeklagt, insbesondere von unseren südeuropäischen Nachbarstaaten Italien und Spanien, die so viel härter von der Krise getroffen werden als Deutschland. „Solidarität“ ist in den letzten Jahren auch einer der Kernbegriffe einer Debatte im linken politischen Spektrum gewesen. Hier geht es um die Frage, wie linke Parteien mit dem 2015 / 2016 deutlich erhöhten Migrationsdruck nach Deutschland umgehen sollen. Begründet die Norm der Solidarität ein Recht auf Migration nach Deutschland ? Analytisch fassen lässt sich diese Debatte als eine zwischen (Links-)Kommunitarismus und (Links-)Kosmopolitismus. Während Vertreter des Letzteren ein uneingeschränktes Recht auf Migration postulieren („no borders“), fordern erstere ein Management von Migration und damit eine Begrenzung. Was können wir aus der „alten“ Solidaritätsdebatte für die aktuelle lernen ? Und was lehrt uns die aktuelle Debatte in Bezug auf das Verhältnis zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus ? Eines ist – zumindest im linken politischen Spektrum – in beiden Fällen unstrittig : Solidarität ist geboten. Die kontroverse Frage bezieht sich eher darauf, ob diese Solidarität grenzenlos sein sollte bzw. wem sie in welchem Maße gelten soll.","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"50 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2020-09-22","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"124403019","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2020-07-20DOI: 10.5771/0342-300x-2020-4-238
Philipp Stiemke, Moritz Heẞ
Die demografische Alterung stellt die (Alters-)Sicherungssysteme langfristig vor große finanzielle Herausforderungen. Daher wurden verschiedene Reformen implementiert, die auf eine Verlängerung des Erwerbslebens abzielen. So wurden unter anderem Frühverrentungsmöglichkeiten eingeschränkt, die Regelaltersgrenze erhöht und aktive Arbeitsmarktpolitiken eingeführt. Fraglich ist jedoch, ob alle älteren Arbeitnehmer*innen die nötigen Ressourcen besitzen, um ihre Erwerbstätigkeit bis zum regulären Renteneintrittsalter auszuüben und ob sie den Erwerbsaustritt als freiwillig empfinden. Der Beitrag untersucht, ob und inwieweit Bildung als sozioökonomische Determinante die Freiwilligkeit des Erwerbsaustritts beeinflusst. Basierend auf Daten des Deutschen Alterssurveys wird für zwei Renteneintrittskohorten (1999–2006; 2007–2014) dieser Zusammenhang analysiert. Es zeigt sich, dass bei Männern der jüngeren Renteneintrittskohorte ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Bildung und der Freiwilligkeit des Erwerbsaustritts besteht, nicht jedoch bei Frauen und Männern der älteren Renteneintrittskohorte. Dieser Befund kann darauf hinweisen, dass sozioökonomische Faktoren wie die Bildung künftig, also bei folgenden Kohorten, die Freiwilligkeit des Erwerbsaustritts zunehmend beeinflusst.
{"title":"Der Zusammenhang zwischen Bildung und der Freiwilligkeit von Erwerbsaustritten","authors":"Philipp Stiemke, Moritz Heẞ","doi":"10.5771/0342-300x-2020-4-238","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300x-2020-4-238","url":null,"abstract":"Die demografische Alterung stellt die (Alters-)Sicherungssysteme langfristig vor große finanzielle Herausforderungen. Daher wurden verschiedene Reformen implementiert, die auf eine Verlängerung des Erwerbslebens abzielen. So wurden unter anderem Frühverrentungsmöglichkeiten eingeschränkt, die Regelaltersgrenze erhöht und aktive Arbeitsmarktpolitiken eingeführt. Fraglich ist jedoch, ob alle älteren Arbeitnehmer*innen die nötigen Ressourcen besitzen, um ihre Erwerbstätigkeit bis zum regulären Renteneintrittsalter auszuüben und ob sie den Erwerbsaustritt als freiwillig empfinden. Der Beitrag untersucht, ob und inwieweit Bildung als sozioökonomische Determinante die Freiwilligkeit des Erwerbsaustritts beeinflusst. Basierend auf Daten des Deutschen Alterssurveys wird für zwei Renteneintrittskohorten (1999–2006; 2007–2014) dieser Zusammenhang analysiert. Es zeigt sich, dass bei Männern der jüngeren Renteneintrittskohorte ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Bildung und der Freiwilligkeit des Erwerbsaustritts besteht, nicht jedoch bei Frauen und Männern der älteren Renteneintrittskohorte. Dieser Befund kann darauf hinweisen, dass sozioökonomische Faktoren wie die Bildung künftig, also bei folgenden Kohorten, die Freiwilligkeit des Erwerbsaustritts zunehmend beeinflusst.","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"31 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2020-07-20","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"121154076","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2020-07-20DOI: 10.5771/0342-300x-2020-4-295
D. Gerst
