Medizinische Fachgesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen verfügen über eine ausgeprägte fachkulturelle Erinnerung mit langen Traditionen. Solche Institutionen richten Jubiläums- und Gedenkveranstaltungen aus, haben historische Arbeitskreise – und neben externen Historiker:innen publizieren auch Mitglieder in wissenschaftlich-klinischen sowie berufspolitischen Zeitschriften über die Geschichte des jeweiligen medizinisches Fachs. Die parallel zu fast jedem Fach existierenden wissenschaftlichen Gesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen beschäftigen sich nicht zuletzt auch mit der Benennung von Preisen und betreiben „Aufarbeitungsprojekte“, etwa zur Medizin im Nationalsozialismus. Viele wissenschaftliche Auszeichnungen, die insbesondere Fachgesellschaften verleihen, tragen den Namen einer Identifikationsfigur, typischerweise eines bekannten früheren Mitglieds; darüber hinaus sind auch oft ganze Institutionen nach einer solchen Person benannt. Mittels Beispielen aus den Fächern Humangenetik, Kreislaufforschung, Urologie und Zahnheilkunde möchten wir in diesem Beitrag schlaglichtartig aufzeigen, nach welchen Kriterien Fachvertreter:innen als Identifikationsfiguren ausgewählt werden, um Preise und Institutionen zu benennen – oder eben auch nicht; und, warum andere Personen eine solche Rolle erst erlangten, mittlerweile aber wieder verloren haben. Einleitend stellen wir dar, wie sich die Beschäftigung mit der (nationalsozialistischen) Geschichte der Medizin und Lebenswissenschaften historisch verändert hat und reflektieren kritisch die Aufarbeitungsforschung, die im Spannungsfeld zwischen historischem Erkenntnisinteresse, historisch-politischer Bildung, Geschichtspolitik und Auftragsforschung verortet ist.
Die gewählten Fallbeispiele stammen insbesondere aus unseren eigenen Forschungen zur Medizingeschichte und der Erinnerungskultur in medizinischen Institutionen mit Bezug zum Nationalsozialismus und deren Reflexion in der Nachkriegszeit. Die Frage nach einer Verstrickung in den Nationalsozialismus („NS-Belastung“) ist relevant, weil sie noch immer schwerer zu wiegen scheint als die nach dem Verhalten von Akteuren in anderen (Unrechts-)Kontexten.1 In diesem Beitrag werden nun Bezüge zu diesem Themenkomplex eröffnet, um das Spektrum von möglichen Konjunkturen von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart exemplarisch zu illustrieren.2 Gleichzeitig versuchen wir, durch den Vergleich übergreifende Trends aufzufinden.
Um als Identifikationsfigur dienen zu können, nach der etwa ein Preis oder eine Institution benannt sein kann, muss die Person sowohl nach innen, also für die benennende Körperschaft, eine Projektionsfläche für Identität und Gemeinschaft bieten als auch geeignet sein, diese Körperschaft nach außen hin zu repräsentieren. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich u. a. durch generationellen Wandel und das damit verbundene Wegfal
在这篇文章中,作者探讨了在什么情况下学者可以成为医学界的有效标识人物,以他们的名字命名奖项或机构--以及在什么情况下学者不能或不再能发挥这样的作用。通过人类遗传学家汉斯-纳赫茨海姆(Hans Nachtsheim)、循环系统研究专家鲁道夫-陶尔(Rudolf Thauer)、泌尿科专家多拉-泰勒基(Dora Teleky)以及牙医卡尔-海普尔(Karl Häupl)和埃尔斯贝特-冯-施尼泽(Elsbeth von Schnizer)的传记和接受情况,对专业文化记忆的趋势和变化进行了研究。这项研究表明,评价标准本身是可以改变的,而性别则是一个重要的影响因素。虽然正式标准(如党派和组织成员资格)历来是重要的评价标准,但作者主张今后应更加重视研究和临床实践中的行动。
{"title":"Gelehrte als Identifikationsfiguren? Vom Umgang mit fachkultureller Erinnerung in medizinischen Fächern","authors":"Matthis Krischel, Julia Nebe, Timo Baumann","doi":"10.1002/bewi.202300018","DOIUrl":"10.1002/bewi.202300018","url":null,"abstract":"<p>Medizinische Fachgesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen verfügen über eine ausgeprägte fachkulturelle Erinnerung mit langen Traditionen. Solche Institutionen richten Jubiläums- und Gedenkveranstaltungen aus, haben historische Arbeitskreise – und neben externen Historiker:innen publizieren auch Mitglieder in wissenschaftlich-klinischen sowie berufspolitischen Zeitschriften über die Geschichte des jeweiligen medizinisches Fachs. Die parallel zu fast jedem Fach existierenden