Wer im Betrieb die Interessen der Beschäftigten vertritt, hat insbesondere das Ziel im Blick, diese bei Veränderungen zu schützen. Betriebsräte tun dies mit Erfolg, indem sie vor allem die Mitbestimmungsrechte zu sozialen Angelegenheiten nutzen, die im Betriebsverfassungsgesetz verankert sind, und indem sie zugleich darauf dringen, möglichst früh über geplante Modernisierungsprozesse informiert zu werden. Darin sehen die meisten Betriebsräte ihre Hauptaufgabe. Deutlich weniger Wert legen sie darauf, sich aktiv an der Entwicklung von Innovationsstrategien und Geschäftsmodellen des Unternehmens zu beteiligen. In aller Regel gilt : Nicht nur die Unternehmensleitung sieht die übergeordnete Unternehmensstrategie und deren Entwicklung allein in ihrer Verantwortung, das sehen auch die meisten Betriebsräte und Vertrauensleute so. Damit gibt es eine Arbeitsteilung, die von beiden Seiten gleichermaßen akzeptiert wird : Das Management entscheidet über die Strategie, der Betriebsrat reguliert die Folgen. Warum verhalten sich Betriebsräte so ? Warum bringen sie sich kaum in die strategische Modernisierung von Betrieben ein ? Das hat mehrere Gründe. Der erste : Wer sich da einmischt, bewegt sich rechtlich auf dünnem Eis. Denn das Betriebsverfassungsgesetz bietet dafür nur schwache Beteiligungsrechte, sodass diejenigen, die sich aktiv in das Innovationsgeschehen im Betrieb einbringen, das hohe Risiko eingehen, im Konfliktfall zu unterliegen. Und solche Konflikte könnten zudem eskalieren, wenn Management und Eigentümer für dieses Feld ihr Recht auf unternehmerische Selbstbestimmung reklamieren. Einen weiteren Grund halte ich jedoch für schwererwiegend : Betriebsräte, die auf dem Feld der Unternehmensstrategie aktiv sind, gelten gemeinhin als Co-Manager. Und die Strategie des Co-Managements hat in Teilen der Gewerkschaften immer noch einen schlechten Ruf. Wer sich gemeinsam mit dem Management engagiert, um Produktpaletten und Herstellungsprozesse zu modernisieren, setzt sich als Betriebsrat auch heute noch dem Verdacht aus, im Zweifel dem Management näher zu stehen als den Beschäftigten. Zwar haben Betriebsräte mit der gewerkschaftlichen Strategie „Besser statt billiger“ in ausgewählten Betrieben gute Erfahrungen gemacht, gelang es ihnen doch damit, eine nachhaltige betriebliche Innovationspolitik einzufordern. 1 Auch wegen dieser Erfahrungen ist die Sicht auf die Strategie des Co-Managements heute weniger ideologisch geprägt als zuvor. Dennoch hat sich das Selbstverständnis vieler Betriebsräte noch nicht grundlegend geändert. Betriebsstrategien mit zu entwickeln ist wichtiger denn je. Das zeigt der 2019 erstellte Transformationsatlas der IG Metall. 2 Basierend auf den Befragungen von Betriebsräten in mehr als 2000 Betrieben zeigt sich hier ein wichtiges Ergebnis : Etwa die Hälfte der Unternehmen kümmert sich unzureichend um ihre strategische Ausrichtung und damit um ihre Zukunft – ein großes Defizit, das erneut die Frage aufwirft, ob das Thema Strategieentwicklu
{"title":"Geschäftsmodelle mitentwickeln – ein neues Handlungsfeld der Betriebsräte","authors":"D. Gerst","doi":"10.5771/0342-300x-2020-4-295","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300x-2020-4-295","url":null,"abstract":"Wer im Betrieb die Interessen der Beschäftigten vertritt, hat insbesondere das Ziel im Blick, diese bei Veränderungen zu schützen. Betriebsräte tun dies mit Erfolg, indem sie vor allem die Mitbestimmungsrechte zu sozialen Angelegenheiten nutzen, die im Betriebsverfassungsgesetz verankert sind, und indem sie zugleich darauf dringen, möglichst früh über geplante Modernisierungsprozesse informiert zu werden. Darin sehen die meisten Betriebsräte ihre Hauptaufgabe. Deutlich weniger Wert legen sie darauf, sich aktiv an der Entwicklung von Innovationsstrategien und Geschäftsmodellen des Unternehmens zu beteiligen. In aller Regel gilt : Nicht nur die Unternehmensleitung sieht die übergeordnete Unternehmensstrategie und deren Entwicklung allein in ihrer Verantwortung, das sehen auch die meisten Betriebsräte und Vertrauensleute so. Damit gibt es eine Arbeitsteilung, die von beiden Seiten gleichermaßen akzeptiert wird : Das Management entscheidet über die Strategie, der Betriebsrat reguliert die Folgen. Warum verhalten sich Betriebsräte so ? Warum bringen sie sich kaum in die strategische Modernisierung von Betrieben ein ? Das hat mehrere Gründe. Der erste : Wer sich da einmischt, bewegt sich rechtlich auf dünnem Eis. Denn das Betriebsverfassungsgesetz bietet dafür nur schwache Beteiligungsrechte, sodass diejenigen, die sich aktiv in das Innovationsgeschehen im Betrieb einbringen, das hohe Risiko eingehen, im Konfliktfall zu unterliegen. Und solche Konflikte könnten zudem eskalieren, wenn Management und Eigentümer für dieses Feld ihr Recht auf unternehmerische Selbstbestimmung reklamieren. Einen weiteren Grund halte ich jedoch für schwererwiegend : Betriebsräte, die auf dem Feld der Unternehmensstrategie aktiv sind, gelten gemeinhin als Co-Manager. Und die Strategie des Co-Managements hat in Teilen der Gewerkschaften immer noch einen schlechten Ruf. Wer sich gemeinsam mit dem Management engagiert, um Produktpaletten und Herstellungsprozesse zu modernisieren, setzt sich als Betriebsrat auch heute noch dem Verdacht aus, im Zweifel dem Management näher zu stehen als den Beschäftigten. Zwar haben Betriebsräte mit der gewerkschaftlichen Strategie „Besser statt billiger“ in ausgewählten Betrieben gute Erfahrungen gemacht, gelang es ihnen doch damit, eine nachhaltige betriebliche Innovationspolitik einzufordern. 