wissenschaftlichen Gesellschaften, Berufsverbände und Standesvertretungen beschäftigen sich nicht zuletzt auch mit der Benennung von Preisen und betreiben „Aufarbeitungsprojekte“, etwa zur Medizin im Nationalsozialismus. Viele wissenschaftliche Auszeichnungen, die insbesondere Fachgesellschaften verleihen, tragen den Namen einer Identifikationsfigur, typischerweise eines bekannten früheren Mitglieds; darüber hinaus sind auch oft ganze Institutionen nach einer solchen Person benannt. Mittels Beispielen aus den Fächern Humangenetik, Kreislaufforschung, Urologie und Zahnheilkunde möchten wir in diesem Beitrag schlaglichtartig aufzeigen, nach welchen Kriterien Fachvertreter:innen als Identifikationsfiguren ausgewählt werden, um Preise und Institutionen zu benennen – oder eben auch nicht; und, warum andere Personen eine solche Rolle erst erlangten, mittlerweile aber wieder verloren haben. Einleitend stellen wir dar, wie sich die Beschäftigung mit der (nationalsozialistischen) Geschichte der Medizin und Lebenswissenschaften historisch verändert hat und reflektieren kritisch die Aufarbeitungsforschung, die im Spannungsfeld zwischen historischem Erkenntnisinteresse, historisch-politischer Bildung, Geschichtspolitik und Auftragsforschung verortet ist.</p><p>Die gewählten Fallbeispiele stammen insbesondere aus unseren eigenen Forschungen zur Medizingeschichte und der Erinnerungskultur in medizinischen Institutionen mit Bezug zum Nationalsozialismus und deren Reflexion in der Nachkriegszeit. Die Frage nach einer Verstrickung in den Nationalsozialismus („NS-Belastung“) ist relevant, weil sie noch immer schwerer zu wiegen scheint als die nach dem Verhalten von Akteuren in anderen (Unrechts-)Kontexten.<sup>1</sup> In diesem Beitrag werden nun Bezüge zu diesem Themenkomplex eröffnet, um das Spektrum von möglichen Konjunkturen von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik von der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart exemplarisch zu illustrieren.<sup>2</sup> Gleichzeitig versuchen wir, durch den Vergleich übergreifende Trends aufzufinden.</p><p>Um als Identifikationsfigur dienen zu können, nach der etwa ein Preis oder eine Institution benannt sein kann, muss die Person sowohl <i>nach innen</i>, also für die benennende Körperschaft, eine Projektionsfläche für Identität und Gemeinschaft bieten als auch geeignet sein, diese Körperschaft <i>nach außen</i> hin zu repräsentieren. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich u. a. durch generationellen Wandel und das damit verbundene Wegfal","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":"47 1-2","pages":"77-105"},"PeriodicalIF":0.6,"publicationDate":"2024-04-05","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300018","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"140613651","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"OA","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
Erinnerungskulturen sind in den Wissenschaften allgegenwärtig. Ausgehend von Halbwachs‘ Grundüberlegung existieren in differenzierten Gesellschaften verschiedene Erinnerungen (individuell-biographisch, kollektiv-kulturell) an denselben historischen Bezugspunkt (Pluralität kollektiver Gedächtnisse).1 Oft treten neben eine positivistisch geprägte „Meistererzählung“2 unterschiedliche interessensbeeinflusste Narrative.3 Die Praktiken des Erinnerns und der Darstellung von Erfahrungen werden durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und deren hegemoniale Diskurse beeinflusst. Darüber hinaus werden in der Erzählung Vernetzungen in der untersuchten Gruppe deutlich.4
Gleichzeitig bildet einheitliche, etablierte und unhinterfragte Vergangenheitswahrnehmung innerhalb einer Gruppe ein Identitätskriterium einer Wir-Gruppe – also einer Gruppe, der sich Personen zugehörig fühlen, mit der sie sich identifizieren, der sie in Loyalität verbunden sind und mit der sie sich von anderen Personen oder Gruppen abgrenzen.5 Die weitgehend homogene Erinnerung bestimmt die Grenzen des anerkannten Wissens.6 Unter einer „kulturellen Hegemonie“ versteht man nach Laclau und Mouffe, wenn es gelingt, einen Diskurs als allgemeingültig und alternativlos zu präsentieren und zu instituieren.7 Wird dieser Konsens gebrochen, werden die Grenzen des Sagbaren neu gesetzt8 und ein Diskurswechsel kann stattfinden.9