1 Auch wegen dieser Erfahrungen ist die Sicht auf die Strategie des Co-Managements heute weniger ideologisch geprägt als zuvor. Dennoch hat sich das Selbstverständnis vieler Betriebsräte noch nicht grundlegend geändert. Betriebsstrategien mit zu entwickeln ist wichtiger denn je. Das zeigt der 2019 erstellte Transformationsatlas der IG Metall. 2 Basierend auf den Befragungen von Betriebsräten in mehr als 2000 Betrieben zeigt sich hier ein wichtiges Ergebnis : Etwa die Hälfte der Unternehmen kümmert sich unzureichend um ihre strategische Ausrichtung und damit um ihre Zukunft – ein großes Defizit, das erneut die Frage aufwirft, ob das Thema Strategieentwicklu","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"17 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2020-07-20","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"122470110","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2020-01-23DOI: 10.5771/0342-300x-2020-1-63
A. Georg, K. Guhlemann
Der Beitrag diskutiert die Frage, ob das bestehende Arbeitsschutzsystem die erforderlichen Schutz- und Gestaltungsmaßnahmen für die Beschäftigten zur Prävention der mit Digitalisierungsprozessen einhergehenden Arbeitsintensivierungen leisten kann und welche Rolle dem Kompetenzaufbau dabei zukommt. Das vorgeschlagene Konzept der individuellen arbeitsbezogenen Gesundheitskompetenz bietet Potenziale für Schutz und Gestaltung. Ausgangspunkt ist der Befund, dass im Rahmen der Digitalisierung von immer mehr Arbeitsanteilen besonders die psychosozialen Anforderungen an die Beschäftigten steigen und Arbeitsintensivierung insbesondere eine Folge der Vermischung von Arbeit und Privatem sein kann. Darauf deuten Befunde einer explorativen Studie zur Frage nach der Wirksamkeit des Arbeitsschutzsystems hin. Die Ergebnisse gewähren einen tiefen Einblick in Strukturen, Konflikte und Ambivalenzen im Bemühen um sichere und gesunde Arbeitsbedingungen und zeigen, dass betriebliche Vorgehensweisen und institutionelle Arbeitsschutzstrukturen neu justiert werden müssen. Anderenfalls wird Arbeitsintensivierung zu einem blinden Fleck betrieblicher Gestaltungsbemühungen.
{"title":"Arbeitsschutz und individuelle Gesundheitskompetenz. Perspektiven der Prävention von Arbeitsintensivierung in der „Arbeit 4.0“","authors":"A. Georg, K. Guhlemann","doi":"10.5771/0342-300x-2020-1-63","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300x-2020-1-63","url":null,"abstract":"Der Beitrag diskutiert die Frage, ob das bestehende Arbeitsschutzsystem die erforderlichen Schutz- und Gestaltungsmaßnahmen für die Beschäftigten zur Prävention der mit Digitalisierungsprozessen einhergehenden Arbeitsintensivierungen leisten kann und welche Rolle dem Kompetenzaufbau dabei zukommt. Das vorgeschlagene Konzept der individuellen arbeitsbezogenen Gesundheitskompetenz bietet Potenziale für Schutz und Gestaltung. Ausgangspunkt ist der Befund, dass im Rahmen der Digitalisierung von immer mehr Arbeitsanteilen besonders die psychosozialen Anforderungen an die Beschäftigten steigen und Arbeitsintensivierung insbesondere eine Folge der Vermischung von Arbeit und Privatem sein kann. Darauf deuten Befunde einer explorativen Studie zur Frage nach der Wirksamkeit des Arbeitsschutzsystems hin. Die Ergebnisse gewähren einen tiefen Einblick in Strukturen, Konflikte und Ambivalenzen im Bemühen um sichere und gesunde Arbeitsbedingungen und zeigen, dass betriebliche Vorgehensweisen und institutionelle Arbeitsschutzstrukturen neu justiert werden müssen. Anderenfalls wird Arbeitsintensivierung zu einem blinden Fleck betrieblicher Gestaltungsbemühungen.","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"7 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2020-01-23","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"115457398","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2020-01-23DOI: 10.5771/0342-300x-2020-1-71
Eva Aich