Ein Individuum partizipiert stets gleichzeitig an mehreren sich überschneidenden gruppenspezifischen Gedächtnissen.10 Die kollektiven Bestandteile sind insbesondere dann wirkmächtig im Sinne einer Dekonstruktion tradierter Narrative, wenn das individuelle Erleben mit der kollektiven Erinnerung in Konflikt gerät oder wenn die zurückliegenden Ereignisse nicht zum aktuellen Zugehörigkeitsgefühl bzw. -wunsch passen.11 Meist zeichnet sich ein Spannungsverhältnis mehrerer zentraler Akteur:innen oder Gruppen ab, die miteinander um die Darstellung und Deutung der Vergangenheit innerhalb des Netzwerkes ringen.12
In Bezug auf Ullrich Oevermann lassen sich Deutungsmuster als „Angelpunkt zwischen Diskurs und Erfahrung“ verstehen.13 Rixta Wundrak beschreibt sie als „kollektive, typisierte Sinngehalte [mit] normativem Charakter und […] nicht ständig dem Bewusstsein zugänglich“.14 Nach Schetsche strukturieren sie das kollektive Alltagshandeln und dienen als meist implizites und selbstverständliches Orientierungswissen, wie mit Phänomenen umzugehen ist und wie diese einzuordnen sind.15 Im Unterschied zu temporären Diskursen oder Handlungsorientierungen bedeuten Deutungsmuster kulturell mächtige und langlebige normative Strukturen. Deutungsmuster sind zum einen sozial konstruiert, zum anderen lassen sie sich auf unterschiedlichen sozialen Ebenen zeigen (Individuum, Institution, Gesellschaft), außerdem sind sie his
{"title":"Erinnerungskulturen in den Wissenschaften – eine Frage hegemonialer Narrative?","authors":"Felicitas Söhner","doi":"10.1002/bewi.202300019","DOIUrl":"10.1002/bewi.202300019","url":null,"abstract":"<p>Erinnerungskulturen sind in den Wissenschaften allgegenwärtig. Ausgehend von Halbwachs‘ Grundüberlegung existieren in differenzierten Gesellschaften verschiedene Erinnerungen (individuell-biographisch, kollektiv-kulturell) an denselben historischen Bezugspunkt (Pluralität kollektiver Gedächtnisse).<sup>1</sup> Oft treten neben eine positivistisch geprägte „Meistererzählung“<sup>2</sup> unterschiedliche interessensbeeinflusste Narrative.<sup>3</sup> Die Praktiken des Erinnerns und der Darstellung von Erfahrungen werden durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und deren hegemoniale Diskurse beeinflusst. Darüber hinaus werden in der Erzählung Vernetzungen in der untersuchten Gruppe deutlich.<sup>4</sup></p><p>Gleichzeitig bildet einheitliche, etablierte und unhinterfragte Vergangenheitswahrnehmung innerhalb einer Gruppe ein Identitätskriterium einer Wir-Gruppe – also einer Gruppe, der sich Personen zugehörig fühlen, mit der sie sich identifizieren, der sie in Loyalität verbunden sind und mit der sie sich von anderen Personen oder Gruppen abgrenzen.<sup>5</sup> Die weitgehend homogene Erinnerung bestimmt die Grenzen des anerkannten Wissens.<sup>6</sup> Unter einer „kulturellen Hegemonie“ versteht man nach Laclau und Mouffe, wenn es gelingt, einen Diskurs als allgemeingültig und alternativlos zu präsentieren und zu instituieren.<sup>7</sup> Wird dieser Konsens gebrochen, werden die Grenzen des Sagbaren neu gesetzt<sup>8</sup> und ein Diskurswechsel kann stattfinden.<sup>9</sup></p><p>Ein Individuum partizipiert stets gleichzeitig an mehreren sich überschneidenden gruppenspezifischen Gedächtnissen.<sup>10</sup> Die kollektiven Bestandteile sind insbesondere dann wirkmächtig im Sinne einer Dekonstruktion tradierter Narrative, wenn das individuelle Erleben mit der kollektiven Erinnerung in Konflikt gerät oder wenn die zurückliegenden Ereignisse nicht zum aktuellen Zugehörigkeitsgefühl bzw. -wunsch passen.<sup>11</sup> Meist zeichnet sich ein Spannungsverhältnis mehrerer zentraler Akteur:innen oder Gruppen ab, die miteinander um die Darstellung und Deutung der Vergangenheit innerhalb des Netzwerkes ringen.