Die Arbeitsschutzverwaltung stellt bei ihrer Überwachungstätigkeit regelmäßig fest, dass in Gefährdungsbeurteilungen, sofern psychische Belastungen überhaupt betrachtet wurden, der Faktor „Arbeitsintensität“ fehlt. Auch wenn dieser nachvollziehbar schwieriger zu betrachten ist als gut bekannte Faktoren, ist es möglich, ihn zu integrieren. In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, woran nach meiner Erfahrung die Einbeziehung der Arbeitsintensität in die Gefährdungsbeurteilung oft scheitert und wie dem durch bekannte arbeitsschutzrechtliche Instrumente und Verfahrensweisen begegnet werden kann. Bei der Betrachtung der Arbeitsintensität in der Gefährdungsbeurteilung liegt die erste Hürde oft bereits in deren Operationalisierung. Die Definition als Arbeitsmenge pro Zeiteinheit ist zwar wesentlich, aber nicht erschöpfend. Die weitere Definition der Arbeitsintensität als Anforderung pro Ressource deckt ein größeres Feld ab, führt aber wiederum zu der Frage, welche Effekte darunter zu fassen sind. Daher sind die Ursachen bei der Betrachtung schwer zu benennen. Der zentrale Aspekt einer Gefährdungsbeurteilung, die Fokussierung auf die Gefährdung – also oft bereits auf die Wirkung –, ist daher ein Vorteil beim Umgang mit dem Thema. Die Diskussion um die Gefährdungsbeurteilung zum Faktor Arbeitsintensität setzt typischerweise bei der Frage an, wie ermittelt werden kann, ob die Arbeitsintensität zu hoch ist, und ob geeignete Maßnahmen überhaupt möglich sind. Diese Diskussion entsteht durch folgende Gründe : – Eine zu hohe Arbeitsintensität kann multifaktorielle Ursachen haben, die sich nicht isolieren lassen, da oft die Wechselwirkung entscheidend ist. – Viele Akteure haben die grundsätzliche Einstellung, dass psychische Belastungen von den individuellen Kapazitäten und der Persönlichkeitsstruktur der Beschäftigten abhingen und daher nicht objektiv erfasst werden könnten. – Verbreitet ist auch das Empfinden, dass die Anforderungen an den Betrieb im beschleunigten und globalisierten Wirtschaftsleben der Gegenwart nicht gestaltbar seien. Aber nicht nur die Einschätzung, ob durch hohe Arbeitsintensität eine Gefährdung vorliegt, ist schwierig. Die Aufsichtserfahrung zeigt, dass auch der darauf folgende Prozess der Gefährdungsbeurteilung oft missverstanden wird. Im Folgenden zeige ich die vier wesentlichen Aspekte auf, die zu diesen Missverständnissen führen, und erläutere im Anschluss entlang des Gefährdungsbeurteilungszyklus, wie er in Hinsicht auf die Arbeitsintensität gut gestaltet werden kann. Es ist ein zentraler Aspekt einer jeden Gefährdungsbeurteilung – dies ist vorauszuschicken –, dass die originäre Verantwortung für die Gefährdungsbeurteilung weder beim Beschäftigten noch beim Betriebsrat und auch nicht bei der Fachkraft für Arbeitssicherheit oder beim Betriebsarzt liegt. Der Arbeitgeber trägt die Verantwortung. Nimmt er sie nicht wahr, scheitert der Prozess der Gefährdungsbeurteilung unweigerlich.
{"title":"Arbeitsintensität in der Gefährdungsbeurteilung","authors":"Eva Aich","doi":"10.5771/0342-300x-2020-1-71","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300x-2020-1-71","url":null,"abstract":"Die Arbeitsschutzverwaltung stellt bei ihrer Überwachungstätigkeit regelmäßig fest, dass in Gefährdungsbeurteilungen, sofern psychische Belastungen überhaupt betrachtet wurden, der Faktor „Arbeitsintensität“ fehlt. Auch wenn dieser nachvollziehbar schwieriger zu betrachten ist als gut bekannte Faktoren, ist es möglich, ihn zu integrieren. In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, woran nach meiner Erfahrung die Einbeziehung der Arbeitsintensität in die Gefährdungsbeurteilung oft scheitert und wie dem durch bekannte arbeitsschutzrechtliche Instrumente und Verfahrensweisen begegnet werden kann. Bei der Betrachtung der Arbeitsintensität in der Gefährdungsbeurteilung liegt die erste Hürde oft bereits in deren Operationalisierung. Die Definition als Arbeitsmenge pro Zeiteinheit ist zwar wesentlich, aber nicht erschöpfend. Die weitere Definition der Arbeitsintensität als Anforderung pro Ressource deckt ein größeres Feld ab, führt aber wiederum zu der Frage, welche Effekte darunter zu fassen sind. Daher sind die Ursachen bei der Betrachtung schwer zu benennen. Der zentrale Aspekt einer Gefährdungsbeurteilung, die Fokussierung auf die Gefährdung – also oft bereits auf die Wirkung –, ist daher ein Vorteil beim Umgang mit dem Thema. Die Diskussion um die Gefährdungsbeurteilung zum Faktor Arbeitsintensität setzt typischerweise bei der Frage an, wie ermittelt werden kann, ob die Arbeitsintensität zu hoch ist, und ob geeignete Maßnahmen überhaupt möglich sind. Diese Diskussion entsteht durch folgende Gründe : – Eine zu hohe Arbeitsintensität kann multifaktorielle Ursachen haben, die sich nicht isolieren lassen, da oft die Wechselwirkung entscheidend ist. – Viele Akteure haben die grundsätzliche Einstellung, dass psychische Belastungen von den individuellen Kapazitäten und der Persönlichkeitsstruktur der Beschäftigten abhingen und daher nicht objektiv erfasst werden könnten. – Verbreitet ist auch das Empfinden, dass die Anforderungen an den Betrieb im beschleunigten und globalisierten Wirtschaftsleben der Gegenwart nicht gestaltbar seien. Aber nicht nur die Einschätzung, ob durch hohe Arbeitsintensität eine Gefährdung vorliegt, ist schwierig. Die Aufsichtserfahrung zeigt, dass auch der darauf folgende Prozess der Gefährdungsbeurteilung oft missverstanden wird. Im Folgenden zeige ich die vier wesentlichen Aspekte auf, die zu diesen Missverständnissen führen, und erläutere im Anschluss entlang des Gefährdungsbeurteilungszyklus, wie er in Hinsicht auf die Arbeitsintensität gut gestaltet werden kann. Es ist ein zentraler Aspekt einer jeden Gefährdungsbeurteilung – dies ist vorauszuschicken –, dass die originäre Verantwortung für die Gefährdungsbeurteilung weder beim Beschäftigten noch beim Betriebsrat und auch nicht bei der Fachkraft für Arbeitssicherheit oder beim Betriebsarzt liegt. Der Arbeitgeber trägt die Verantwortung. Nimmt er sie nicht wahr, scheitert der Prozess der Gefährdungsbeurteilung unweigerlich.","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"3 10 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2020-01-23","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"116825266","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2020-01-23DOI: 10.5771/0342-300x-2020-1-11
C. Korunka
In diesem Beitrag wird ein Überblick über empirische Studien zur Arbeitsintensivierung gegeben. Wahrnehmungen von Arbeitsintensivierung sind eine direkte Folge von sozialer Beschleunigung, die u. a. aus den Entwicklungen im Spätkapitalismus und den zunehmenden Möglichkeiten von Informations- und Kommunikationstechnologien resultiert. Aus internationalen Panel- und Längsschnittdatensätzen kann abgeleitet werden, dass sich die Arbeit zumindest seit den 1990er Jahren intensiviert hat ; seit etwa 2010 sind diese Zuwächse etwas geringer geworden. Von Intensivierungswahrnehmung ist ein beträchtlicher Teil der Arbeitnehmer*innen betroffen. Arbeitsintensivierung kann dabei zusätzlich zu Zeitdruck als ein gesundheitsrelevanter Stressor wirksam werden. Sogar die Arbeitssicherheit kann beeinträchtigt sein. Besonders hohe Wahrnehmungen von Intensivierung haben jüngere Beschäftigte und Führungskräfte. Als Schutzfaktoren sind die bekannten Ressourcen in der Arbeitswelt zu werten (Autonomie, soziale Unterstützung), wobei der Verhältnisprävention über die Definition von Rahmenbedingungen eine besondere Bedeutung zukommt.
{"title":"Arbeitsintensivierung: Ursachen, Verläufe und Risikogruppen","authors":"C. Korunka","doi":"10.5771/0342-300x-2020-1-11","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300x-2020-1-11","url":null,"abstract":"In diesem Beitrag wird ein Überblick über empirische Studien zur Arbeitsintensivierung gegeben. Wahrnehmungen von Arbeitsintensivierung sind eine direkte Folge von sozialer Beschleunigung, die u. a. aus den Entwicklungen im Spätkapitalismus und den zunehmenden Möglichkeiten von Informations- und Kommunikationstechnologien resultiert. Aus internationalen Panel- und Längsschnittdatensätzen kann abgeleitet werden, dass sich die Arbeit zumindest seit den 1990er Jahren intensiviert hat ; seit etwa 2010 sind diese Zuwächse etwas geringer geworden. Von Intensivierungswahrnehmung ist ein beträchtlicher Teil der Arbeitnehmer*innen betroffen. Arbeitsintensivierung kann dabei zusätzlich zu Zeitdruck als ein gesundheitsrelevanter Stressor wirksam werden. Sogar die Arbeitssicherheit kann beeinträchtigt sein. Besonders hohe Wahrnehmungen von Intensivierung haben jüngere Beschäftigte und Führungskräfte. Als Schutzfaktoren sind die bekannten Ressourcen in der Arbeitswelt zu werten (Autonomie, soziale Unterstützung), wobei der Verhältnisprävention über die Definition von Rahmenbedingungen eine besondere Bedeutung zukommt.","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"129 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2020-01-23","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"127430821","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2019-11-24DOI: 10.5771/0342-300x-2019-6-440
Dorothee Spannagel, Katharina Molitor
In Deutschland nimmt die Einkommensungleichheit weiter zu. Das zeigt der diesjährige WSI-Verteilungsbericht. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die Ungleichheit nach dem starken Anstieg Anfang der 2000er Jahre entwickelt hat – ein Thema, das kontrovers diskutiert wird. Auf Basis der analysierten SOEP-Daten wird deutlich: Nach dem Jahr 2005 ist der Anstieg der Ungleichheit vorerst stark abgeschwächt, seit 2010 aber wächst die Einkommensungleichheit wieder deutlich. Und das ungeachtet der guten konjunkturellen Rahmenbedingungen und der äußerst günstigen Arbeitsmarktlage. Die Analysen belegen, dass die Entwicklung der Einkommen an den Rändern der Verteilung für die erneute Zunahme der Ungleichheit verantwortlich ist. Hier gilt es anzusetzen, um den Anstieg der Ungleichheit zu beenden und eine tief greifende Spaltung der Gesellschaft zu verhindern: Haushalte am oberen Ende müssten über höhere Steuern einen größeren Beitrag zur staatlichen Umverteilung leisten. Um zu vermeiden, dass Haushalte am unteren Ende den Anschluss an die Gesellschaft verlieren, sind vor allem die Erhöhung des Mindestlohns, eine Stärkung der Tarifbindung sowie arbeitsmarktpolitische Maßnahmen notwendig.