<sup>12</sup></p><p>In Bezug auf Ullrich Oevermann lassen sich Deutungsmuster als „Angelpunkt zwischen Diskurs und Erfahrung“ verstehen.<sup>13</sup> Rixta Wundrak beschreibt sie als „kollektive, typisierte Sinngehalte [mit] normativem Charakter und […] nicht ständig dem Bewusstsein zugänglich“.<sup>14</sup> Nach Schetsche strukturieren sie das kollektive Alltagshandeln und dienen als meist implizites und selbstverständliches Orientierungswissen, wie mit Phänomenen umzugehen ist und wie diese einzuordnen sind.<sup>15</sup> Im Unterschied zu temporären Diskursen oder Handlungsorientierungen bedeuten Deutungsmuster kulturell mächtige und langlebige normative Strukturen. Deutungsmuster sind zum einen sozial konstruiert, zum anderen lassen sie sich auf unterschiedlichen sozialen Ebenen zeigen (Individuum, Institution, Gesellschaft), außerdem sind sie his","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":"47 1-2","pages":"128-150"},"PeriodicalIF":0.6,"publicationDate":"2024-04-04","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300019","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"140613753","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"OA","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es aktuell über 32.000 allgemeinbildende Schulen – und jede dieser Schulen hat einen Namen. Mit Blick auf ihre Namensgebung unterscheiden sich die Schulen aber deutlich. Zahlreiche von ihnen sind nach ihrer geographischen Verortung benannt. Einige Namen beziehen sich beispielweise auf eine regionale Besonderheit („Schule an der Donauschleife“). Andere Schulen verweisen mit ihrem Namen auf eine lokale Gegebenheit, wie die „Turmbergschule in Weingarten“, die am Fuß des Turmbergs des kleinen Ortes in Baden-Württemberg liegt. Und wiederum andere tragen den Namen der Straße, in der sie liegen, wie die „Grundschule an der Zunftmeisterstraße“ in Mülheim an der Ruhr. Neben diesen regional- oder lokalspezifischen Namen tragen zahlreiche Schulen in Deutschland aber auch Namen bekannter Personen des öffentlichen Lebens, die in einer Verbindung zur Geschichte der Literatur, der Kunst, der Philosophie oder der Politik stehen, wie Astrid Lindgren, Friedrich Schiller oder die Geschwister Scholl. Beliebte Namenspat:innen, in der Mehrheit Namenspaten, sind auch Anne Frank, Albert Einstein, Albert Schweitzer, Alexander von Humboldt, Erich Kästner, Freiherr vom Stein, Johann Wolfgang von Goethe oder Theodor Heuss – die meisten kennen sicher eine Schule, die nach einer dieser Personen benannt ist. Aber auch die Namen mehr oder weniger bekannter Pädagog:innen finden sich an allgemeinbildenden Schulen in allen Bundesländern wieder, wie Adolf Reichwein, Friedrich Fröbel, Johann Heinrich Pestalozzi oder Maria Montessori.
Diese kurze Darstellung sagt zunächst wenig über Erinnerungsgemeinschaften oder die Identifikation von Mustern des Erinnerns aus. Relevant werden Schulnamen in diesem Sinne erst dann, wenn man sie in ein Verhältnis zu einer Referenzgröße setzt. In diesem Beitrag ist die Referenzgröße nicht etwa die in den critical place-name studies1 schon als Hintergrundfolie für Benennungspraktiken ausgewiesene erinnerte Geschichte der Nationalstaaten, in denen die Schulen liegen. Schon seit geraumer Zeit ist bekannt, dass durch die Benennung öffentlicher Institutionen eine Geografie der Erinnerung entsteht, die zumeist eine Heldengeschichte von denen transportiert, die die Nation geschaffen haben oder einen essenziellen Part zur politischen Ordnung dieser Nation beigetragen haben. Gerade bei anhaltenden Kämpfen um die Benennung von Straßen wird dies deutlich.2 In unserem Fall ist die Referenzgröße die Geschichte der Pädagogik, verstanden als über Tradition und Rezeption hergestellter Kanon.3 Dieser Kanon – und seine Repräsentation in der Öffentlichkeit – ist unweigerlich auch für die Wissenschaftsgeschichte (der Pädagogik) von Interesse, denn die aufgerufenen Personen sind zugleich Vorreiter:innen und Stichwortgeber:innen der wissenschaftlichen Pädagogik und später auch der Erziehungswissenschaft. Personen wie Johann Heinrich Pestalozzi als einer der Begründer der modernen Didakti