{"title":"Einkommen immer ungleicher verteilt. WSI-Verteilungsbericht 2019","authors":"Dorothee Spannagel, Katharina Molitor","doi":"10.5771/0342-300x-2019-6-440","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300x-2019-6-440","url":null,"abstract":"In Deutschland nimmt die Einkommensungleichheit weiter zu. Das zeigt der diesjährige WSI-Verteilungsbericht. Im Zentrum steht die Frage, wie sich die Ungleichheit nach dem starken Anstieg Anfang der 2000er Jahre entwickelt hat – ein Thema, das kontrovers diskutiert wird. Auf Basis der analysierten SOEP-Daten wird deutlich: Nach dem Jahr 2005 ist der Anstieg der Ungleichheit vorerst stark abgeschwächt, seit 2010 aber wächst die Einkommensungleichheit wieder deutlich. Und das ungeachtet der guten konjunkturellen Rahmenbedingungen und der äußerst günstigen Arbeitsmarktlage. Die Analysen belegen, dass die Entwicklung der Einkommen an den Rändern der Verteilung für die erneute Zunahme der Ungleichheit verantwortlich ist. Hier gilt es anzusetzen, um den Anstieg der Ungleichheit zu beenden und eine tief greifende Spaltung der Gesellschaft zu verhindern: Haushalte am oberen Ende müssten über höhere Steuern einen größeren Beitrag zur staatlichen Umverteilung leisten. Um zu vermeiden, dass Haushalte am unteren Ende den Anschluss an die Gesellschaft verlieren, sind vor allem die Erhöhung des Mindestlohns, eine Stärkung der Tarifbindung sowie arbeitsmarktpolitische Maßnahmen notwendig.","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"29 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2019-11-24","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"124085837","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2019-11-24DOI: 10.5771/0342-300x-2019-6-403
Petra Dünhaupt, Hans-Otto Herr, Fabian Mehl, Christina Teipen
In liberalen Handelstheorien wird davon ausgegangen, dass der Aufbau exportorientierter Industrien im globalen Süden die Voraussetzungen für technologische Spill-Over-Effekte, Produktivitätssteigerungen und gesellschaftliche Wohlfahrtsgewinne schaffen kann. Basierend auf vergleichenden Fallstudien in vier Branchen (Bekleidung, Automobil, Elektronik und IT-Dienstleistungen) und sechs Schwellen- und Entwicklungsländern (Bangladesch, Brasilien, China, Indien, Südafrika, Vietnam) zeigt sich allerdings, dass eine erfolgreiche wirtschaftliche Integration in globale Wertschöpfungsketten nicht zwangsläufig mit besseren Arbeitsbedingungen sowie positiven Beschäftigungs- und Wohlfahrtseffekten einhergeht. Zudem wird deutlich, dass der länderspezifische Kontext innerhalb eines Industriezweigs hierbei eine größere Rolle spielt als oftmals angenommen. Entscheidende Einflussfaktoren sind insbesondere die nationalen Systeme industrieller Beziehungen und gewerkschaftliche Machtressourcen. Zugleich lässt sich feststellen, dass es ohne kohärente industriepolitische Strategien nicht gelingt, die Entwicklungschancen einer vertieften Integration in die globale Ökonomie zu realisieren.
{"title":"Entwicklungschancen durch Integration in globale Wertschöpfungsketten: ein Länder- und Branchenvergleich","authors":"Petra Dünhaupt, Hans-Otto Herr, Fabian Mehl, Christina Teipen","doi":"10.5771/0342-300x-2019-6-403","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300x-2019-6-403","url":null,"abstract":"In liberalen Handelstheorien wird davon ausgegangen, dass der Aufbau exportorientierter Industrien im globalen Süden die Voraussetzungen für technologische Spill-Over-Effekte, Produktivitätssteigerungen und gesellschaftliche Wohlfahrtsgewinne schaffen kann. Basierend auf vergleichenden Fallstudien in vier Branchen (Bekleidung, Automobil, Elektronik und IT-Dienstleistungen) und sechs Schwellen- und Entwicklungsländern (Bangladesch, Brasilien, China, Indien, Südafrika, Vietnam) zeigt sich allerdings, dass eine erfolgreiche wirtschaftliche Integration in globale Wertschöpfungsketten nicht zwangsläufig mit besseren Arbeitsbedingungen sowie positiven Beschäftigungs- und Wohlfahrtseffekten einhergeht. Zudem wird deutlich, dass der länderspezifische Kontext innerhalb eines Industriezweigs hierbei eine größere Rolle spielt als oftmals angenommen. Entscheidende Einflussfaktoren sind insbesondere die nationalen Systeme industrieller Beziehungen und gewerkschaftliche Machtressourcen. Zugleich lässt sich feststellen, dass es ohne kohärente industriepolitische Strategien nicht gelingt, die Entwicklungschancen einer vertieften Integration in die globale Ökonomie zu realisieren.","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"5 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2019-11-24","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"133986097","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2019-07-25DOI: 10.5771/0342-300X-2019-4-246
Andrew Watt
Am 23. Juni 2016 schockierten britische Wähler die Europäische Union (EU) bis ins Mark. Sie stimmten mit einer kleinen Mehrheit dafür, die Union nach mehr als 40 Jahren zu verlassen. Jetzt, zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses für diesen Kommentar, nähern wir uns dem dritten Jahrestag des Referendums. Großbritannien und in geringerem Maße auch die gesamte EU befinden sich seitdem in einem fast permanenten Zustand des Brexitfiebers. Jedoch : Bis heute hat Großbritannien die EU nicht verlassen. Es nimmt sogar an den Europawahlen im Mai 2019 teil. Drei Jahre nach dem Referendum ist Großbritannien zwar „mit dem Herzen“ nicht mehr „drin“ in der EU, aber letztlich auch nicht „draußen“. Es befindet sich in a No Man’s Land. Wie konnte das passieren ? Es gibt drei ineinandergreifende Gründe, die die Sackgasse erklären. Erst wirklich nach dem Referendum näherte man sich der einfachen Frage : Was bedeutet es eigentlich, die EU zu verlassen ? Die sich wiederholenden Auskünfte von Premierministerin May waren nicht wirklich hilfreich : Brexit bedeutet Brexit. Obwohl es eine ganze Reihe von Optionen gibt, können sie nicht beliebig kombiniert werden. So war und ist es beispielsweise nicht möglich, die Mitgliedschaft im Binnenmarkt mit der vollständigen Kontrolle über die Einwanderung oder der unbegrenzten Möglichkeit, die britische Industrie zu subventionieren, zu verbinden. Das Vereinigte Königreich musste einen Punkt in einem Kontinuum von Rechten und damit verbundenen Verpflichtungen – Vollmitgliedschaft an einem Ende und Drittstaatenstatus am anderen Ende – wählen. Der erste Hauptgrund für die Blockade war also, dass es eine schwache Mehrheit für Leave gab, solange die Folgen abstrakt blieben. Aber jede tatsächliche, konkrete Version davon erwies sich als nicht mehrheitsfähig. Der zweite Aspekt betrifft das parteipolitische System, das bekanntlich auf einem First-Past-The-Post-Wahlsystem und der Dominanz zweier großer Parteien, der Konservativen (Tories) auf der rechten und der Labour-Partei auf der linken Seite basiert. Der Brexit jedoch lag quer zu den Parteigrenzen. Die meisten Labour-Abgeordneten waren für Remain, eine Minderheit von ihnen, vor allem in der Führung, trugen diese Position nicht mit, wollten austreten oder waren zumindest bereit, das Referendum zu respektieren. Die Konservativen wiederum litten unter einer Dreiteilung zwischen harten Brexitern, einem weichen Brexit-Kern und einer nicht unbedeutenden Remain-Minderheit. Diese Spaltungen brachten – Live im TV zu verfolgen – das britische parlamentarische System an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Der dritte Faktor war eine äußerst komplexe regionale Dimension innerhalb des Vereinigten – oder besser : unvereinigten – Königreichs. Kurz : Alle Parteien waren sich der Risiken bewusst, den jahrhundertealten irischen Konflikt, der mit dem Karfreitagsabkommen gelöst worden war, wieder zum Leben zu erwecken. Folglich galt es, eine offene Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland aufrech