{"title":"Waldorf, Montessori und Pestalozzi-Hype? – Schulnamen im Spiegel der Geschichte der Pädagogik","authors":"Sebastian Engelmann, Katharina Weiand","doi":"10.1002/bewi.202300020","DOIUrl":"10.1002/bewi.202300020","url":null,"abstract":"<p>In der Bundesrepublik Deutschland gibt es aktuell über 32.000 allgemeinbildende Schulen – und jede dieser Schulen hat einen Namen. Mit Blick auf ihre Namensgebung unterscheiden sich die Schulen aber deutlich. Zahlreiche von ihnen sind nach ihrer geographischen Verortung benannt. Einige Namen beziehen sich beispielweise auf eine regionale Besonderheit („Schule an der Donauschleife“). Andere Schulen verweisen mit ihrem Namen auf eine lokale Gegebenheit, wie die „Turmbergschule in Weingarten“, die am Fuß des Turmbergs des kleinen Ortes in Baden-Württemberg liegt. Und wiederum andere tragen den Namen der Straße, in der sie liegen, wie die „Grundschule an der Zunftmeisterstraße“ in Mülheim an der Ruhr. Neben diesen regional- oder lokalspezifischen Namen tragen zahlreiche Schulen in Deutschland aber auch Namen bekannter Personen des öffentlichen Lebens, die in einer Verbindung zur Geschichte der Literatur, der Kunst, der Philosophie oder der Politik stehen, wie Astrid Lindgren, Friedrich Schiller oder die Geschwister Scholl. Beliebte Namenspat:innen, in der Mehrheit Namenspaten, sind auch Anne Frank, Albert Einstein, Albert Schweitzer, Alexander von Humboldt, Erich Kästner, Freiherr vom Stein, Johann Wolfgang von Goethe oder Theodor Heuss – die meisten kennen sicher eine Schule, die nach einer dieser Personen benannt ist. Aber auch die Namen mehr oder weniger bekannter Pädagog:innen finden sich an allgemeinbildenden Schulen in allen Bundesländern wieder, wie Adolf Reichwein, Friedrich Fröbel, Johann Heinrich Pestalozzi oder Maria Montessori.</p><p>Diese kurze Darstellung sagt zunächst wenig über Erinnerungsgemeinschaften oder die Identifikation von Mustern des Erinnerns aus. Relevant werden Schulnamen in diesem Sinne erst dann, wenn man sie in ein Verhältnis zu einer Referenzgröße setzt. In diesem Beitrag ist die Referenzgröße nicht etwa die in den <i>critical place-name studies</i><sup>1</sup> schon als Hintergrundfolie für Benennungspraktiken ausgewiesene erinnerte Geschichte der Nationalstaaten, in denen die Schulen liegen. Schon seit geraumer Zeit ist bekannt, dass durch die Benennung öffentlicher Institutionen eine Geografie der Erinnerung entsteht, die zumeist eine Heldengeschichte von denen transportiert, die die Nation geschaffen haben oder einen essenziellen Part zur politischen Ordnung dieser Nation beigetragen haben. Gerade bei anhaltenden Kämpfen um die Benennung von Straßen wird dies deutlich.<sup>2</sup> In unserem Fall ist die Referenzgröße die Geschichte der Pädagogik, verstanden als über Tradition und Rezeption hergestellter Kanon.<sup>3</sup> Dieser Kanon – und seine Repräsentation in der Öffentlichkeit – ist unweigerlich auch für die Wissenschaftsgeschichte (der Pädagogik) von Interesse, denn die aufgerufenen Personen sind zugleich Vorreiter:innen und Stichwortgeber:innen der wissenschaftlichen Pädagogik und später auch der Erziehungswissenschaft. Personen wie Johann Heinrich Pestalozzi als einer der Begründer der modernen Didakti","PeriodicalId":55388,"journal":{"name":"Berichte zur Wissenschaftsgeschichte","volume":"47 1-2","pages":"27-45"},"PeriodicalIF":0.6,"publicationDate":"2024-04-04","publicationTypes":"Journal Article","fieldsOfStudy":null,"isOpenAccess":false,"openAccessPdf":"https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/bewi.202300020","citationCount":null,"resultStr":null,"platform":"Semanticscholar","paperid":"140597252","PeriodicalName":null,"FirstCategoryId":null,"ListUrlMain":null,"RegionNum":2,"RegionCategory":"哲学","ArticlePicture":[],"TitleCN":null,"AbstractTextCN":null,"PMCID":"OA","EPubDate":null,"PubModel":null,"JCR":null,"JCRName":null,"Score":null,"Total":0}