{"title":"Brexit : Großbritannien im Niemandsland","authors":"Andrew Watt","doi":"10.5771/0342-300X-2019-4-246","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300X-2019-4-246","url":null,"abstract":"Am 23. Juni 2016 schockierten britische Wähler die Europäische Union (EU) bis ins Mark. Sie stimmten mit einer kleinen Mehrheit dafür, die Union nach mehr als 40 Jahren zu verlassen. Jetzt, zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses für diesen Kommentar, nähern wir uns dem dritten Jahrestag des Referendums. Großbritannien und in geringerem Maße auch die gesamte EU befinden sich seitdem in einem fast permanenten Zustand des Brexitfiebers. Jedoch : Bis heute hat Großbritannien die EU nicht verlassen. Es nimmt sogar an den Europawahlen im Mai 2019 teil. Drei Jahre nach dem Referendum ist Großbritannien zwar „mit dem Herzen“ nicht mehr „drin“ in der EU, aber letztlich auch nicht „draußen“. Es befindet sich in a No Man’s Land. Wie konnte das passieren ? Es gibt drei ineinandergreifende Gründe, die die Sackgasse erklären. Erst wirklich nach dem Referendum näherte man sich der einfachen Frage : Was bedeutet es eigentlich, die EU zu verlassen ? Die sich wiederholenden Auskünfte von Premierministerin May waren nicht wirklich hilfreich : Brexit bedeutet Brexit. Obwohl es eine ganze Reihe von Optionen gibt, können sie nicht beliebig kombiniert werden. So war und ist es beispielsweise nicht möglich, die Mitgliedschaft im Binnenmarkt mit der vollständigen Kontrolle über die Einwanderung oder der unbegrenzten Möglichkeit, die britische Industrie zu subventionieren, zu verbinden. Das Vereinigte Königreich musste einen Punkt in einem Kontinuum von Rechten und damit verbundenen Verpflichtungen – Vollmitgliedschaft an einem Ende und Drittstaatenstatus am anderen Ende – wählen. Der erste Hauptgrund für die Blockade war also, dass es eine schwache Mehrheit für Leave gab, solange die Folgen abstrakt blieben. Aber jede tatsächliche, konkrete Version davon erwies sich als nicht mehrheitsfähig. Der zweite Aspekt betrifft das parteipolitische System, das bekanntlich auf einem First-Past-The-Post-Wahlsystem und der Dominanz zweier großer Parteien, der Konservativen (Tories) auf der rechten und der Labour-Partei auf der linken Seite basiert. Der Brexit jedoch lag quer zu den Parteigrenzen. Die meisten Labour-Abgeordneten waren für Remain, eine Minderheit von ihnen, vor allem in der Führung, trugen diese Position nicht mit, wollten austreten oder waren zumindest bereit, das Referendum zu respektieren. Die Konservativen wiederum litten unter einer Dreiteilung zwischen harten Brexitern, einem weichen Brexit-Kern und einer nicht unbedeutenden Remain-Minderheit. Diese Spaltungen brachten – Live im TV zu verfolgen – das britische parlamentarische System an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Der dritte Faktor war eine äußerst komplexe regionale Dimension innerhalb des Vereinigten – oder besser : unvereinigten – Königreichs. Kurz : Alle Parteien waren sich der Risiken bewusst, den jahrhundertealten irischen Konflikt, der mit dem Karfreitagsabkommen gelöst worden war, wieder zum Leben zu erwecken. Folglich galt es, eine offene Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland aufrech","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"67 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2019-07-25","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"127248788","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Pub Date : 2019-07-25DOI: 10.5771/0342-300X-2019-4-298
Heiner Heiland
Der Beitrag stellt erstmals Daten zu plattformvermittelter Essenskurierarbeit vor, die eine neue Form prekärer und digitaler Arbeit darstellt. Auf Basis einer Online-Befragung werden Befunde zur Sozialstruktur der Arbeitenden und deren Arbeitsbedingungen präsentiert und mittels des DGB-Index „Gute Arbeit“ in Relation zur Gesamtheit der abhängigen Beschäftigten in Deutschland gesetzt. Die Plattformen üben eine umfassende Kontrolle über den Arbeitsprozess aus. Die Fahrenden fühlen sich der Technik ausgeliefert, berichten von einer bestenfalls mittelmäßigen Arbeitszufriedenheit sowie einer sehr geringen Identifikation mit der Arbeit. Doch trotz der hohen Beschäftigtenfluktuation, die auch als individuelle Exit-Strategie gelten kann, gibt es eine überraschend hohe Bereitschaft für Protest und Streik unter den „Ridern“. Wie sich zeigt, stehen die Arbeitenden trotz der individualisierten Arbeit in regem Austausch miteinander. Damit besteht entgegen allgemeiner und gewerkschaftlicher Annahmen durchaus ein Organisierungspotenzial, das, strategisch gewendet, die zu konstatierende Machtasymmetrie in der Plattformarbeit zugunsten der Beschäftigten korrigieren kann.
{"title":"Plattformarbeit im Fokus. Ergebnisse einer explorativen Online-Umfrage zu plattformvermittelter Kurierarbeit","authors":"Heiner Heiland","doi":"10.5771/0342-300X-2019-4-298","DOIUrl":"https://doi.org/10.5771/0342-300X-2019-4-298","url":null,"abstract":"Der Beitrag stellt erstmals Daten zu plattformvermittelter Essenskurierarbeit vor, die eine neue Form prekärer und digitaler Arbeit darstellt. Auf Basis einer Online-Befragung werden Befunde zur Sozialstruktur der Arbeitenden und deren Arbeitsbedingungen präsentiert und mittels des DGB-Index „Gute Arbeit“ in Relation zur Gesamtheit der abhängigen Beschäftigten in Deutschland gesetzt. Die Plattformen üben eine umfassende Kontrolle über den Arbeitsprozess aus. Die Fahrenden fühlen sich der Technik ausgeliefert, berichten von einer bestenfalls mittelmäßigen Arbeitszufriedenheit sowie einer sehr geringen Identifikation mit der Arbeit. Doch trotz der hohen Beschäftigtenfluktuation, die auch als individuelle Exit-Strategie gelten kann, gibt es eine überraschend hohe Bereitschaft für Protest und Streik unter den „Ridern“. Wie sich zeigt, stehen die Arbeitenden trotz der individualisierten Arbeit in regem Austausch miteinander. Damit besteht entgegen allgemeiner und gewerkschaftlicher Annahmen durchaus ein Organisierungspotenzial, das, strategisch gewendet, die zu konstatierende Machtasymmetrie in der Plattformarbeit zugunsten der Beschäftigten korrigieren kann.","PeriodicalId":255082,"journal":{"name":"WSI-Mitteilungen","volume":"168 1","pages":"0"},"PeriodicalIF":0.0,"publicationDate":"2019-07-25","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"126063616","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":0,"RegionCategory":"","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}